Rezension
Das Dings
Simon Puttock (Text), Daniel Engéus (Illustrationen), Fabienne Pfeiffer (Übersetzung)
Carlsen Verlag, 2023, 32 S.
ISBN: 978-3-551-52207-8
15,00 €
Ein großes faszinierendes Unbekanntes
Das Dings plumpst eine Tages vom Himmel, bewegt sich nicht und gibt keinen Mucks von sich. So beginnt die Begegnung mit einem geheimnisvollen unbekannten Wesen. Einige Tiere kommen vorbei und miteinander ins Gespräch über das fremde Dings. Sie treffen erste Vermutungen, was es ist oder tut, und tauschen sich über ihre Eindrücke aus: Ist es einsam oder einfach schön? Bemerkenswert ihr Entschluss: Sie leisten dem Dings Gesellschaft, übernachten neben ihm und versuchen in Kontakt zu kommen. Ohne Erfolg. Fasziniert vom seltsamen Dings wollen sie es schützen - und darüber nachdenken. Mittlerweile verbreitet sich die Information über das Dings, es wird zur Attraktion. Leute kommen, Geschäfte eröffnen rund um den Fundplatz. Karussels, Limonaden, Würstchen und Hamburger werden angeboten, Souvenirs vom Dings verkauft. Das Dings wird eine Medienereignis und weltweit berühmt. Für andere gehört dieses seltsame und unbegreifbare Wesen, das immer noch keinen Mucks gemacht hat, jedoch nicht hierher. Die Stimmung verschlechtert sich. In der Nacht schwebt das Dings davon. Der Rummel endet, das Interesse verschwindet, das Rätsel bleibt. Nur: die vier Tiere entdecken, dass sie vorher Fremde waren und durch die Begegnung mit dem Dings zu Freunden wurden. Eine Freundschaft, die bleibt.
Das macht das Buch besonders
Durch das ganze Buch hindurch bleibt das Dings ein Geheimnis. Es gibt keine Auflösung oder Erklärung. Und wir Leser*innen kommen wie die Tiere ins Nachdenken. Die Illustrationen zeigen uns eine große Kugel, mit zwei Fäden - oder Fühlern - und mit zwei weiteren Kugeln, die an Ohren erinnern. Oder an ein Raumschiff? Die mehrfarbigen konzentrischen Kreise auf den Kugeln erinnern an Schmetterlinge oder Augen? Allein das Äußere des Dings gibt Rätsel auf.
Das Buch beschreibt eine Dynamik, wie Menschen mit Rätseln umgehen. Zum einen die vier Freunde, die das Unbekannte bewahren - und verstehen wollen. Zum anderen die hinzuströmenden Zuschauer, die auf eine Sensation warten. Oder auf eine Offenbarung, für was das Dings zu gebrauchen ist. Und dann die, deren Erwartungen enttäuscht werden. Die Attraktion schlägt in Abwehr um. Und wir Leser*innen überlegen, wann uns das passiert. Wie gehen wir mit Erlebnissen oder Menschen um, die wir nicht wirklich begreifen oder analysieren oder die sich unserer Kontrolle entziehen? Die wir nicht 'im Griff haben'. Wie reagieren die Medien auf sensationelle Ereignisse?
Das Buch lässt sich auch als ein Gleichnis lesen. Was wäre, wenn wir das Dings als einen Platzhalter betrachten. Für ‚Dinge‘, die mal kommen und wieder gehen. Über die wir nicht bestimmen können. Wie "Glück" zum Beispiel. Oder Liebe. Auch sie bleiben Geheimnisse, die sich nie vollständig enträtseln oder erklären lassen. Sie lassen sich weder herbeizwingen noch festhalten. Zugleich lösen sie die Impulse aus, die wir auch im Buch sehen: Wir wollen diese Lebensgeheimnisse schützen und verstehen, auch wenn sie unverfügbar bleiben.
Oder was wäre, wenn wir anstelle des Dings an ein Kind denken, das für uns zugleich Geschenk und Herausforderung bleibt. Oder eine Familie, die ganz neu in unseren Ort gezogen ist.
Und wenn wir bei Gleichnis sind: Was die vier Freunde unternehmen, erinnert - im guten Sinn - an Religion. Das, was ihnen begegnet und sie staunen lässt, wollen sie bewahren. Sie versammeln sich, um es zu feiern und sich anregen zu lassen. Sie bauen keine Kirche, aber ein Schutzdach. Sie sind fasziniert von der Schönheit. Sie halten die Unverfügbarkeit aus. Sie spüren die verbindende Kraft. Aus Fremden werden Freunde.
Was Kinder mit diesem Buch erleben können
Das Buch bietet Gesprächsanlässe, um über eigene Rätsel und Geheimnisse ins Gespräch zu kommen.
Die Illustrationen mit ihren kräftigen Farben und wechselnden Perspektiven regen an, selbst Varianten von anderen "Dings" zu malen. Oder sich das Innere des Dings vorzustellen. Und natürlich sich über die Motive des Dings auszutauschen: Warum ist es wohl dort gelandet? Warum ist es weggeflogen und wohin? Was hätte es sich gewünscht? Was würde es den vier Freunden noch sagen?
Die Reaktionen der vier Freunde auf das Dings können zum Anstoß werden über eigene Erfahrungen zu sprechen. Begegnungen mit unbekannten Erlebnissen oder fremden Personen. Über die Faszination und Befürchtungen. Über Neugier und Zurückhaltung. Welche Überraschungen mögen wir und welche gefallen uns nicht. Und wie gehen wir jeweils damit um?
Das Dings konnten die Freunde nicht ganz verstehen und begreifen. Das führt zu Fragen, was sich ganz begreifen lässt, was man analysieren und kontrollieren kann - und was ein Geheimnis bleibt. Bis hin zu biblischen Gedanken: Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an. Oder: Du, Gott, verstehst meine Gedanken (Ps 139). Das Staunen über das Dings und das Staunen über die Schöpfung können zu Liedern und Gebeten werden.
So lässt sich eine Schatzkiste gestalten, in der Bilder oder Symbole gelegt werden für das, was für uns ein staunenswertes Geheimnis ist: Wertvoll und wichtig.
Gert Liebenehm-Degenhard