Mein Geburtsfoto zeigt einen fünfpfündigen Jungen mit blonden Haaren, der zahnlos in die Kamera lächelt. Heute sind meine Haare grau, ich habe Zähne und wiege weit mehr als das Dreißigfache. Das Einzige, was sich nicht verändert hat, ist das Frotteetuch, auf dem ich damals lag. Und das da auf dem Foto soll ich sein?!
Wer bin ich?
Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wenn man morgens in den Spiegel guckt und abends alte Baby-Fotos anschaut.
Täglich nehme ich Kohlenstoffatome zu mir, von der Muttermilch bis zur Currywurst. Diese Atome werden in meinem Körper eingebaut; dafür werden andere Atome ausgeschieden. Statistisch gesehen ist es durchaus möglich, dass in meinen Knochen ein Kohlenstoffatom verbaut ist, das Julius Cäsar auch schon mal in sich getragen hat. Und vielleicht ist in diesem Moment in einer Synapse meines Gehirns ein Atom damit beschäftigt, mein Ich-Bewusstsein hervorzubringen, und zwar dasselbe Atom, das vor vierzig Jahren in einer Synapse des Gehirns von Mutter Teresa deren Ich-Bewusstsein hervorgebracht hat; und vierzig Jahre davor hatte es möglicherweise im Gehirn von Josef Stalin die gleiche Funktion. Ein Atom in drei verschiedenen Personen.
Wer bin ich?
Noch komplizierter wird die Antwort auf diese Frage, wenn wir von dem Baby auf dem Handtuch noch einmal rund neun Monate zurückgehen und das Baby aus vier oder acht Zellen besteht. Wo ist das Ich eines Babys zu diesem Zeitpunkt? Wo ist das Ich einer Greisin, die einhundert Jahre alt und dement ist? Und wo ist das Ich eines Menschen, wenn sich seine Materie einschließlich seines Gehirns in Form von Asche in einer Friedhofsurne befindet?
Wenn wir nicht mehr präzise sagen können, wann das Ich eines Menschen beginnt und wann das Ich eines dementen oder komatösen Menschen endet, dann wissen wir auch nicht, von wann bis wann dieser Mensch eine Person ist, die unter dem Schutz der Menschenwürde steht.
Wer bin ich?
Die Antworten der Naturwissenschaften werden immer löchriger. Je mehr wir entdecken, desto mehr Fragen tun sich auf. Die ethischen Konfliktfelder am Anfang und am Ende des Lebens werden dadurch immer unübersichtlicher.
Ich gewinne zunehmend den Eindruck, dass sich die Antwort unserer jüdisch-christlichen Tradition als erstaunlich tragfähig erweist. „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“ So heißt es in Psalm 139,16. Ich verstehe das so: Gott hat beschlossen, dass es mich geben soll; deshalb ist er der Schöpfer meines Ich. Er garantiert die Kontinuität meiner Person über alle Stoffwechselprozesse meines biologischen Körpers hinaus. Auch wenn im Laufe meines Erdenlebens bei mir sämtliche Atome mehrfach ausgetauscht wurden, bleibt meine Identität erhalten. Denn Gott will, dass es mich gibt. Er hat mich aus der Ewigkeit ins Leben gerufen, er wird mich aus diesem Leben auch wieder abrufen in die Ewigkeit. Gottes Entscheidung, dass es mich geben soll, verleiht mir eine Identität für mein gesamtes irdisches Leben und über den biologischen Tod hinaus. Weil er mich anruft und mich anspricht, werde ich auch über den Tod hinaus sein Gesprächspartner bleiben, denn dazu hat er uns Menschen erschaffen.
Wer bin ich? Antwort: Gottes Gesprächspartner. Ich finde, etwas Größeres kann man über einen Menschen nicht sagen.
Matthias Hülsmann