Erst einmal die Treppe hinunter, dann in die Küche, die gefüllte Kaffeekanne aus der Maschine nehmen, zum Esstisch tragen, das vertraut duftende warme Getränk in die Tasse gießen und Zeitung aufschlagen, zuerst die Titel-, dann die Kommentarseite: Jeden Morgen grüßt das Murmeltier oder same procedure as every morning …
Es entlastet mich, jeden Morgen mit meinen eingespielten Abläufen in den Tag zu starten. Ich muss nicht darüber nachdenken, was als nächstes zu tun ist. Es tut sich von allein, routiniert und vertraut. So kann ich erst einmal wach werden, bis ich bereit bin für den neuen Tag.
Ist meine allmorgendliche Routine (m)ein Ritual? Was ist überhaupt ein Ritual? Wann hält es mich? Warum und wie kann es mich tragen?
Zu der Frage, welche Handlungen als Ritual bezeichnet werden können, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Nach weiten Begriffsauffassungen ist bereits jede routinierte Handlung ein Ritual. Engere Begriffsverständnisse hingegen sprechen erst dann von Ritualen, wenn wiederkehrende Handlungsmuster mit bestimmten Symbolen verbunden sind. Diese Symbole wiederum ragen über die konkrete Handlung in Raum und Zeit hinaus und transportieren Sinngehalte, die auf die Teilnehmenden eine tiefe Wirkung haben.
Sprachgeschichtlich stammen das Ritual ebenso wie der Ritus aus dem religiös-kultischen Bereich. In der christlichen Tradition werden alle gottesdienstlich-liturgischen Handlungen unter dem Oberbegriff Ritus verhandelt. Der christliche Ritus wiederum besteht je nach Anlass im Kirchenjahr oder Lebenszyklus aus unterschiedlichen Ritualen mit je spezifischen Symbolen. So ist beispielsweise das ritualisierte Abendmahl untrennbar mit den Symbolen Brot und Kelch verbunden, jede Taufhandlung mit dem Symbol des Wassers. Die Karfreitagsliturgie hat das Kreuz im Zentrum, während jeder sonstige Altarschmuck entfernt ist. Das Osterfest wiederum stellt die Osterkerze als Symbol ins Zentrum, das Weihnachtsfest die Krippe im Stall.
Die Wirkung dieser spezifisch christlichen Rituale ist natürlich – wie so vieles – äußerst subjektiv. Grundsätzlich aber erfüllen sie eine zentrale Funktion für die teilnehmenden Personen, die oftmals auch der Religion an sich zugeschrieben wird: Sie helfen bei der Bewältigung von Unsicherheit. Rituale ebenso wie Religionen an sich können die Unordnung der als chaotisch und unüberschaubar empfundenen Welt in Ordnung verwandeln. Sie dienen also der Kontingenzbewältigung. Durch die vertraute Wiederholung wird zunächst einmal äußerlich eine Ordnung gewährleistet oder wiederhergestellt, die Sicherheit gibt. Das Symbol schließlich verweist in je spezifischer Weise auf Gott als transzendente und zugleich weltimmanente Macht, die inmitten der empfundenen Unsicherheit Halt verspricht und Hoffnung schenkt.
Auch mein allmorgendlicher, vertrauter, immer gleicher Handlungsablauf gibt mir in gewisser Weise Halt. Er trägt mich durch die noch orientierungslose Aufwachphase und hilft mir, mich innerlich für das Unbekannte des jungen Tages zu wappnen. Umgangssprachlich ließe es sich im Sinne eines weiten Begriffsverständnisses als (m)ein Morgenritual bezeichnen. Im Sinne eines engeren Begriffsverständnisses aber sehe ich darin kein Ritual, das mich wirklich trägt und hält. Dafür fehlt ihm für mich die existenzielle Tiefe. Für die braucht es ein Symbol, das über Raum und Zeit der Handlung hinaus- und auf einen transzendenten Sinnge-halt verweist.
Am Karfreitag beispielsweise finde ich dieses Symbol im Kreuz. Der Altar in der Kirche ist an diesem Tag nicht wie üblich geschmückt. Auch im häuslichen Umfeld verzichte ich auf Schmuck und Blumen. Das Kreuz soll ganz im Mittelpunkt stehen: als Symbol für (m)einen Gott, der sich mit Haut und Haaren ganz dieser chaotischen Welt ausliefert, weil er sie liebt. Doch in den Karfreitag leuchtet für mich immer bereits das Licht des Ostermorgens hinein. In der Osternacht und am Ostermorgen steht dann das Symbol des Osterlichtes im Mittelpunkt. Schon am Karsamstag bereite ich dafür alles vor. Im Laufe des Tages wird das Haus geschmückt. Blumen bringen sichtbar das bunte Leben ins Haus zurück und verdrängen allmählich die Schwere des Karfreitags. Aus dem Gottesdienst der Osternacht oder des Ostermorgens bringe ich eine kleine Osterkerze mit, deren Licht an der großen Osterkerze in der Kirche entzündet wurde. Das Licht der Osterkerze bringt nun endgültig das Licht des unbesiegbaren Lebens zurück: „Ich bin das Licht der Welt“, spricht Christus, „wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern das Licht des Lebens haben“. (Joh 8,12)
Das Osterlicht hält und trägt mich, vor allem dann, wenn ich mal wieder das Gefühl habe, die Welt um mich herum sei aus den Fugen geraten.
Christina Harder