Alter und neuer Rassismus

von Harmjan Dam

Ein Unterrichtsentwurf mit Kirchengeschichte für Klasse 9/10

Die Aktualität von Rassismus ist auf vielfache Weise in der Öffentlichkeit sichtbar. Im letzten „Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor der Bundesregierung“1  wurde festgestellt, dass 90 Prozent der Bürger*innen anerkennen, dass es Rassismus in Deutschland gibt und dass 22,2 Prozent einmal selbst von Rassismus betroffen waren. Gleichzeitig geben 70 Prozent an, sich gegen Rassismus engagieren zu wollen. Die vielen bundesweiten Demonstrationen, die nach dem Bekanntwerden des Treffens von Personen aus der AfD und der Werteunion zur „Remigration“ stattfanden, bestätigen diese Zahl. Die Kundgebungen wurden damit auch motiviert von einem „Nie wieder“ des rassistischen Denkens der 1930er-Jahre und von der Angst, dass die freiheitliche Demokratie wieder von einer nationalistischen menschenfeindlichen Ideologie unterwandert werden könnte. Damit zeugen sie von Geschichtsbewusstsein und von einem Wissen über die Folgen dieses Denkens.

Rassismus als Thema im Religionsunterricht

Rassismus damals und heute ist auch darum ein wichtiges Thema im Religionsunterricht. Das gilt auch, weil der Schutz von Menschenrechten und die Verhinderung von Rassismus im Grundgesetz (Art. 3 GG Abs. 3) verankert ist. Über die Schulgesetze gilt dies als eine Aufgabe für die Schule und damit auch für das ordentliche Lehrfach Religion. Der „Mehrwert“ des Faches Evangelische Religion liegt dabei vor allem in seiner religionsbezogenen und christlichen Perspektive, die sich eindeutig gegen Ausgrenzung stellt. Das christliche Menschenbild kann durch die Gottebenbildlichkeit mit der im Grundgesetz postulierten unantastbaren Würde des Menschen in Verbindung gebracht werden.2

Diese Perspektive ist auch biblisch begründet. Schon im Ersten (Alten) Testament gibt es viele Hinweise auf den respektvollen Umgang mit „Fremden“ und gilt das Gebot der Gastfreundschaft (Gen 18,1-8).3  Dies muss vor dem Hintergrund gelesen werden, dass das werdende Volk Israel in „Fremdlingschaft“ in Ägypten und Kanaan lebte. In den Evangelien wird diese Linie weitergezogen und es gibt das universelle Gebot der Nächstenliebe (Lk 10,27) sowie den Aufruf „Fremde wie-Jesus-selbst zu beherbergen“ (Mt 25,35). Wenn in der Bibel gegenüber „Anderen“ eine Abgrenzung stattgefunden hat, dann nur wegen deren Gottesvorstellung oder kultischen Praktiken (5. Mose 17,2-5; Eph 4,17).

Der Kampf gegen Rassismus hat eine lange Tradition im 20. Jahrhundert. In der ökumenischen Bewegung ist dies seit den 1920er-Jahren eine der Kernthemen und bis 1968 gab es schon 30 ökumenische Erklärungen gegen Rassismus.4  Im Jahr 1968 wurde das „Program to Combat Racism“ aufgelegt, mit dem u.a. der Kampf gegen die „Apartheid“ in Südafrika unterstützt wurde. In der gleichen Zeit publizierte James Cone in den USA theologische Argumente gegen die Diskriminierung von Schwarzen. In Deutschland wurden sie u.a. von Jürgen Moltmann rezipiert. Sie können in drei Gruppen gebündelt werden:

  • Schöpfungstheologisch: Die Einheit aller Menschen liegt in ihrem gleichen Ursprung. Die Gottebenbildlichkeit (1. Mose 1,26-30) und die Würde gelten jedem Menschen.
  • Christologisch: Das Evangelium hat einen „supra-racial-character“, so der Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen in Sofia 1933, der sich damit gegen den deutschen Nationalsozialismus wendete. Rassismus ist Sünde, weil er die Erlösung aller Menschen durch Christus (Röm 3,10, Gal 3,26-28) verneint.
  • Ekklesiologisch: Die Kirche soll Vorbild für die Einheit der Menschheit und Vorreiter bei der Befreiung aus Unrechtsstrukturen sein.

Neueste Publikationen führen diese Argumentationen weiter.5

Kirchengeschichte bringt die notwendige Tiefenschärfe

Schon diese kirchenhistorischen Beispiele zeigen die für die Behandlung des Themas Rassismus notwendige Tiefenschärfe. Dabei muss ein Religionsunterricht mit kirchenhistorischen Aspekten immer einen gewissen Widerstand bei Schüler*innen überwinden, sind sie doch von sich aus zunächst nicht übermäßig daran interessiert. Das ist auch verständlich, denn sie haben selbst noch kaum Vergangenheit, sie leben im Hier und Jetzt, sie sind an ihren Freunden, ihrer Clique und an ihrer Zukunft interessiert. Warum sollen sie sich beschäftigen mit dem, was vor fast hundert Jahren passiert ist? Sie erfahren eine tiefe Kluft zwischen „Ich – Hier“ und „Damals – Andere“. Für sie gilt insbesondere die Feststellung von Rüdiger Safranski: „Wer so viel in der Breite kommunizieren muss, wie der Zeitgenosse von heute – der Ewigheutige also –, der hat kaum noch Aufmerksamkeit über die Gegenwart hinaus.“6

Drei Typen Kirchengeschichtsdidaktik

Die Kirchengeschichtsdidaktik muss darum – salopp formuliert – die Frage nach dem „Was“ und „Wie“ auf eine derartige Weise beantworten, dass der Blick in die Geschichte für Schüler*innen relevant und interessant wird. Aus der Analyse der Didaktik der letzten 300 Jahren können induktiv drei Typen abgeleitet werden, mit denen das Interesse für die Kirchengeschichte geweckt wird.7 Diese drei Typen können als drei grundlegende (bzw. Prozess) Kompetenzen für den Umgang mit Kirchengeschichte im Religionsunterricht formuliert und hier auf das Thema Rassismus zugespitzt werden:

1. Traditionserschließend

Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde unter Einfluss der Aufklärung die Forderung laut, dass es in der Schule nicht länger „Katechese“ mit Bibel, Gesangbuch und Kleiner Katechismus geben sollte, sondern dass rational die „natürliche Religion“ des Kindes entfaltet werden musste. Nun entstand für das Fach der Name Religionsunterricht, und die Kirchengeschichte sollte das rationale Element in diesem Fach sein.8 Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gab es bei der Frage nach dem „Was“ fast nur eine Antwort: Die Schüler*innen brauchen einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Entwicklungen, Strukturen und Personen der Kirchengeschichte. Der Religionsunterricht kann sogar lange Zeit – vor allem, wenn man die Schulbücher analysiert – als „geschichtlicher Religionsunterricht“ bezeichnet werden. Methodisch herrschte die Geschichtserzählung vor, unterstützt mit Bildern und aktualisierenden Schülerfragen. Als Kompetenz formuliert:

Die Schüler*innen können die Kirche und das Christentum und die auch vom Christentum geprägte Kultur und Tradition als eine gewordene und veränderbare wahrnehmen und deuten. Hier: die Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus und der Umgang in der Ökumene mit Rassismus.

2. Biografisch

Die an Personen und Biografien orientierte Kirchengeschichtsdidaktik. Sie kommt ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf und beschreibt Personen in sog. „Lebensbildern“. In den 1950er- und 1960er-Jahren ging es dabei um die Vermittlung von Glaubensbeispielen (exempla fidei). Biografien gelten als eine wichtige Quelle für die Identitätsbildung junger Menschen.9  Als Kompetenz formuliert:

Die Schüler*innen können sich mit Personen aus der Vergangenheit des Christentums auseinandersetzen, diese Begegnung reflektieren und zur Gestaltung ihres Christseins in Beziehung setzen. Hier: historische Personen aus der Ev. Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus.

3. Ethisch

Vor allem in den 1970er-Jahren wurden aktuelle ethische und politische Probleme wie Frieden, Dritte Welt, Mann-Frau usw. im Religionsunterricht vorrangig. Mit historischen Beispielen konnten Analogien und Parallelen gezogen werden. Als Kompetenz formuliert:

Die Schüler*innen können die ethischen Themen und Fragen, vor die Christ*innen in der Vergangenheit gestellt wurden, wahrnehmen und das Handeln sowohl als zeitbedingt wie auch als mögliche Optionen beurteilen. Hier: die Rassenlehre der NSDAP und der aktuelle Rassismus, insbesondere in den Positionen der AfD.

Wenn in einer Unterrichtsreihe kirchengeschichtliche Aspekte eingefügt werden, muss die Brücke zwischen „Heute und Gestern“ in zwei Richtungen geschlagen werden. Von heute nach gestern: Auf Basis einer aktuellen Frage (hier nach Rassismus) kann nach Beispielen in der Vergangenheit gesucht werden. Von gestern nach heute: Die Historie sollte nicht auf die Funktion eines Beispielarsenals für aktuelle ethische Fragen reduziert werden. Auf Basis der Quellen kann Vergangenheit sichtbar gemacht werden, aber sie ist immer auch anders als heute. Und die Quellen setzen eine Grenze zu dem, was rekonstruiert und aktualisiert werden kann. Tiefenschärfe kann erst erreicht werden, wenn der historische Kontext breiter erschlossen wird – Relevanz erst, wenn die aktuellen Fragen nicht aus dem Blick geraten.

Drei Doppelstunden in Klasse 9/10

Im Jahr 2022 habe ich einen ausführlichen Unterrichtsentwurf zum Thema „Neuer und Alter Rassismus“ dargelegt.10  Diese Unterrichtsreihe für die Oberstufe, die digital zur Verfügung steht, umfasst zwölf Doppelstunden und zehn Materialseiten. Der historische Bezug wird zu Personen aus der Evangelischen Jugend in der Ev. Kirche Nassau-Hessen in den 1930er-Jahren gelegt. Die ausführliche Einleitung, der Unterrichtsentwurf und drei Materialseiten sind auch in Buchform erschienen.11  Im vorliegenden Beitrag habe ich Elemente aus dem Entwurf zu drei Doppelstunden für Klasse 9/10 umgearbeitet und aktualisiert.

Erste Doppelstunde

In der ersten Doppelstunde spielen die Schüler*innen das Rollenspiel „Privilegien. Wer darf einen Schritt nach vorne gehen?“ Im obengenannten digitalen UnterrichtsEntwurf ist dies M 1 12. Nach der Auswertung des Rollenspiels folgt ein Unterrichtsgespräch über die Frage, was Rassismus eigentlich ist. Damit können die Ergebnisse sowohl differenziert als gesichert werden (M 2 13 ).

Zweite Doppelstunde

In der zweiten Doppelstunde wird die Brücke zur Geschichte geschlagen. Wenn die Klasse im Geschichtsunterricht die Entstehung der Rassenlehre der NSDAP noch nicht besprochen hat, kann M 6 14 , aus dem Entwurf hilfreich sein. Die Hauptlinien können allerdings auch in einem Lehrer*innenvortrag dargelegt werden.

Hauptthema der Doppelstunde ist die biografische Arbeit in Dreiergruppen zu den Grenzen und Möglichkeiten für das Handeln von fünf Christ*innen in der Zeit des Nationalismus. Statt einer freiheitlichen Demokratie gab es eine Diktatur mit staatlich verordneten Ausgrenzungsmechanismen, die sich gegen Juden, Sinti & Roma, Homosexuelle, Pazifisten, international und ökumenisch orientierte Christ*innen, Zeugen Jehovas usw. richteten.

Die Gruppen bekommen je eine Informationsseite über eine Person und erstellen je ein Plakat für eine Ausstellung über die fünf Personen. Die fünf sind:

  • der Ökumeniker Dietrich Bonhoeffer,
  • die junge Pfarrvikarin Katharina Staritz, die Juden half,
  • der Pazifist Hermann Stöhr,
  • die Gemeindehelferin Luise Willig,
  • der Leiter des Evangelischen Jugendwerks Paul Both, der nationalsozialistisch orientiert war.15

Nach der Präsentation der Ausstellungsplakate wird die Frage nach der theologischen und ethischen Begründung des jeweiligen Handelns diskutiert.

Dritte Doppelstunde

In der dritten Doppelstunde wird wieder die Brücke zu heute begangen. In einem kurzen Unterrichtsimpuls können die Begründungen für den Umgang mit Rassismus aus christlicher Sicht aus der vorhergehenden Stunde wiederholt und erweitert (siehe oben) werden. Mit M 11 16  folgt dann der Auftrag, um in Kleingruppen über Banner und Plakate für mögliche Demonstrationen ins Gespräch zu kommen. Wichtig ist es, sich am Ende der Doppelstunde in der Klasse über die Plakate bzw. über die Argumente auszutauschen und ein Fazit zu ziehen.

Anmerkungen

  1. Naika Foroutan und Frank Kalter vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. https://kurzlinks.de/x0gr (25.05.2024).
  2. Thomas Schlag: Rassismus. WiReLex 2019. https://kurzlinks.de/9ysb(25.05.2024); Joachim Willems: Diskriminierung/ Rassismus; in: Hendrik Simojoki u.a.: Ethische Kernthemen, Göttingen 2022; Netzwerk www.narrt.de; „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.” U-Reihe „Migration” Ev. Akademie Berlin, www.eaberlin.de.
  3. Markus Zehnder: Fremder (AT), WiBiLex 2009. https://kurzlinks.de/sdcm; Hans Bietenhard in: Lothar Coenen: Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. 2. Auf., Wuppertal 1979, 317-379.
  4. Wolfram Stierle (Hg.): Ethik für das Leben. 100 Jahre Ökumenische Wirtschafts- und Sozialethik, Rothenburg o.d.T. 1996.
  5. Dominik Gautier: Auf der Suche nach einer rassismuskritischen Theologie in Deutschland. Zur Präsenz der „Black Theology“ in den Arbeiten Jürgen Moltmanns, Ökum. Rundschau 3/2020; Marita Wagner: Die Geschichte des „rassistischen Albtraums“, in: Lebendige Seelsorge 1/2021, 2-6. EKD 2024. https://kurzlinks.de/altv.
  6. Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015, 51.
  7. Ein ausführlicher historischer Überblick in: Harmjan Dam, Evangelische Kirchengeschichtsdidaktik – Entwicklung und Konzeption, Leipzig 2022.
  8. Harmjan Dam / Laura Weidlich: Arbeitsbuch Historische Religionspädagogik. Eine Geschichte der Didaktik des christlichen Religionsunterrichts, Stuttgart 2023.
  9. Vgl. Konstantin Lindner: In Kirchengeschichte verstrickt. Zur Bedeutung biografischer Zugänge für die Thematisierung kirchengeschichtlicher Inhalte im Religionsunterricht, Göttingen 2007.
  10. Digital: RPI-Impulse https://kurzlinks.de/ttvh oder: https://kurzlinks.de/ckkk (25.05.2024)
  11. Harmjan Dam: Kirchengeschichte kompetenzorientiert unterrichten, Stuttgart 2023, 147-174.
  12. Im Buch 6.4 M 1, 168-171.
  13. Bzw. 6.4 M 2, 171.
  14. Bzw. 6.4. M 6, 173.
  15. Harmjan Dam / Katharina Kunter: Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts im Religionsunterricht. Basiswissen und Bausteine für die Klasse 8–13, Göttingen 2019, 15-24.
  16. Ist nicht in der Unterrichtsreihe aus 2022 (vgl. Fn 10) enthalten.