Rezension
Nicht so fies, kleiner Tiger
Carol Roth (Text), Rashin (Illustrationen), Elisa Martins (Übersetzung)
NordSüd Verlag 2023,
ISBN: 978-3-314-10635-4
32 Seiten
Wie kann ein gutes Miteinander in der Kita gelingen? Wie können Kinder mit Konflikten und aggressivem Verhalten umgehen? Diesen Fragen begegnen wir mit dem kleinen Tiger, der gern in den Kindergarten geht[1]. Sein Verhalten jedoch erzeugt Schwierigkeiten: Er nimmt anderen Kindern/Tieren das Spielzeug weg, drängelt sich beim Rutschen vor, zerstört den Turm der Eule und beansprucht den Sandkasten nur für sich allein. So lange, bis er merkt, dass niemand mit ihm spielen will und sein Elan einer Traurigkeit weicht. In dieser Situation spricht ihn Frau Fuchs an, seine Erzieherin/Fachkraft, sie erkundigt sich, wie es ihm geht und gibt zwei Empfehlungen: Sei nicht so fies, kleiner Tiger. Und: Wenn du lieb zu den anderen bist, werden sie es auch zu dir sein. Nach kurzem Nachdenken ändert der kleine Tiger sein Verhalten. Er fragt, ob er mitspielen darf, lobt das Bauwerk, lässt anderen den Vortritt – mit dem Erfolg, dass die anderen mit ihm spielen und er am Ende – im Schlusskreis – seinen Platz in der Gruppe und seine Stimme findet.
Die Bilder sind in kräftigen Farben illustriert. Rot, weiß und ein frisches Türkis dominieren. Die Figuren erinnern an Kinderzeichnungen.
Es fällt nicht schwer, sich Kinder vorzustellen oder sich an Kinder zu erinnern, die ähnlich wie der kleine Tiger, Grenzen überschreiten und ihre Interessen gegen die Wünsche anderer Kinder durchsetzen und die Gruppe wie die Fachkräfte (und Eltern) vor wirkliche Herausforderungen stellen. Das Thema und die Entwicklungsaufgaben, die damit für die Kinder verbunden sind, spielen im Alltag eine wichtige Rolle.
In der Beschreibung des Alltags würden jedoch auch andere Seiten des kleinen Tigers sichtbar werden. Erkennbar würde, wann er dieses Verhalten zeigt, wann nicht oder weniger. Und die Frage wäre wichtig: Was zeigt er damit? Was braucht er, um seine Bedürfnisse und Gefühle auf andere Weise zu äußern? Wie reagieren die anderen Kinder/Tiere? Und was könnten sie beitragen, damit ein gutes Miteinander möglich wird. Im Buch bleibt der kleine Tiger zunächst eindimensional.
Die Lösungen, die das Buch erzählt, überzeugen nur teilweise. Frau Fuchs maßregelt ihn nicht, es gibt keine Sanktionen, sie bleibt in Beziehung. Ihre Aufmerksamkeit und das Ansprechen der Gefühle des kleinen Tigers lösen sein Nachdenken aus. Und sie nutzt als Empfehlung eine Version der „Goldenen Regel“, die Jesus im Matthäusevangelium als wichtigste Leitlinie ausgibt: Behandle die Menschen so, wie du behandelt werden möchtest.
Inwiefern Ihre Aussage „sei nicht so fies, kleiner Tiger“[2] als Belehrung verstanden wird, wäre mit Fachkräfte und Kindern zu diskutieren.
Erstaunlich ist der sofortige Umschwung im tigerlichen Verhalten. Selbstwirksam verändert der kleine Tiger seine Kontaktaufnahme. Erkennbar wird, was dieses neue Verhalten auslösen kann und den Kreislauf von Aggression und Ablehnung unterbricht. Als Leser verstehe ich: Es lohnt sich also. Eine weniger reibungslose und vollständige Kehrtwendung würde die Identifikation mit dem kleinen Tiger und die Glaubwürdigkeit erleichtern, damit auch Kinder, die ihr Verhalten (ab und an) ändern möchten, es ihnen aber nicht immer gelingt, ermutigt werden.
Wie wichtig eine immer wieder zu findende Balance von Eigeninteresse und Rücksicht ist, macht Kitas gerade zu unschätzbaren Lernorten. Bilderbücher zu Werten wie Gemeinsinn, Zusammenhalt und Konfliktfähigkeit werden darum gebraucht. Gern mit einem differenzierten und wertschätzenden Blick auf die Akteur*innen.
Gert Liebenehm-Degenhard