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Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Rezension

Das rote Paket
Eine Erzählung über das Schenken
Linda Wolfsgruber, Gino Alberti
Bohem Press. 2022, 32 Seiten
ISBN: ‎ 3855815143

Anna besucht in den Winterferien ihre Oma. Beim Einkaufen bemerken sie, dass niemand Zeit hat, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Die allein lebende Großmutter macht das nachdenklich – und kreativ. Sie bastelt ein Paket, in rotes Papier eingeschlagen, mit einer blauen Schleife umwickelt. Der Inhalt bleibt ein Geheimnis. Die dahinter liegende Idee wird am nächsten Morgen sichtbar. Sie treffen auf den Förster. Die Großmutter überreicht ihm das Paket, mit dem Hinweis, es nicht zu öffnen. Darin seien „Glück und Zufriedenheit“. Anna bemerkt, wie überrascht und erfreut der erst kürzlich ins Dorf gezogene Förster ist. Das geheimnisvolle Paket bleibt nicht lange beim Förster, denn er verschenkt es an den Schornsteinfeger. Von dort wandert es zur erkrankten Antonia und über eine Reihe von beglückt-beschenkten Besitzern gelangt es schließlich wieder zur Oma. Gerade zum richtigen Zeitpunkt, kurz bevor Anna wieder nach Hause fährt und die Oma darüber traurig ist.

Das Buch erzählt von der Wirkung des Schenkens.
Die Bilder sind voller idyllischer Motive. Eine verschneiter Dorfplatz. Die Großmutter im Schaukelstuhl. Eine Nachbarin des nachts mit einer Schlafmütze und Kerze. Im Kinderzimmer ein Hampelmann an der Wand. Die Bilder erinnern an naive Malerei und dürften im Kontrast zur Lebenswirklichkeit der heutigen Leser*innen stehen. Die warmen Farben und die einzelnen Motive kann man als ruhig und unaufgeregt wahrnehmen – oder als etwas zu statisch.

Die Leitidee bleibt anregend: Worum es beim Schenken vor allem geht, ist die Aufmerksamkeit füreinander. Die Überraschung und Freude bei der Übergabe des roten Pakets zeigen, wie wertvoll die Geste der Anerkennung ist – und wie wirkmächtig diese Geste der Wertschätzung sein kann. Aufmerksamkeit und Anerkennung sind Grundbedürfnisse von Kindern und Erwachsenen und zugleich die wichtigste Währung für ein Miteinander. Sie lassen sich weitergeben, ohne weniger zu werden. Sie verändern – für einen Moment zumindest – die Situation von Menschen. Sie lassen sie aufleben. Sie können trösten. Sie können Mitgefühl erlebbar machen und dies auf Augenhöhe.

Wie das geschieht, bleibt auch im Buch ein Geheimnis. Alle halten sich an die Regel, keine*r wirft einen Blick ins Paket. Alle geben es weiter.  Und bieten damit reichlich Anlässe für Gespräche zum Buch und zum geheimnisvollen Paket.

Was Kinder mit diesem Buch erleben können
Die Gespräche könnten beginnen mit den Beobachtungen zu den einzelnen Personen. Wie das Paket jeweils auf sie wirkt. Wie es ihnen vorher und nachher geht. Was sie wohl denken und fühlen könnten. Und woran es liegen kann, wenn es ihnen hinterher besser geht.
Welche Rolle spielt dabei wohl die Regel, nicht hineinzuschauen. Was würde passieren, wenn man es doch machte? Ist etwas im Paket? Ist es leer?
Ist das Wichtigste das, was im Paket ist? Oder ist das Überreichen das Entscheidende?

Wenn es um Glück und Zufriedenheit geht: Woran kann am dies erkennen?
Kann man ‚Glück‘ sehen? Ist Glück für alle dasselbe? Und schön wäre man bei Glücksmomenten oder -erfahrungen, die zum Erzählen inspirieren.

Interessant ist es auch, sich selbst in die Geschichte zu denken. Von Geschenken zu erzählen, über die man sich richtig gefreut hat. Oder von Erfahrungen, die enttäuscht haben. Als Gebende oder Beschenkte.
Je nach Jahreszeit, in der man das Buch liest, kommen unterschiedliche religiöse Anknüpfungspunkte hinzu. In der Zeit vor und nach Weihnachten wird das Schenken anders wahrgenommen als vor Ostern oder im Hochsommer. Die Frage, was alles ein Geschenk sein kann, lässt sich auch mit (biblischen) Schöpfungsgeschichten oder mit Freundschaftsgeschichten weiter nachgehen.

Was im Buch mitschwingt und was mir gut gefällt: Es ist ein Buch übers Schenken und zugleich ein Buch, um sich selbst aus Einsamkeit und Schwierigkeiten zu befreien. Die Großmutter, die – so ahnen wir – manchmal unter ihrem Alleinsein leidet, lamentiert nicht über Hektik, den Mangel an Zeit, die Unfreundlichkeit der anderen. Sie ergreift die Initiative. Sie wird wirksam. Und wir Lesenden sehen, was möglich wird.

Das Buch kommt mit einem Umschlag, aus dem selbst ein (sehr) kleines rotes Paket gebastelt werden kann. Der Aufforderungscharakter wird deutlich. Auch darüber lohnen sich Gespräche. Wer weiß, auf welche anderen Ideen die Kinder kommen.

 

Gert Liebenehm-Degenhard