In der Pandemie ist vieles von dem, was wir als „persönliche Freiheit“ selbstverständlich sehen, vorübergehend außer Kraft gesetzt worden – und noch nicht wieder vollständig zurück. Unser Leben hat sich verändert bis in die Grundfesten seit März 2020.
Politisch ist die Freiheit des Einzelnen bei uns glücklicherweise unabhängig von Geschlecht und Religionszugehörigkeit geschützt – anders als in anderen Ländern. Wir leben in einem Staat und einer Staatengemeinschaft mit einer rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung. Die Grundlage der Menschenrechte markiert dabei die Grenze staatlicher Macht. Grundrechte, die sich aus der Würde des Menschen ergeben, sind verbürgt: Das Recht auf Leben ist unantastbar, die Freiheit des Gewissens klar, Religions- und Meinungsfreiheit sind im Grundgesetz verankert.
Freiheit ist damit wesentlich, ganz sicher.
Meine persönliche Freiheit aber besteht eben nicht darin, dass ich entscheiden könnte, wann ich eine Maske tragen will und ob ich es einsehe, hier Abstand zu wahren. Das sind andere Fragen. Solange nicht Einzelne, sondern viele Virolog*innen und Infektolog*innen gemeinsam mit Politiker*innen über den richtigen Weg aus diesem Krisengeschehen diskutieren und streiten, kann ich ganz gut damit leben, wenn meine persönliche Freiheit weiter nur dem Infektionsgeschehen angepasst bleiben kann. Denn ich bin überzeugt: Keine*r von und ist immer und in allen Fällen „Expert*in“ für spezielle Fragen. Wir können in dieser komplexen Welt nicht alles verstehen und uns nicht überall das nötige Wissen aneignen, um faktenbasierte Urteile fällen zu können.
Für die Bewältigung des ganz normalen, kleinen Alltags im Pandemiegeschehen, das nicht aufhört, das nervt, das einschränkt und manchmal schlicht unzufrieden und unglücklich macht, brauche ich deshalb noch mehr als Freiheit. Ich brauche zur Freiheit auch Vertrauen und Verantwortung.
In dem, was als „christliche Freiheit“ bezeichnet werden kann, hat Freiheit viele Facetten. Freiheit im biblischen und reformatorischen Sinne ist nicht mit Individualismus zu verwechseln, sondern sie ist stets mit Verantwortung gegenüber Gott und den Mitmenschen gepaart und kann nur im Geist der Gottes- und Nächstenliebe gelebt werden. Dazu gehört auch, dass „Christenmenschen“ sich selbst als Befreite verstehen. Wie das zu verstehen ist?
1520 veröffentlichte Luther seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Sie beginnt mit einer paradoxen Doppelthese, die es in sich hat: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Heute fällt bei diesem Satz niemandem die Kinnlade herunter. Dass wir Menschen frei sind und niemandem Untertan, steht im Grundgesetz und in jeder anderen guten Verfassung. Das sind wir gewohnt. Das ist selbstverständlich. Wir regen uns höchstens auf, dass man ein „ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ sein soll.
„Aber jetzt versetzt Euch mal in die Lage von Mildred – drittes Kind des Gerbereigesellen Hans und seiner Frau Eleonore. Wie unfrei und abhängig so ein Menschenkind vor 500 Jahren war, das können wir uns, glaube ich, einfach gar nicht mehr vorstellen. Mildred durfte nicht in die Schule gehen, sie durfte nicht bei der Berufswahl mitreden, sie durfte nicht entscheiden, wen sie mal heiratet, sie durfte nicht einfach mal einen Ausflug nach Magdeburg unternehmen, sie sollte nicht verstehen, was im Gottesdienst geredet wurde, sie hatte keine Stimme bei irgendeiner Wahl. Und jetzt stellt Euch mal vor, wie dieser Satz auf Mildred gewirkt hätte: Hey, Mildred – Du bist frei, niemandem untertan. Du musst Dir von keinem in deine Sachen reinreden lassen“ (aus „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, Predigt zum Reformationstag 31.10.2020, zu finden unter https://www.martini-luther.de/Resources/Public/user_upload/Lesestoff/P-71-0-20-REF-Freiheit.pdf ).
Luther war aber kein Sozialrevolutionär. Er war Theologe und hat nur das damalige kirchliche Handeln an biblischen Aussagen überprüft. Luthers Zerpflücken dessen, was ein Mensch so tun muss, war also theologisches Grundwerk. Doch der Freiheitsgedanke war auch theologisch neu ausgegraben: Nicht die Vorschriften der damaligen katholischen Kirche bringen das Seelenheil. Als Kind Gottes bist du geliebt, schon bevor du irgendwas tust. Du bist befreit, das zu tun, was dem Leben nutzt.
Freiheit ist ein wichtiges Gut, unverzichtbar. Sie findet ihre Grenze in Verantwortung und Vertrauen. Verantwortung anderen Menschen gegenüber und Vertrauen darauf, dass andere mir nicht grundsätzlich Böses wollen.
Bettina Wittmann-Stasch