Stell‘ dir vor, du begegnest einem Menschen, und du spürst sofort: Mit diesem Menschen möchte ich alt werden. Wham! Liebe auf den ersten Blick. Hast du dir ausgesucht, in wen du dich verliebst? Kann von einer wirklich freien Partnerwahl die Rede sein? Willst du also wirklich, was du zu wollen meinst?
„Nein“, davon ist der Neurobiologe und Philosoph Gerhard Roth überzeugt. Wenn Brautleute vor dem Traualtar bekunden: „Ja, ich will“, handele es sich um keine wirklich freie Willensäußerung. Die Partnerwahl sei vielmehr an nicht selbst-bewusst steuerbare Vorbedingungen geknüpft, so Roth. Der freie Wille des Menschen sei deshalb eine Illusion. Alle Entscheidungen eines Menschen seien nämlich an physikalische Vorbedingungen wie Gene, Hormone, Hirnphysiologie u.a. gebunden und durch sie determiniert (festgelegt). Hier gilt: Life ist just what’s happening!
Als „abenteuerliche Metaphysik“, bezeichnet der Berner Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri diese Position des sog. Determinismus. Er bestreitet nicht, dass der Mensch in seinem Wollen durch vielfache Faktoren vorgeprägt (determiniert) sei und beeinflusst werde; auch nicht, dass alles menschliche Wahrnehmen und Entscheiden physiologische Grundlagen habe. In einer schlüssigen Argumentation zeigt er jedoch auf, dass der angebliche Konflikt zwischen Determinismus und Willensfreiheit gar keiner sei. Seine Begründung: Die Idee von einem freien Willen habe keinen logischen Ort in der Rede vom Gehirn, von Genen oder anderen physikalischen, also messbaren und nachweisbaren Phänomenen. Vielmehr hätten Begriffe wie „Willensfreiheit“ und „Entscheiden“ ihren logischen Ort in der Sprache des Geistes.
Bieri kommt zu dem Schluss, dass der Mensch trotz seiner zahlreichen (Vor-)Prägungen (Determinanten), die ihm ja überhaupt erst seine unverwechselbare Persönlichkeit verleihen, durchaus zu freien Willensentscheidungen in der Lage sei. Frei sei eine Willensentscheidung dann, wenn Urteil und Wollen zur Deckung kommen. Wenn also beispielsweise die Braut „Ja, ich will“ nur deshalb sagt, weil sie unter Drogen- oder Alkoholeinfluss steht oder weil sie aus inneren Zwängen heraus nicht „Nein“ sagen kann, sie aber am nächsten Tag feststellt: „Das wollte ich gar nicht. Das war ein Fehler“, dann fallen hier die Entscheidung und das anschließende Urteil darüber auseinander. Es handelt sich in dem Fall um keine freie Willensentscheidung. Wenn die Braut aber auch am nächsten Tag noch ihren Angetrauten liebevoll anlächelt und denkt: „Ich habe gestern die richtige Entscheidung getroffen“, dann stimmen ihr Urteil und ihr Wollen überein. In dem Fall war ihr „Ja“ eine freie Willensäußerung.
Die Position Bieris zählt zum sog. Kompatibilismus, weil er die (Vor-)Prägungen und die Willensfreiheit des Menschen für kompatibel hält. Hier gilt: Life is sometimes what’s happening, but you have the chance for creating your own life yet.
Wie sieht es nun aus evangelischer Sicht aus? Die evangelische Position zur Frage nach der Willensfreiheit kann im weiteren Sinne als eine Form des Kompatibilismus verstanden werden. Der theologische Terminus „(Erb-)Sünde“ fasst im Grunde jene Determinanten (Festlegungen, Prägungen) zusammen, die den Menschen in seinen Entscheidungen zur Gestaltung seines Lebens festlegen und beeinflussen. Das können äußere Faktoren wie Schuldzusammenhänge sein ebenso wie durch Sozialisation vermittelte Traditionen und Werte, Vorlieben und Vorurteile. Das können aber auch innere Faktoren sein wie egoistische Wünsche. Wie aber kann nun hiernach ein Mensch von diesen Festlegungen für ein wirklich selbst-bestimmtes Leben frei werden? Paradoxerweise eröffnet sich die Chance auf eine frei-willige Lebensgestaltung ausgerechnet aus einer Bindung heraus: nämlich der vertrauensvollen Bindung an Gott bzw. Jesus Christus. Dabei behält die evangelische Sicht mit dem Terminus „simul iustus et peccator (dt.: Gerechtfertigter und zugleich Sünder) im Blick, dass der Mensch in seinem Leben permanent auf der Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit wandert. Er bleibt den vielen, nicht lebensdienlichen Faktoren, die ihn unfrei machen, ausgesetzt. Doch in der vertrauensvollen Bindung an Jesus Christus eröffnet sich ihm immer neu die Möglichkeit, von belastenden Faktoren und Einflüssen frei(gesprochen) zu werden. Hier also gilt: Life is sometimes what’s happening. But you have the chance for creating your own life yet, if you believe in God and Jesus Christ.
Wenn also zwei Menschen vor Gott zueinander sagen: „Ja, ich will“, dann kann diese Entscheidung eine wirklich frei-willige sein. Und gerade in dieser frei-willigen Bindung wird das evangelische Freiheits-Paradox gelebt: Frei(gesprochen) von nicht lebensdienlichen äußeren wie inneren Einflüssen. Frei für ein Leben in selbst gewählter Bindung und Verantwortung.
Christina Harder