Diese Geschichte ist ja eigentlich ungeheuerlich. Vielleicht habe ich sie in ihrer herausragenden Besonderheit erst kapiert, als ich sie mit meinen Schüler:innen einer Berufseinstiegsklasse gelesen habe:
Von den Arbeitern im Weinberg
1 Das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter anzuwerben für seinen Weinberg. 2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. 3 Und er ging hinaus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen 4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. 5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. 6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? 7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. 8 Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. 9 Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. 10 Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. 11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn 12 und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. 13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? 14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. 15 Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin? 16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.
(Matthäus 20)
Meine Schüler (es waren ausschließlich Männer) haben sich gewundert, dass es in der Bibel solche Geschichten auch gibt. Adrian, etwas kleiner, etwas dicker, hat damals sofort gesagt: „Klasse, das ist ein wirklich guter Arbeitgeber. Der gibt auch mir so viel, dass ich überleben kann! Das haben Sie doch grad gesagt: Einen Silbergroschen braucht man, um die Familie zu ernähren. Echt fair... auch wenn er mich erst viel zu spät entdeckt hat da auf dem Marktplatz. Ich hätte ja auch genauso lange gearbeitet wie die, die er zuerst geholt hat. Aber ich bin eben nun mal, wie ich bin. Und ich stell mir vor: Mich sieht der eben auch erst später. Voll fair, mir genauso viel zu geben.“
„Genau“, pflichtet Abdullah bei: „Ich habe keine Ausbildung gekriegt, weil meine Noten schlechter waren. Ja gut, aber wer ist – so wie ich – schon aus dem Krieg geflohen, wer hat wie ich hier ohne Mutter oder Vater neu anfangen müssen. Da musst du erst mal die Sprache lernen. Und musst schauen, dass es weitergeht. Aber meine Noten waren zu schlecht. Ich bin bestimmt auch einer von denen, die später erst geholt werden von dem Weinbergbesitzer.“
„Oder ich“, sagt Kevin. „Mich hat bei meinen Bewerbungen keiner gefragt, was ich kann. Aber die haben mir gesagt, dass ich nicht der Richtige bin – und dass das nur die Entscheidung ‚für‘ einen anderen war. Ja klar, Quatsch ey. War `ne Entscheidung gegen mich. Das haben die Letzten da im Weinberg auch so erlebt. Hammer. Da geht ́s dann trotzdem gut aus für uns alle.“
Und ich stand da mit meiner Unterrichtsvorbereitung. Meine Schüler hatten diese Geschichte gleich verstanden, mit ihrem Herzen, ihrem gesamten Sein. Ich hatte gedacht, ich müsste Gottes Gerechtigkeit mit der Gerechtigkeit, die in unserem Grundgefühl gilt, übereinbringen und erklären, dass man es auch anders sehen kann.
Falsch gedacht.
Ich wollte erklären, dass ja gar nicht erzählt wird, warum der Besitzer des Weinbergs mehrmals am Tage und sogar noch zur elften Stunde Arbeiter anwirbt. Ich wollte sagen: Sich da was auszudenken, warum das so war, ist selbst erfunden. Steht da eben nicht und deshalb sollte man auch keine Motivierung eintragen. Der Weinbergbesitzer ist durch seine Anwerbepraxis weder besonders gütig noch besonders gemein. Er macht es eben so. Vielleicht hatte er schlicht die Arbeit unterschätzt, die zu tun war? Aber auch das wäre eine Idee, von der im Text nichts steht. Die späte Anwerbezeit soll jedenfalls nicht die Arbeitskosten senken – das aber weiß man erst am Ende.
Die Erzählung sagt auch nichts darüber, dass sich die Arbeiter der letzten Stunde nicht intensiv genug um Arbeit bemüht hätten, erst später auf den Marktplatz gekommen wären und deswegen die Einstellung zur elften Stunde der Güte des Weinbergbesitzers zuzuschreiben sei. Was da steht, ist allein: Der Weinbergbesitzer wirbt mehrmals am Tag und zu verschiedenen Uhrzeiten Arbeiter an. Das wollte ich erarbeiten.
Und besonders wichtig dann natürlich: Für die dramatische Gestaltung der Parabel ist ein Detail bei der Anwerbung der Arbeiter entscheidend: Nur im ersten Fall wird eine feste Lohnvereinbarung getroffen (V. 2). Dadurch ergibt sich eine Spannung auf das Ende hin, die Lohnauszahlung am Abend. Dass den später angeworbenen Arbeitern ein gerechter Lohn in Aussicht gestellt wird, weckt erst die Erwartung, es werde abgestuft nach Arbeitsleistung bezahlt – um dann eine andere Wendung zu nehmen. Und es scheint sogar so: Dass die Auszahlung bei dem Letzten beginnt, hat das Ziel, Unmut zu wecken. Denn da ja die zuerst Angeworbenen den Lohn bekommen, der vereinbart war, gibt es ja eigentlich nichts zu meckern. Das Meckern entsteht erst dadurch, dass auch diejenigen, die nur eine Stunde gearbeitet haben, gleich viel bekommen.
Die Diskussion in der Klasse war selten so intensiv. Schüler, die sich normaler- weise wenig konzentrieren können, haben aufeinander gehört und waren einhellig der Meinung: „Da hat ihr Gott aber echt ‘nen guten Charakter!“
Denn dass diese Geschichte zeigen soll, wie es in Gottes Welt zugeht, das war angekommen. Vielleicht hören Leute, die immer wieder hinten runter fallen von unserer Wohlstandsleiter, so einen Text leiblicher, existenzieller.
Ich jedenfalls war ziemlich still in dieser Doppelstunde und habe ziemlich viele Lebensgeschichten gehört. Ganz von selbst, weil es dran war.
„Ok“, höre ich den*die geneigte Leser*in fragen: „War das wirklich so? Genau so? Was haben Sie denn gemacht, dass die so interessiert waren?“
Nun, was von dem Gesagten genau so passiert ist – ich weiß es nicht mehr. Der Wortlaut ist ganz sicher nicht getroffen – doch in meinem Kopf höre ich noch die Stimmen der Schüler; Konstruktivist*innen haben damit kein echtes Problem. Und was ich sicher weiß seitdem: Meine Schüler haben mir gezeigt, dass sie Geschichten sehr gut verstehen können, wenn diese Geschichten sie existenziell betreffen.
Bettina Wittmann-Stasch