Rezension
Helmut Schirmer
Schule im Schatten der Kirche. Geistliche Schulaufsicht und Religionsunterricht in der evangelischen Volksschule in Oldenburg 1850 – 1925
Reihe Oldenburger Studien, Band 100
Verlag Isensee
Oldenburg 2022
ISBN 978-3-7308-1939-5
221 Seiten, 16,90 €
Zu den Spezialgebieten von Helmut Schirmer zählt das Erforschen der Geschichte der evangelischen Volksschule mit dem Religionsunterricht im bikonfessionellen Großherzogtum Oldenburg und in der NS-Zeit. Seine neueste Studie gilt der Geistlichen Schulaufsicht mit vier Teilthemen.
(1) Die lokale Geistliche Aufsicht über die Volksschulen mit zwei bis vier jährlichen unangemeldeten Inspektionen durch Ortsgeistliche. Hier standen kirchliche Interessen im Zentrum, nicht Belange der Pädagogik und die Selbständigkeit der Schule. Unter diesem kirchlichen Druck litten viele bis zur „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirche im Jahre 1918.
(2) Ein gestörtes Verhältnis zwischen der zumeist liberalen Volksschullehrerschaft und der strenggläubigen neulutherischen Orthodoxie vieler Pfarrer, was zu einer „Maulkorbstimmung“ (127) unter den Lehrern führte. Im Oldenburger Schulkampf führten einige herausragende Persönlichkeiten das Wort wie der Rektor und Publizist Georg Ruseler (1866-1920) und der Vorsitzende des Oldenburgischen Lehrervereins Wilhelm Schwecke (1855-1949). Ihnen ging es um die Unabhängigkeit der Schule von der Kirche. Dafür setzten sich am Reformationstag 1908 ca. 700 Lehrkräfte „einstimmig ohne Debatte“ (123) ein.
(3) Damals war der tägliche konfessionelle Religionsunterricht das Hauptfach; die anderen Fächer wie Rechnen und Deutsch galten als zweitrangig. Im RU wurde seit 1859 bzw. 1902 vor allem Luthers Kleiner Katechismus (Schwerpunkt: Dekalog und Credo mit Erklärungen) gepaukt, außerdem 70 Choräle und 75 bis 94 Bibelsprüche sowie drei Psalmen im Sinne der preußischen Stiehlschen Regulative (1854-72).
(4) Außerdem werden führende Kontrahenten im Schulkampf wie z.B. kirchlicherseits Gottfried Ramsauer (1827-1904) und Hermann Goens (1863-1946) sowie Gerhard Lüschen (1844-1919), Wilhelm Schwecke und Georg Ruseler als Lehrer (109 mit Fotos) vorgestellt.
Diese Konflikte sind im Kontext des Wandels vom Agrarland mit wenig gegliederten Dorfschulen in oft zu kleinen Räumen für bis zu 80 Kindern hin zur Industrialisierung mit deutlicher Zunahme der Kinderzahlen, dem Ausbau städtischer Volksschulen und der zu geringen Lehrerbesoldung zu verstehen. Weiteres versuchte der Sachverständigenausschuss zu regeln, geführt von Dr. Heinrich Tilemann (1877-1956), Präsident des lutherischen Oberkirchenrates in Oldenburg.
Abschließend folgt ein kurzer Ausblick auf weitere Entwicklungen des Religionsunterrichts von der Christlichen Unterweisung bis zur Problem- und Schülerorientierung, zur konfessionellen Kooperation, zum Unterricht über „Werte und Normen“ und kurz zum jüdischen und islamischen Unterricht. Schirmers Ziel ist ein gemeinsamer Unterricht in Religion und Religionen weit über das Grundgesetz Art. 7,3 hinaus.
Schirmer hat ein wenig erforschtes, dunkles Kapitel der Kirchen- und Schulgeschichte akribisch recherchiert und als sozialhistorische Studie nach meinem Urteil überzeugend gestaltet.
Christine Reents