Zu Beginn der Einführungsphase in der Oberstufe erhielten die Schüler*innen im Religionsunterricht eine Projektaufgabe, für die sie drei Monate lange Zeit bekamen: das sog. Bibel-Projekt. Es ging dabei zentral um die zutiefst existenziellen Fragen: Welche Erinnerungen, Erfahrungen, Hoffnungen, Träume, Ängste waren und sind für mich prägend? Gibt es Personen, Gegenstände, Ereignisse, Lieder, Geschichten, die ich damit verbinde? Kurz: Was ist (mir) in meinem Leben heilig?
Um den Begriff des Heiligen und die Frage „Was ist (mir) heilig?“ kreisend, erhielten die Schüler*innen die Hausaufgabe, einen Gegenstand in den Unterricht mitzubringen, der für sie jenseits des reinen Materialwertes einen Mehr-Wert hat. Am Beispiel der mitgebrachten Gegenstände sollten sie schließlich eine Aussage des Religionspädagogen Rainer Oberthür erläutern: „Alle Dinge, die wir sehen, können wir doppelt anschauen: als Tatsache und als Geheimnis.“
Ein Schüler brachte seine ersten Fußballschuhe mit in den Unterricht. Zunächst betrachteten wir die Schuhe als Tatsache: zerkratztes Leder voller Risse und Schmutz, also ein sehr geringer Materialwert. Damit wäre kein nennenswerter Geldbetrag zu erzielen. Dann betrachteten wir die Schuhe als Geheimnis: Sie bildeten deutlich den leidenschaftlichen Kampf des begeisterten Jungfußballers um jeden Ball ab. Diese Fußballschuhe standen symbolisch für die Leidenschaft des Schülers, für das, was ihn begeistert und in seinem Leben einen hohen Stellenwert hat. Niemals würde er diese Schuhe wegwerfen. Ich fragte ihn, was in und mit ihm passieren würde, wenn jemand diese Schuhe stehlen oder zerstören würde. Schweigen. Jedem*r Schüler*in war klar, was das bedeuten würde: Trauer, Schmerz, Ärger, Wut. Denn hier geht es um etwas, was einen Menschen in seinem tiefsten Inneren „unbedingt angeht“: um etwas Heiliges.
In einer anderen Unterrichtsdoppelstunde unternahm ich mit den Schüler*innen ein Gedankenexperiment: Stellt euch vor, ihr findet hier in der Schule in einem der Mülleimer eine Bibel (oder einen Koran). Was würdet ihr empfinden, wie reagieren? Was würdet ihr tun? Nach ersten, teilweise sehr emotionalen Diskussionen in Kleingruppen stellte ich schließlich die Frage in den Raum: Ist eine Bibelausgabe (oder eine Koranausgabe) schon per se jenseits der sachliche Tatsachen-Ebene als ein heiliger Gegenstand anzusehen? Und ist deshalb entsprechend damit umzugehen, der Mülleimer also auf jeden Fall ein Tabu, selbst wenn diese Bibel- oder Koranausgabe zerrissen und im Grunde unbrauchbar ist? Hier gingen die Meinungen weit auseinander. Einige Schüler*innen gaben zu, dass nach ihrem Empfinden jeder Bibel per se die Erfahrung des geheimnisvollen Heiligen anhänge. Die gleichen und andere Schüler*innen wiesen zudem auf die Gefühle tiefgläubiger Menschen hin, auf die Rücksicht zu nehmen sei. Andere Schüler*innen wiederum sahen die zerschlissene Bibelausgabe auf der reinen Tatsachenebene an: Sie ist kaputt, niemand kann mehr etwas damit anfangen, also bleibt nur der Mülleimer. Erst wenn die persönliche Erinnerung oder Erfahrung einer Person mit genau dieser einen Bibelausgabe verbunden sei, so gaben einige dieser Schüler*innen zu bedenken, werde aus einer zerschlissenen Bibelausgabe ein heiliger Gegenstand; beispielsweise wenn es sich dabei um die alte Hochzeitsbibel der verstorbenen Großeltern handele.
Was ist heilig? Was ist mir heilig? Ist Gott heilig? Für mich, für andere? Und was bedeutet es, wenn mir etwas oder jemand heilig ist? In Anknüpfung an Rainer Oberthür, den Theologen und Philosophen Paul Tillich sowie den Theologen Rudolf Otto ließe sich darauf antworten: Für eine Person (oder eine Gruppe) ist etwas heilig, wenn sie darin einen Mehr-Wert jenseits der rein sachlichen Tatsachenebene sieht, wenn sie davon als Erfahrung des Geheimnisvollen ergriffen wird und wenn sie im tiefsten Inneren spürt, dass es sie „unbedingt angeht“.
Christina Harder