Die Vorhersage der Zukunft spielte in allen Kulturen zu allen Zeiten eine wichtige Rolle. Das gilt auch für das Volk Israel in alttestamentlicher Zeit. Zugleich gab es hier eine Besonderheit, nämlich die sogenannten Schriftpropheten des Alten Testaments.
Ihre Besonderheit bestand darin, dass Gott sie auserwählt und berufen hat. Prophet wurde man also nicht durch eine eigene Entscheidung, sondern durch eine Beauftragung von Gott.
Die Botschaft, die der Prophet weitersagen sollte, wurde ihm von Gott in einer Vision oder einer Audition mitgeteilt. Der Prophet dachte sich die Botschaft also nicht selbst aus; er diente lediglich als Sprachrohr Gottes und sagte nur weiter, was Gott ihm aufgetragen hatte.
Keiner der Propheten hat sich nach dieser Beauftragung gedrängt. Im Gegenteil. So erzählt zum Beispiel das Buch Jona, dass der Prophet Jona vor Gott zu fliehen versuchte, um den Auftrag loszuwerden. Aber es gelang ihm nicht.
Von Gott zum Propheten berufen zu werden, war keine angenehme Aufgabe. Das lag daran, dass die Botschaft, die die Propheten zu verkündigen hatten, in der Regel in der Androhung von Gericht und Strafe bestand. Entsprechend übel wurden die Propheten oft von den Zuhörern behandelt. Sie wurden ausgelacht, verprügelt oder verfolgt.
Der größte Teil der prophetischen Reden gehört der Gattung der Unheilsworte an. In ihnen wurde dem Volk Israel das Gericht Gottes angedroht, weil die Israeliten seine Gebote übertreten hatten.
Die Propheten benennen in ihrer Kritik ganz konkrete Punkte. Ein großer Bereich betrifft die sogenannte Sozialkritik. In einer Gesellschaft, die von Männern beherrscht wurde und in der Frauen und Kinder sich unterzuordnen hatten, gehörten die Witwen und Waisen zu den hilflosen Verlierern. Es war leicht, sie ungerecht zu behandeln und ihnen ihren Besitz abzunehmen. Im schlimmsten Fall mussten diese Armen sich oder ihre Angehörigen als Sklaven verkaufen.
Die Propheten machten deutlich, dass Gott auf ihrer Seite stand; das galt übrigens auch für die Fremden und Ausländer im Land.
„Unterdrückt nicht die Fremden, die bei euch im Land leben, sondern behandelt sie genau wie euresgleichen. Jeder von euch soll seinen fremden Mitbürger lieben wie sich selbst. Denkt daran, dass auch ihr in Ägypten Fremde gewesen seid.“ (3. Mose 19,33f.)
Deshalb verurteilten die Propheten die Reichen, die den Besitz dieser Armen unrechtmäßig an sich brachten. Man kann Gott nur lieben und dienen, wenn man auch seinen Nächsten liebt und ihn vor Ungerechtigkeit in Schutz nimmt.
Diese alten Worte haben nichts von ihrer Brisanz verloren; sie hallen bis in unsere von Flüchtlingsströmen erschütterte Asylpolitik nach. Sie verurteilen den aktuellen globalen Sklavenmarkt, auf dem Menschen allein zum Zwecke höherer Gewinne zum Frondienst unter menschenunwürdigen Produktionsbedingungen gezwungen werden, und sie verbieten das Verhalten weltweit operierender Konzerne, die durch rücksichtslose Ausbeutung Menschen zu Sklaven und zu hilflosen Opfern des Profits macht.
Weil die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten untrennbar sind, verbanden die Propheten ihre Sozialkritik mit der sogenannten Kultkritik. Es ist Heuchelei, wenn man in den Tempel geht, um Gottesdienst zu feiern, aber nach dem Gottesdienst seinen Nächsten ausbeutet.
Jesus nahm diese Kultkritik auf, aber er übertrat bewusst die Vorschriften zur Einhaltung der kultischen Reinheit. Er aß zum Beispiel mit Zöllnern und Sündern. Die Liebe zu Gott zeigt sich also nicht allein im Gottesdienst, sondern in der konkreten Liebe zum Nächsten.
Einerseits haben die Propheten immer die Gegenwart und die unmittelbar bevorstehende politische Zukunft im Blick. Andererseits gibt es in den meisten Prophetenbüchern auch die Tendenz, das zukünftige Gericht und das zukünftige Heil eschatologisch zu deuten. Das bedeutet, das drohende Unheil führt zum Ende der Welt, denn Jahwe wird zum Jüngsten Gericht kommen und alle Menschen auf der ganzen Erde richten.
Dasselbe gilt aber auch für das zukünftige Heil. Es wird ohne Ende sein, weil alle Völker der Erde – auch die nichtjüdischen Menschen – zum Berg Zion nach Jerusalem kommen werden, um Jahwe zu verehren. Dann werden alle Völker auf der Erde in Frieden miteinander leben, weil sie sich alle an Gottes Weisungen halten werden.
Der Prophet Jesaja weitet diesen endzeitlichen Frieden sogar auf die Tierwelt aus, die endgültig und für ewig in den ursprünglichen paradiesischen Urzustand zurückgelangen wird.
Einige alttestamentliche Propheten haben dieses Friedensreich mit der Ankunft des Messias verbunden.
Matthias Hülsmann
(Ungekürzt in: Matthias Hülsmann, Theologisches Basiswissen, Loccum 2016, S. 129ff.)