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Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Rezension

Alle reisen
Kristin Roskifte
Gerstenberg Verlag, 2024, 64 S.
ISBN: 978-3-8369-6240-7
20,00 €

Die Welt mit anderen Augen sehen
"Alle reisen" ist ein großartiges Such- Wimmel- und Entdeckungsbuch. Es könnte auch heißen "wir sind alle unterwegs", denn auf jeder Seite begegnen wir Personen, die in ihrem Leben unterwegs sind. Mal auf wirklichen Reisen, mal an Schauplätzen im Alltag, mal zu Orten ihrer Wünsche und Fantasien. Wir treffen auf Menschen in unterschiedlichen Situationen: zu Hause, in der Familie, an der Bushaltestelle, im Regenwald, im Krankenhaus, im Schwimmbad oder im Museum. Alle sind unterwegs. Und wir - merken wir - gehören dazu. Jede Seite spielt an einem Ort und birgt eine Fülle von Details, die sich zu entdecken lohnen. Und einige Suchhinweise, die uns die Personen näherbringen. Manche der Hinweise führen zu bestimmten Figuren, wie beim Familientreffen. Unter dem Familienbild findet sich der Hinweis: "Eine hat gerade etwas verloren" Nach angeregtem Betrachten erkennt man ein lachendes Mädchen, das eine Zahnlücke sichtbar werden lässt. Andere Hinweise führen zu anregenden Vermutungen, wie im Flugzeug. Wir sehen in die Reihen der Passagiere und lesen: "Eine besucht ihre Oma. Zwei fliegen zum ersten Mal. Vierzehn fliegen zum letzten Mal." Einige der Hinweise lassen sich erst im Laufe des Buches zuordnen, wenn wir die Personen an anderen Schauplätzen wieder erkennen.

Das macht dieses Buch besonders:
Kristin Roskifte hat ein faszinierendes Buchkonzept erschaffen. Es ist nicht nur ein Wimmelbuch, nicht nur ein Buch, das mit Zahlen spielt, nicht nur Rätselbuch, es ist auch ein Geschichtenbuch, weil immer wieder Personen in anderen Szenen auftauchen und wir ihnen auf ihrer Lebensreise zuschauen. So verbinden sich die Wimmelszenen und Zusammenhänge zeigen sich. Eine Person, der immer wieder auf sein Handy schaut und den wir später als Vater wieder entdecken. Ein Mann, der ein Schild mit dem Erdball trägt, immer wieder, auf vielen Seiten allein, bis er eine große Demo anführt. Oder der Mann am Bahnhof, auf dessen T-Shirt wir zunächst nur lesen "The BEST". Einige Seiten später im Krankenhaus, bei einer Untersuchung, wir auch den Rest lesen: THE BEST IS YET TO COME. Das gibt Hoffnung an einem Ort, an dem Hoffnung nötig ist.

Zur Faszination trägt die Gestaltung der großformatigen Bilder bei. Sie arbeiten mit viel weißem Raum, die Umgebung der Szene ist mit hellblauen Umrisszeichnungen präsent. Darin hinein sind die farbigen Figuren gezeichnet, die sich auf diese Weise abheben und gut betrachten lassen.
Die Anzahl der Personen steigert sich im Laufe des Buches. Von einer Person geht es über viele Schritte zu 100, 1000 bis hin zu einer grandiosen 10.000er Idee und endet bei den 8 Milliarden Erdbewohner*innen. Von einfachen überschaubaren Hintergründen bis hin zu komplexen Illustrationsgebilden.

Was Kinder mit diesem Buch erleben können
Eine besondere Stärke des Buches liegt darin, dass wir auf unterschiedlichen Ebenen im Buch unterwegs sein können. Auf einer ersten Entdeckungsebene, in dem wir Details auf einer Seite bestaunen. Auch der hellblaue Umrisshintergrund enthält grandiose Einzelheiten! Manche mit Augenzwinkern. Das Logo auf einem Computer bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen ist deutlich als Birne (!) zu erkennen.

Eine nächste Ebene bezieht die Vielzahl wiederkehrender Personen ein. An mehreren Orten tauchen z.B. schwarz-gelb geringelten Strümpfe auf, aber nicht die ganze Person (erst sehr viel später ist sie sichtbar). Im Anhang des Buches werden wir auf einige dieser Kombinationen aufmerksam gemacht. Die Autorin stellt den Leser*innen eine wunderbare Reihe von Entdeckungsaufgaben. Zum Beispiel die Segelschiffe zu finden oder mindestens ein Herz auf jeder Seite.

Das Buch lässt sich darüber hinaus auch als Geschichtenbuch lesen. Wir werden gefragt, was die Personen, die wir an diesem Schauplatz sehen, sich gerade wünschen. Wir tauchen damit in ihr Leben, in ihre Perspektiven. "14 fliegen zum letzten Mal" und schon überlegen wir, aus welchen Gründen, was die jeweiligen Menschen bewegt, was auf sie zukommen könnte. Ein inspirierender Impuls, genauer hinzuschauen. Die einzelne Person in der Menge wahrzunehmen. Dabei treffen wir bei der Fülle und Vielfalt der individuellen Personen auf Fragen, die Menschen teilen und auf Erfahrungen, die verbinden.
Das unterstreicht die Autorin durch eine weitere Ebene: Wir treffen auf 'Botschaften' oder Werte, die sich an unterschiedlichen Stellen platziert hat. "Die Welt mit anderen Augen sehen“: ein Plakat an einer Bushaltestelle. Buchtitel beim Literaturfestival: "Hoffnung." "Friede". "Neugier". Bei der großen Klimademo sehen wir alle Flaggen der Welt, aber niemand trägt die eigene Fahne. Oder beim 10.000er Volksfest: "Sie feiern, dass sie etwas Wichtiges erreicht haben, dass es Hoffnung gibt auf eine bessere Zukunft für die Menschheit und alles Leben auf der Erde".
Damit lässt sich das Buch auf unterschiedliche Weise einsetzen. Als Wimmelbuch, um Details zu finden, sich Zeit zu lassen, am Entdecken zu freuen und über Einzelheiten zu schmunzeln.

Als Perspektivenbuch: Um sich in Personen hineinzuversetzen. Gefühle und Gedanken zu formulieren. Unterschied und Gemeinsamkeiten zu finden und mit eigenen Erfahrungen zu verbinden.

Und als Anregung zum Philosophieren und Theologisieren.  Über Lieblingsszenen und eigene Wünsche und Hoffnungen.

Ein begeisterndes Buch mit einem schier unerschöpflichen Einfallsreichtum. Eintauchen und staunen!

Gert Liebenehm-Degenhard