Reli to go 31: Vergeben – und wenn ich das nicht kann?

Ertragen und vergeben – hat das was miteinander zu tun? Was ist Vergebung? Und wie funktioniert sie? Kann sie süß sein – so wie man das von Rache oder Vergeltung behauptet?

Der Erzbischof von Kapstadt, Desmond Tutu (1931–2021), Menschenrechtsaktivist und Friedensnobelpreisträger, war ab 1995 Vorsitzender der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission. Diese Kommission war nach dem Ende der Rassentrennung eingesetzt worden, um Täter und Opfer politisch motivierter Verbrechen in einen Dialog zu bringen – und das Land davor zu bewahren, in eine Vergeltungsspirale hineinzurutschen. Tutu war überzeugt, dass gerade in Konflikten von großem Ausmaß nur durch Vergebung der Weg geebnet werden kann, damit nicht auch die kommenden Generationen die immer wieder gleichen Verletzungen und Verluste erfahren. Vergeben heißt für ihn nicht, selbstlos zu sein. Es ist die beste Form von Eigeninteresse, denn es geht dabei gerade nicht darum, Fehlverhalten zu billigen, sondern es zu stoppen.

Die Idee dabei war: Vergebung ist zu unterscheiden von „Vergessen“ – das hieße ja: An die Verletzung wird nicht mehr erinnert. Vergebung ist aber auch nicht mit „Nachsicht“ gleichzustellen – denn das hieße: Die Verantwortlichkeit des Täters wird relativiert, und im schlimmsten Fall wird die Tat sogar als einzige Handlungsmöglichkeit dargestellt. Vergebung ist auch nicht das gleiche wie „Akzeptanz“ – das hieße: Die Verletzung bzw. deren Folgen werden akzeptiert. Sie hat auch nichts mit „Billigung“ zu tun, denn das hieße doch, dass die Person in Opferposition zustimmt zu dem, was geschehen ist. Vergebung setzt voraus, dass sich die Person in der Opferposition frei und völlig autonom dazu entscheiden kann. Die vorausgehende Bitte eines Täters um Vergebung ist dabei natürlich hilfreich. Sie ist aber nicht Voraussetzung für Vergebung. Eva Kor, eine Überlebende von Ausschwitz, sagte sogar: „Ich vergebe nicht, weil die Nazis das verdient hätten, sondern weil ich es verdiene!“

Verletzende Situationen die Vergebung erfordern können sich im Schweregrad enorm unterschieden und werden in der Psychologie kategorisiert nach Alltagssituationen (einander anschreien, Geburtstag vergessen o.ä.), Lebensereignissen (wie z.B. Trennungssituationen) und Traumatisierung (wie z.B. Gewaltereignisse oder Verkehrsunfälle). Wenn die Verletzung zu körperlichen, seelischen, ideellen oder materiellen Verlusten geführt hat, muss dieser Verlust betrauert werden können. Somit ist Trauerarbeit ein Teil des Vergebungsprozesses. Geschieht dies nicht, kann die Person in der Opferrolle in negativen Gedanken wie Bitterkeit, Unversöhnlichkeit, Traurigkeit und Wut wie in vier Mauern einer Gefängniszelle eingeschlossen bleiben. Manche Menschen sind dann völlig starr – und im Kopf scheinen alle Wohnungen von Kränkung, Angst und Groll besetzt zu sein. Für sie kann der Weg zu Vergebung eine Befreiung sein, die auch den Kreislauf der Vergeltung durchbricht. So können Betroffene manchmal erst danach aufhören, ihre eigene Opferrolle dafür zu nutzen, andere ungerecht zu behandeln. Vergebung hilft dem Opfer also dabei, die gedankliche Wiederholung des Unrechts zu unterbrechen und das Ereignis loszulassen. Damit setzt Vergebung eine Zäsur.

Untersuchungen zeigen, dass sich die Möglichkeit zu vergeben im Laufe des Lebens entwickelt: durch Vorbilder, durch Erziehung – und natürlich durch die eigene Erfahrung. Wer mit Strafe aufwächst, wird eher zu dem Teil der Menschen gehören, die Vergebung als einen Freibrief für Verletzung, eine Ohrfeige empfinden und daran glauben, dass Vergeltung eine wirksamere Art ist, Werte zu erhalten. Dann scheint Vergeltung die Möglichkeit, wieder Kontrolle zu erlangen und einem Täter gegenüber „eine Lektion zu erteilen“.

Insofern ist Vergebung der „süßere“ Weg als der Weg der Rache und der Vergeltung – denn er generiert nicht neue Verletzungen. Aber es ist oft genug auch der Weg, der steiniger ist, mehr Arbeit erfordert, einen großen Aufwand psychischer Energie erfordert und sich nicht so einfach machen lässt. Denn Vergebung heißt, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen, sich selbst und andere Beteiligte anzusehen, nichts zu vertuschen, aber letztlich loszulassen. Das ist wahrlich schwere Arbeit – je nach Schweregrad der Verletzung dauert sie auch unterschiedlich lange.

Und: Gelingen ist nicht sicher – und kann nicht verordnet werden. Sonst wird Vergebung doch mit Billigung oder mit Akzeptanz oder Nachsicht verwechselt. Dann aber werden der Kopf und die Gefühlswelt nicht befreit. Wem Vergebung nicht gelingen kann, der*die braucht deshalb manchmal auch Hilfe von außen durch Weggefährt*innen, Supervision oder Seelsorge.

Im Kolosserbrief 3,13 heißt es: „Ertragt einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern, wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“ Der bessere Weg ist das – das glaube ich wirklich. Doch noch habe ich nie so schlimmes Unrecht erleben müssen, wie z.B. viele Schwarze es bis heute erleiden, habe niemals Gewalt erfahren – und rede deshalb nur aus meiner kleinen behüteten und europäisch geprägten Welt. Und bewundere umso mehr, wenn Vergebung auch dort gelingt, wo traumatische Dinge passiert sind.

Bettina Wittmann-Stasch

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Literaturtipp:

Wer Lust hat, weiterzudenken, dem sei das folgende Graphic-Novel-Buch von Masi Noor und Marina Cantacuzino empfohlen: „Vergebung ist ziemlich strange“ (Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2020, 63 Seiten, 19,95 Euro). Anhand wahrer Lebensgeschichten werden die verschiedensten Facetten von Vergebung studiert und nachgezeichnet, wie seltsam und komplex Vergebung sein kann.