Reli to go 9: Der Mensch denkt, Gott lenkt? – Handelt Gott durch die Geschichte?

4. Juli 1954 im Berner Fußballstadion: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen. Rahn schießt. Toooor! Toooor! Toooor!“ Diese Sätze des Radioreporters Werner Zimmermann haben sich ins kollektive Gedächtnis der Menschen im Nachkriegsdeutschland eingebrannt. Schnell war ein Titel für diesen tatsächlich unglaublichen WM-Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen die hoch favorisierten Ungarn gefunden: „Das Wunder von Bern“.

 

Menschen sprechen gerne von Wundern, wenn etwas passiert, das sie nicht erwartet hatten. „Wie durch ein Wunder!“, so sagen sie dann. Das Wunder von Bern.

 

Ein anderes prominentes Beispiel ist der Fall der Mauer 1989. War das auch ein Wunder? Hatte Gott hier seine Hand im Spiel und hat dafür gesorgt, dass die jahrelange Teilung Deutschlands endlich ein Ende fand?

 

Hinter all dem steht eine große theologische Frage: Handelt Gott durch die Geschichte? Ist es also sein Wirken gewesen, dass die beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 wieder zusammengeführt hat? Gerne möchte ich glauben, dass Gott den Lauf der Welt lenkt, dass er seine Geschöpfe nicht dem Zufall von Schicksal oder menschlicher Willkür überlässt. Oft erzählen Pfarrer*innen davon ja auch bei Trauungen und beschreiben, wie Gott zwei Menschen zusammengeführt und bis vor den Altar gebracht hat.

 

Doch wenn ich glaube, dass Gott Ehen stiftet – ist er dann auch verantwortlich für Scheidungen? Und wenn ich denke, dass es Gott war, der den Fall der Mauer veranlasst hat – wie war das dann 1945 mit der Teilung Deutschlands?

 

Handelt Gott also durch die Geschichte? Wenn ich sage: Ja, Gott handelt durch die Weltgeschichte!, dann frage ich mich sofort, warum es dann in der Geschichte mehr schreckliche als schöne Momente gibt. Wieso verhindert Gott nicht den Hungertod von Kindern, das Massensterben im Mittelmeer, den Tsunami, den Zweiten Weltkrieg, die Corona-Pandemie und so weiter? Was wäre das für ein Gott, der solche Dinge geschehen ließe, ja vielleicht sogar aktiv steuert? Und um mal die schwerwiegendste Frage zu stellen: Was war mit dem Holocaust und dem Tod von sechs Millionen Jüd*innen? Von einem gütigen Gott könnte dann nicht mehr die Rede sein. Wenn es Gottes Wille ist, dass die Geschichte so verläuft, wie sie verläuft – dann müsste die Theologie neu geschrieben werden.

 

Doch zu sagen, dass Gott nicht durch die Weltgeschichte handelt, finde ich persönlich auch unbefriedigend. Was würde mir denn der Glaube an einen Gott helfen, der nicht in den Gang der Geschichte eingreift – egal ob er es nicht will oder nicht kann oder aus welchen Gründen auch immer?

 

Mir hilft in meinem Nachdenken die Vorstellung weiter, dass Gott zwar nicht durch die Geschichte handelt, aber in der Geschichte. Dass Gott den Weltenlauf wie ein absolutistischer Herrscher plant und lenkt, glaube ich nicht. Aber ich glaube, dass Gott an einzelnen Momenten in dieser Weltgeschichte durchaus eingreift und, einem Wunder gleich, Schlimmes verhindert und besondere Momente ermöglicht. Vielleicht auch in besonderen Begegnungen gegenwärtig ist. Bestes Beispiel dafür ist für mich Jesus Christus, der auch einige besondere Jahre lang auf Erden gewirkt hat. Hier hat sich Gott in den Lauf der Geschichte hineinbegeben.

 

Doch ist all das – die Vorstellung, dass in Jesus Christus Gott selbst am Werk war; die Deutung des Falles der Mauer als Handeln Gottes – immer schon eine Deutung. Gottes Spuren in der Geschichte und in meinem Leben kann ich nur rückblickend entdecken. Auch die Liebe zwischen zwei Menschen oder die Deutsche Einheit können völlig ohne Gott erklärt werden – und ob Gott wirklich in Fußballspiele eingreift (und seien es WM-Endspiele!), das würde ich eher bezweifeln.

 

Leider ist es aber so: Egal wie lange ich nachdenke – ich verstehe nicht, warum Gott nicht öfter in die Geschichte eingreift und nicht viel mehr Schlimmes verhindert und Schönes herbeiführt. Und die Tatsache, dass Gott die Vernichtung seines auserwählten Volkes im Dritten Reich nicht verhindert hat, ist für mich tatsächlich ein Grund, immer mal wieder an der Existenz Gottes zu zweifeln.

 

Michaela Veit-Engelmann

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