„Jesus war kein Christ, er war Jude.“ Diese knappe Klarstellung hielt der Theologe und Orientalist Julius Wellhausen (1844–1918) zu seinen Lebzeiten für notwendig und überfällig. Es ist Fakt: Der historische Jesus von Nazareth, den Christ*innen weltweit als den Messias bekennen, war ein Teil des Volkes Israel. Die zentralen Themen seiner Botschaft sind nur im Kontext der Tradition des Volkes Israel und seiner Geschichte zu verstehen.
„Für mich ist die Information neu, dass Jesus zum Volk Israel gehörte“, gestand eine Schülerin im RU zu Beginn des 11.Jahrgangs nach einem Erklärvideo zur Entstehung des Neuen Testaments. Die eindeutige Klarstellung Wellhausens scheint also nach wie vor und immer wieder dringend notwendig zu sein!
Wer aber war und ist dieses Volk Israel? Und wie entwickelte sich seine besondere Beziehung mit seinem Gott?
Die historischen Ursprünge sind schwer zu rekonstruieren: Der Name Israel taucht außerbiblisch zum ersten Mal auf einer ägyptischen Stele des 13. Jahrhunderts v. Chr. auf. Sie bezeugt die Existenz einer Stammes- oder Sippenformation namens Israel aus der damaligen Region Kanaan (heute: Israel und Palästina). Es ist davon auszugehen, dass dieser Sippenverbund bereits von Anfang an in einer engen Beziehung zu seinem Gott gesehen wurde bzw. sich selbst sah. Darauf deutet die Endsilbe -el im Namen hin. El war vermutlich ein kanaanitischer Schutzgott für Familiengruppen. Erst später ist explizit der Gottesname JHWH mit dem Volk Israel in Verbindung gebracht worden.
Die gemeinsame Ursprungserfahrung des Sippenverbundes und damit der Beginn der Geschichte des Volkes Israel spiegelt sich in der Exodus-Tradition. In deren Zentrum stehen zwei miteinander verknüpfte Narrative, die für das Volk Israel identitätsstiftend waren und bis heute für gläubige Juden weltweit sind: zunächst das Narrativ von der Errettung und Befreiung aus Unterdrückung durch Israels Gott JHWH. Diese Erzählung von einer mit hoher Wahrscheinlichkeit historischen Ursprungserfahrung findet sich bereits in biblischem Urgestein: dem Mirjam-Lied (Ex 15,21). Schließlich das Narrativ von der Erwählung Israels, mit dem das erste gedeutet wird: Indem JHWH das Volk Israel vor seinen Unterdrückern gerettet und aus der Knechtschaft befreit hat, hat er es zu seinem heiligen Volk und Eigentum erwählt. (vgl. Dtn 7,6).
Nach alttestamentlicher Vorstellung hat die Erwählung des Volkes Israel durch JHWH zwei Seiten: Einerseits ist darin eine exklusive Beziehung zwischen Israel und Gott begründet, andererseits wird Israel dadurch zu Dienst- und Zeugenschaft in Anspruch genommen. Hier liegen in den theologischen Kategorien der Erwählung sowie des Bundes zwischen Israel und JHWH (vgl. Ex 24, 3-8) also Zuspruch und Anspruch zugleich. Zur Selbstvergewisserung und Erinnerung bekennt das Volk Israel deshalb: „Höre Israel, JHWH ist unser Gott, JHWH allein.“ (Dtn 6,4) Der Grund für die Erwählung findet sich im folgenden Kapitel: „Nicht hat euch JHWH angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat.“ (Dtn 7,7)
In den jüngeren Schriften der alttestamentlichen Prophetie, die in der nachexilischen Zeit entstanden sein dürften, bekommt die Erwählung Israels eine universale Perspektive: Israel ist das Licht für die Völker. Die Völkerwelt soll durch die Zeugenschaft Israels JHWH ebenfalls als den einzig wahren Gott erkennen (vgl. u.a. Jes 49,6.12;52,7-10).
Im Neuen Testament werden die Bezeichnungen Volk Israel und jüdisches Volk in der Regel synonym gebraucht. Die neutestamentlichen Schriften sind in einer Zeit entstanden, in der die jungen christlichen ebenso wie die jüdischen Gemeinden unter wachsendem Identitätsdruck standen. Das führte zu Abgrenzungsbewegungen voneinander. Vor diesem konkreten historischen Hintergrund müssen die Bemühungen der neutestamentlichen Autoren verstanden werden, das Narrativ von der Erwählung auf die christlichen Gemeinden zu übertragen und im eigenen Interesse neu zu interpretieren (vgl. u.a. 1 Petr 2,9; Eph 2,19)
Der prominenteste Versuch einer Neuinterpretation der Erwählung des Volkes Israel durch seinen Gott JHWH findet sich im Römerbrief des Apostels Paulus (Röm 9–11). Gleich zu Beginn hebt Paulus, selbst Jude, zwar Israels exklusives Verhältnis zu Gott hervor. Im Folgenden aber relativiert er diese Exklusivität: Die Zugehörigkeit zum Volk Israel werde nicht nach nationalen Grenzen und äußeren Merkmalen entschieden. Vielmehr sei die Zugehörigkeit zum Gottesvolk die freie, unergründliche Wahl Gottes. Weiter spricht Paulus von der Verstockung eines Teils des Volkes Israel und meint hier wieder ausschließlich die nicht getauften Juden. Sie hätten Gottes Gerechtigkeit, die allein aus dem Glauben an Christus kommt, nicht erkannt. Dennoch, so stellt Paulus in Aussicht, werde am Ende der Zeit ganz Israel errettet; aber erst, nachdem die Vollzahl der Heiden in das Reich Gottes gelangt sein werde.
Paulus‘ Neuinterpretation blickt heute auf eine Auslegungs- und Wirkungsgeschichte mit schwerwiegenden Folgen zurück: Über Jahrhunderte hinweg haben Christen mit der angeblichen Verstockung des jüdischen Gottesvolkes Diskriminierungen und tödliche Pogrome gegen ihre jüdischen Nachbarn gerechtfertigt. Dieser tiefsitzende Antijudaismus wiederum war die üble Wurzel des Antisemitismus, der zur millionenfachen Ermordung jüdischer Menschen im Holocaust führte.
Die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers hat zwar sehr lange gebraucht, doch endlich und Gott sei Dank, so möchte ich sagen, hat sie zunächst in der Synodalerklärung von 1995 und dann 18 Jahre später in der veränderten Verfassung der Landeskirche unmissverständlich die Einsicht der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes Israel formuliert: „Die Landeskirche ist durch Gottes Wort und Verheißung mit dem jüdischen Volk verbunden. Sie achtet seine bleibende Erwählung zum Volk und zum Zeugen Gottes.“ (KVerf Art 4 Abs (5))
Christina Harder