Ein Bild ging Anfang Juni 2020 um die Welt: Der Präsident der USA, Donald Trump, posiert vor der St. Johns-Kirche in Washington mit einer Bibel in der Hand. Zuvor hatte er angekündigt, die landesweiten Proteste infolge der gewaltsamen Tötung George Floyds durch einen Polizisten notfalls mit Militär aufzulösen. Denn er sei „ein Präsident für Recht und Ordnung“, begründete er sein gewaltsames Vorgehen gegen Demonstranten. Und nun dieses Foto von ihm mit Bibel. Ich war empört: Will er etwa mit der Bibel in der Hand die Welt regieren?
Mit der Bibel Machtansprüche und politisches Handeln legitimieren: Das hat in den USA eine eigene Tradition, die bis in die Staatsgründung zurückreicht. So schwört der amerikanische Präsident bei seiner Inauguration den Amtseid traditionell auf die Bibel Abraham Lincolns – im Beisein mindestens eines Geistlichen. Bei Trumps Amtseinführung waren übrigens so viele Geistliche anwesend wie nie zuvor. Sichtbar wird das US-amerikanische Narrativ von God’s own country auch auf amerikanischen Münzen, auf denen seit 1957 steht: „In God we trust.“
Geht das überhaupt? Lassen sich Machtansprüche und konkretes politisches Handeln mit der Bibel begründen? Kann mit der Bibel in der Hand sogar die Welt regiert werden?
Es geht durchaus, wie ein Blick in die Geschichte der christlichen Welt zeigt: Mit der Bibel in der Hand wurde sehr oft politisches Handeln legitimiert – in den meisten Fällen vor allem gewaltsames und menschenverachtendes. Im Zentrum stand dabei meistens das Narrativ der eigenen Erwählung als heiliges Volk. Diese war nach alter christlicher Interpretation angeblich vom Gottesvolk Israel auf die getauften Völker übergegangen. Das Narrativ der eigenen Erwählung wiederum wurde mit der behaupteten heiligen Pflicht verbunden, das göttliche Recht und die göttliche Ordnung schützen zu müssen.
Ihr Volk der Franken, ihr Volk nördlich der Alpen, ihr seid, wie eure Taten erhellen, Gottes geliebtes und auserwähltes Volk. (…) Wem anders obliegt nun diese Aufgabe, diese Schmach zu rächen, dieses Land zu befreien, als euch? (…) Ihr überaus tapferen Ritter, ihr Sprösslinge unbesiegter Ahnen, denkt an die Tatkraft eurer Vorfahren! Wenn euch zärtliche Liebe zu Kindern, Verwandten und Gattinnen festhält, dann bedenkt, was der Herr im Evangelium sagt: Wer Vater und Mutter mehr als mich liebt, ist meiner nicht wert; jeder, der sein Haus, Vater, Mutter, Gemahlin, Kinder oder Äcker um meines Namens verlässt, wird ewiges Leben haben. (…) Tretet den Weg zum Heiligen Grab an, nehmet das Land dort dem gottlosen Volk, macht es euch untertan! Gott gab dieses Land in den Besitz der Söhne Israels; die Bibel sagt, dass dort Milch und Honig fließen. Jerusalem ist der Mittelpunkt der Erde (…)
Mit u.a. diesen Worten rief Papst Urban II am 27. November 1095 zum Abschluss einer Synode in Clermont zum ersten Kreuzzug auf. Dass er dabei eine Bibel in der Hand hielt, ist auf den zahlreichen Bildern der historisch folgenreichen Rede nicht überliefert. Jedoch zitiert er einzelne Bibelverse oder spielt auf sie an – aus dem Alten wie aus dem Neuen Testament. Charakteristisch ist hierbei die Art und Weise der Bibelauslegung, also die Hermeneutik: Einzelne Bibelstellen werden zunächst aus ihrem literarischen ebenso wie aus ihrem historischen Kontext herausgelöst. Dann werden sie direkt in den aktuellen historischen Kontext sowie den erwünschten Sinnzusammenhang gesetzt. Und so wird schließlich eine absolute biblische Wahrheit postuliert, die ganz zufällig den eigenen Machtinteressen dient.
Der Topseller unter den biblischen Texten, die von den Mächtigen dieser Welt gerne im eigenen Interesse ausgelegt wurden und werden, ist Römer 13, 1-7. Der Apostel Paulus ermahnt darin die junge christliche Gemeinde in Rom, jede Staatsführung sei von Gott eingesetzt. Deshalb habe jeder Christ der Staatsgewalt gehorsam zu sein.
Im Nationalsozialismus wurde diese Bibelstelle benutzt, um jeglichen Widerstand gegen Naziterror und millionenfaches Morden zu delegitimieren. Da steht es ja in der Bibel: Wer sich gegen den Führer des Reiches auflehnt, lehnt sich gegen Gott auf. Auch hier: Ein biblischer Text wird aus seinem ursprünglichen historischen und literarischen Kontext herausgelöst und im Dienste eigener Machtinteressen interpretiert.
Kann also mit der Bibel in der Hand die Welt regiert werden?
Wenn das Kann im Sinne von Funktioniert das? verstanden wird, dann lautet die Antwort eindeutig: leider ja! Mit der Bibel in der Hand die Welt zu regieren, funktioniert spätestens, seitdem das Christentum im Jahr 393 n. Chr. zur römischen Staatsreligion erhoben worden war. Die Mächtigen dieser Welt konnten und können nämlich damals wie heute auf zahlreiche gläubige Christen bauen, die die Wahrheit biblischer Texte als eine absolute, zu allen Zeiten gleich gültige verstehen. Es funktioniert also mit einer Bibelhermeneutik, die aus biblischen Texten unmittelbare alternativlose Handlungsmaximen oder nicht hinterfragbare politische Grundlagenprogramme herleitet.
Wenn das Kann im Sinne von Darf man das? verstanden wird, dann lautet meine Antwort ganz klar: Nein! Eine Bibelauslegung, die auf eine unmittelbare politische Anwendbarkeit biblischer Texte zielt, ist unsachgemäß und deshalb abzulehnen (m.E. auch dann, wenn dahinter im Grunde gute Absichten stehen). Diese Art der Bibelhermeneutik negiert nämlich die Historizität des Bibelkanons in seiner Gesamtheit ebenso wie der vielen einzelnen, sehr verschiedenen Texte darin. Darüber hinaus ist jeglichem Anspruch auf die alleinige, alternativlose Deutungshoheit über die Bibel vehement zu widersprechen, ob er nun von Einzelnen, von Gruppen oder von Staaten behauptet wird!
Wo nämlich versucht wird, mit der Bibel in der Hand im Dienst eigener Interessen politisches oder ethisches Handeln absolut zu setzen, werden freiheitlich-demokratisch verfasste Gesellschaften in ihrem Wesenskern angegriffen: dem offenen Diskurs, in dem gemeinsam um die Wahrheit gerungen wird.
Christina Harder