Schließe kurz die Augen und erinnere dich: Welche Geschichten wurden dir in deiner Kindheit und Jugend erzählt? Und welche Erzählung hat sich tief in dein Herz eingeschrieben?
Kindheit lebt in Geschichten. Ein Kind ist in seinen Geschichten – mittendrin. Nicht immer sind es heilsame Erzählungen (Narrative). Sie können in der kindlichen Seele tiefe Wunden hinterlassen, beispielsweise wenn darin ein Gefühl der eigenen Minderwertigkeit oder der Sinnlosigkeit des Lebens vermittelt wird. Ganz anders ist es mit Narrativen, die dem heranwachsenden Menschen ein unerschütterliches Urvertrauen tief in Herz und Seele einschreiben.
Das altgriechische Wort für Vertrauen ist πίστις (pistis). Dieses Wort bedeutet übersetzt auch: Glaube. Über die Etymologie des griechischen Wortes für Vertrauen wird deutlich: In einem Kind, in dem mit Erzählungen der Samen für tiefes Urvertrauen gesät wird, wird zugleich die Wurzel für tiefen Glauben eingepflanzt. Denn: Wer glaubt, kann auch vertrauen. Und wer vertraut, kann glauben.
Die Frage ist nun: Woran glauben und worauf vertrauen? Glauben und Vertrauen sind ja immer auf etwas oder jemanden gerichtet.
Im 5. Buch Mose (Deuteronomium) wird im 6. Kapitel, im Anschluss an die Auflistung der wichtigsten 10 Gebote für ein friedliches Zusammenleben, den Erwachsenen des Volkes Israels aufgetragen, ihren Kindern von Gottes Geboten zu erzählen und sie ihnen so in Herz und Seele einzusäen. Dabei ist aber wichtig: Diese Gebote sind untrennbar verwoben mit der Erzählung von der Befreiung aus der Sklaverei durch den einen Gott, den Gott Israels. Über das Erzählen nun sollen in den Kindern Vertrauen und Glaube gesät werden: Vertrauen auf die Gebote Gottes, die Frieden stiften, und Glauben an den einen Gott, der befreit. Zugleich ermöglicht das wiederholte Erzählen eine subjektive Auseinandersetzung. Heranwachsende können sich dabei immer wieder selbst (be)fragen: Welche Rolle spielen diese Erzählungen und die in ihnen vermittelten existenziellen Wahrheiten für mich in meinem Leben?
In welchen Geschichten, in welchen Erzählungen hast DU in deiner Kindheit gelebt? Welche Narrative haben sich in DEIN Herz eingetragen? Waren Geschichten aus der Bibel mit dabei?
Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, als der Vater meiner besten Freundin eine Bibel für Kinder im Comic-Stil mitbrachte. Ich war be-geistert. Ich begann, in und mit diesen Geschichten (und Bildern!) zu leben. Da ist zum Beispiel der Hirtenjunge David: Weder der Vater noch die älteren Brüder nehmen ihn richtig ernst. Weil er Harfe spielt und gerne singt, gilt er in den Augen der anderen als schwach. Anders in den Augen Gottes, der das Herz eines Menschen ansieht: David ist eigentlich stark. Deshalb soll er König werden. Und er wird sogar ein richtig mächtiger König, weil er stets auf Gottes Wort achtet. Doch dann verliebt er sich in eine Frau. Und weil er sie unbedingt zur Ehefrau nehmen will, wird David zum Mörder. Er muss sich vor Gott dafür verantworten und eine schmerzliche Strafe ertragen. Trotz seiner schweren Schuld ermöglicht Gott ihm jedoch die Rückkehr ins Leben.
Mich fasziniert diese Erzählung noch heute. Ich habe darin so viel entdeckt, was mich zum Nachdenken gebracht hat. Hier haben die biblischen Erzähler mit ihrem liebenden, vertrauensvollen und gläubigen Blick Geschichte gedeutet und eine große Erzählung daraus gewoben, die mir damals wie heute sehr viel über die Widersprüchlichkeiten menschlichen Lebens, aber auch über mich selbst und mein Leben erzählt. Es war unter anderen diese große Erzählung von David, die mir einen Raum geöffnet hat, in dem ich vertrauen und glauben lernen konnte und heute immer aufs Neue lernen kann: glauben, dass da ein Gott ist, in dessen Augen das vermeintlich Schwache stark ist, und vertrauen, dass er mich auch dann nicht loslässt, wenn ich richtig Mist gebaut habe.
Was hat die Bibel mit meinem Glauben (an Gott) zu tun?
Richtig viel! Die Bibel zu lesen, ist ohne Frage nicht immer ein echtes Lesevergnügen. Doch ihre Geschichten sind einfach stark! Unübertroffen, unvergleichlich. Und zwar gerade deshalb, weil darin nicht historische und schon gar nicht naturwissenschaftliche, sondern existenzielle Wahrheiten zur lebendigen Erzählung werden. Darum öffnen biblische Geschichten Räume, sich mit dem eigenen Leben in all seinen Farben auseinanderzusetzen und dabei vertrauen wie glauben zu lernen: dass da eine wunderbare Macht, ein Gott, ist, der von sich sagt: Ich bin der Ich-bin-da. Ich bin, der ich bin; und ich werde sein, der ich sein werde.
Christina Harder