Sünde kann man fast überall begegnen weit ab von religiösen Zusammenhängen: Es gibt Kaloriensünden, Umweltsünden, Steuersünden u.a.m. Doch religiös verstanden ist er aus meiner Sicht fatal: Sünde ist aus meiner Sicht ein Begriff, der die ganze Unterdrückungsgeschichte der Kirche in sich trägt, die Menschen klein und in Abhängigkeit von der kirchlichen Lossprechung hielt. Ein neuer Begriff oder neue Begriffe wären hilfreich für das Sündenverständnis – die alten sind belastet.
„Sünde“ als Entfremdung von sich selbst und anderen – da kann ich mitgehen. Doch dafür brauche ich den Begriff „Sünde“ nicht. Jeder Mensch lebt immer wieder auch im Dissens mit sich selbst und mit anderen. Das, was damit gemeint ist, dieses Handeln oder Nichtstun, ohne an die Auswirkungen davon für andere Menschen zu denken, unüberlegt, manchmal auch einfach zu wenig weitschauend zu sein – das tut im Nachhinein weh, ist nicht erstrebenswert und wäre am ehesten das, was ich unter dem verstehen könnte, was man „Sünde“ nennt. Aber hilft dann der Begriff „Sünde“ weiter? Für mich nicht.
Die Sicht, der Mensch sei „sündig von Anfang an“ stammt unter anderem aus einer Deutung biblischer Texte, die ich so nicht teile: Wenn zu Beginn der Bibel Adam und Eva im Paradies von Gott den Auftrag bekommen, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, dies dann aber doch tun, dann ist die häufige Deutung, dass damit die sündige Menschheitsgeschichte begonnen habe. Doch man kann das auch anders lesen: Adam und Eva treffen eine Entscheidung – und leben anschließend mit der Konsequenz, dass sie nun außerhalb der Versorgung im Garten Eden weiterleben. Sie werden erwachsen, arbeiten, bekommen Kinder. Entscheidungen bergen dieses Risiko: Sie können negative Folgen haben. Aber wenn man keine Entscheidungen treffen wollte (was ja logischerweise auch eine Entscheidung wäre), wäre man auch nicht sicher, damit besser zu liegen.
Martin Luther hat mal zu seinem Freund und Kollegen Philipp Melanchthon gesagt: „Pecca fortiter“ (auf Deutsch: Sündige tapfer!)! Melanchthon war ein großer Gelehrter und gebildeter als Luther. Seine Schwäche war: Er traf nicht gern Entscheidungen. Das konnte auch als Stärke gelten, denn er war ein guter Zuhörer und Vermittler. Dennoch, manchmal braucht es auch eine klare Aussage, eine klare Entscheidung. Melanchthon aber kam meistens aus dem Grübeln nicht raus: Kann ich sicher sein, dass ich das Richtige tue? Hab ich auch alles bedacht, was zu bedenken ist? Was, wenn ich mit meiner Entscheidung eine völlig falsche Richtung einschlage, Gott verrate, statt dabei zu helfen, ihn neu zu entdecken? Mit diesen Gedanken lag Melanchthon so manche Nacht schlaflos im Bett. Was Wunder, dass er Magengeschwüre hatte und sich von Schonkost ernähren musste. Luther hat ihn ermuntert: Falsche Entscheidungen gehören dazu. Auch Abwarten kann ja falsch sein.
Für mittelalterliche Menschen hatte der Begriff Sünde eine lebensbedrohende Schärfe. Wer sündigt, ist getrennt von Gott, hat Höllenqualen zu fürchten. Und so überschrieben viele ihr Hab und Gut der Kirche, um den Anverwandten und sich selbst das ewige Leben zu sichern. Luther und andere haben sich dagegen stark gemacht, haben den Ablass als die eigentliche Sünde gegeißelt und Gott verstanden als denjenigen, der uns entgegenkommt wie der Vater dem verlorenen Sohn (vgl. Lk 15,11–32) und uns Menschen liebt.
Und doch hatten noch weitere theologische Gedanken zu Sünde einen langen und fatalen Nachhall: Der Kirchenvater Augustinus z.B. nannte die Unfähigkeit des Menschen, wirklich dauerhaft gut und liebevoll mit sich selbst und anderen Menschen umzugehen, „Erbsünde“. Und machte indirekt den Zeugungsakt für die Weitergabe dieser Sünde und dieses Unvermögens verantwortlich. Das war der Grundstein für eine Leibfeindlichkeit im Christentum, das Verpönen von Nacktheit, Sexualität und letztlich auch von Frauen, was sich leider auch hielt.
Für den christlichen Glauben bezeichnet Sünde darüber hinaus den Zustand des Getrennt-seins von Gott. Sünde sei dabei weniger eine einzelne Tat, so kann man es in vielen theologischen Schriften finden, sondern vielmehr eine Haltung, die Gott und Mitmenschen (und ich ergänze noch: Tiere, Natur, die Schöpfung, die Umwelt also) nicht achtet. Im Neuen Testament – das auf Griechisch geschrieben ist – ist das gebräuchlichste Wort für Sünde hamartia (ἁμαρτία). Hamartia bedeutet buchstäblich verfehlen oder nicht treffen. Dieses Wort wurde verwendet, wenn jemand z.B. beim Bogenschießen nicht getroffen, das Ziel verfehlt hatte.
Für mich ist diese ursprüngliche Bedeutung von hamartia ein interessantes Bild: am Ziel vorbeischießen, nicht treffen. Welches Ziel wird da verfehlt, fahrlässig oder absichtlich? In Mt 22,34–40 heißt es: „Ein Schriftgelehrter fragte Jesus: `Welches ist das wichtigste Gebot im Gesetz Gottes?´ Und Jesus antwortete ihm: `Liebe Gott, den Herrn, von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit all deinem Verstand und – liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Alle anderen Gebote und Forderungen sind in diesen Geboten enthalten.´"
Und wie geht das, „Gott lieben, den Nächsten und mich selbst“? Ich verstehe Liebe als ein Grundbedürfnis aller Menschen. Liebe ist kein Gefühl. Gefühle wechseln ja ständig. Liebe als ein Grundbedürfnis aber bleibt.
Gott ist für mich keine klar fassbare Größe, eher eine Kraft vielleicht, besser noch der Grund auf dem ich stehe, auf dem ich manchmal aber eben auch wanke. Ich hoffe, dieser Grund bleibt mir – und doch zweifle ich daran auch, ob es Gott geben kann in einer Welt wie der unseren. Ist solches Zweifeln schon „Getrenntsein von Gott“ – meint das ein Verfehlen des Zieles? Für mich braucht es den Zweifel wie die tastende Zuversicht, die strauchelnde Hoffnung und das innere „Trotzdem“, alles miteinander. Und das gilt genauso in der Beziehung zu meinen Nächsten und mir selbst: Zweifel, Kritik, ebenso aber Vertrauen und Hoffnung wechseln ein-ander ab. Nichts davon kann ich über längere Zeit missen, sonst habe ich eher das Gefühl, da an etwas festzuhalten, was ich längst schon verloren habe.
Ob man den Sündenbegriff nun einleuchtend findet oder (so wie auch ich) Schwierigkeiten mit diesem so belastenden Begriff hat: Es zeigt sich im Nachdenken über diesen alten, fatalen Begriff „Sünde“, wieviel Erfahrungen und Überzeugungen in der Bibel zusammengetragen sind, die zur Grundlage aller moderner Rechtssysteme wurden. Maßgeblich wird dabei nämlich anerkannt:
- Menschen können aktiv und passiv aneinander schuldig werden, durch Tat oder Unterlassung;
- Menschen sollten Unrechtsbewusstsein empfinden und die Notwendigkeit einer Wiedergutmachung einsehen;
- Regelverstöße werden bestraft und reuevolle Geständnisse strafmildernd belohnt;
- Vergeltung macht alles nur schlimmer, Vergebung aber das meiste erträglich.
Sprich: Da ist schon was dran. So oder so.
Bettina Wittmann-Stasch