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Bild: Rainer Sturm  / pixelio.de

Rezension

Vera Uppenkamp
Kinderarmut und Religionsunterricht
Armutssensibilität als religionspädagogische Herausforderung
Reihe Religionspädagogik innovativ, Band 42
Kohlhammer
Stuttgart 2021, ISBN 978-3-17-041060-2
433 Seiten, 49,00 €

Kinderarmut und Religionsunterricht

Diese Paderborner Dissertation von Vera Uppenkamp bearbeitet ein bislang religionsdidaktisch vernachlässigtes Thema. Ziel der Untersuchung ist es, „zu einem sensiblen und diskriminierungspräventiven Arbeiten mit sozioökonomisch unterschiedlich privilegierten und benachteiligten Schüler*innen im Religionsunterricht beizutragen“ (21).

Sorgfältig nimmt die Autorin notwendige Begriffsklärungen vor und fasst den Forschungsstand zur Bildungsbenachteiligung aufgrund sozialer Herkunft sowie zu Kinderarmut im Kontext schulischer Religionspädagogik präzise zusammen. Anknüpfend an die Untersuchungen von David Käbisch (2015) und von Daniel Arnhold (2017), in der Lehrkräfte beklagten, dass Armutserfahrungen der Schüler*innen selten in den Religionsunterricht einbezogen würden, was im Gegensatz zum postulierten Lebensweltbezug stehe, begründet Uppenkamp die Relevanz der Fragestellung. Anschließend entfaltet sie die Verantwortung der Religionspädagogik für Bildungsgerechtigkeit und kommt zu dem Schluss, dass sie zu Teilhabegerechtigkeit für marginalisierte und benachteiligte Schüler*innen beitragen und deren Handlungsspielräume erweitern müsse. Wichtig seien auch intersektionale Perspektiven auf Armut (Gabriele Winkler, Nina Degele 2009), da zwischen den verschiedenen Dimensionen von Heterogenität – beispielsweise zwischen Armut und Geschlecht – Wechselwirkungen bestehen und Privilegien Handlungsspielräume beeinflussen.

Bezugnehmend auf Thorsten Knauth unterstreicht die Autorin die Notwendigkeit, bei Lehrkräften eine Haltung anzubahnen, die „sensibel gegenüber Ausgrenzungsprozessen ist und wertschätzend gegenüber allen Versuchen der Lernenden, sich die Welt zu erschließen“ (77).
Nach einer gründlichen Auseinandersetzung mit der sozialwissenschaftlichen Perspektive Pierre Bourdieus, mit milieudifferenzierten und mit theologischen Perspektiven auf Armut, sind von der Autorin grundlegende Voraussetzungen für einen armutssensiblen Religionsunterricht gelegt. Sie schlussfolgert: Sozialgeschichtliche und befreiungstheologische Exegese seien notwendig, ohne dass in Zusammenhang mit Letzterer das Erbe jüdischen Gerechtigkeitsdenkens vergessen werden dürfe. Es gehe sowohl um ein Eintreten für sozial Benachteiligte als auch darum, sich für strukturelle Veränderungen einzusetzen. Mehrperspektivische Lesarten seien in der Auseinandersetzung mit biblischen Texten zu fördern (Wolfgang Stegemann 1981), und benachteiligte Menschen seien als Subjekte anzuerkennen, die „theologisch kompetent aus ihrer Perspektive kirchliches und gesellschaftliches Handeln kritisch anfragen und mitgestalten können“ (228). Die Autorin fordert mit Herbert Haslinger (2008), die Kontextualität ethischer Normen anzuerkennen. Unter Berücksichtigung ihrer Kontextualität seien sodann – auf der Basis von Gleichberechtigung, Autonomie und Solidarität – ethische Normen für gesellschaftliche Entwicklungen und für individuelle Optionen zu gewinnen. Solch ein Perspektivenwechsel ermögliche eine Entdiakonisierung, d.h. ein Solidaritätsverständnis, das sich nicht für arme Menschen einsetzt, sondern mit ihnen für strukturelle und individuelle Veränderungen wirkt.

Wie nehmen nun Lehrkräfte Kinderarmut wahr und wie gehen sie damit um? Dazu führt Uppenkamp mit zehn evangelischen Grundschullehrkräften eine qualitative Untersuchung nach Philipp A.E. Mayring (2010) durch, die sie wissenssoziologisch überzeugend verortet. Der vollständige Untersuchungsleitfaden befindet sich im Anhang des Buches. Ihre Ergebnisse gliedert Uppenkamp in folgende drei übergeordnete Punkte, die von ihr anschließend noch einmal untergliedert werden: Wahrnehmungen der Lehrkräfte von Kinderarmut, Bezüge zum Religionsunterricht und Umgang der Lehrkräfte mit Armut. Die Autorin wertet die Äußerungen der Lehrkräfte sorgfältig aus und diskutiert die Ergebnisse theoriegeleitet. Allein schon dieses Material ist für Lehramtsstudierende und Lehrkräfte eine Fundgrube, die dazu anregt, eigene Positionen dazu in Beziehung zu setzen und neue Sichtweisen zu gewinnen.

Uppenkamp stellt bei allen zehn Lehrkräften das Bemühen fest, die Schüler*innen zu stärken und Teilhabebarrieren abzumildern. Problematisch sei jedoch die Tendenz zur Reifizierung von Armut, die antiemanzipatorisch wirken könne. Damit arbeitet die Autorin einen wichtigen Aspekt heraus, der in konzeptionelle Überlegungen zu einem armutssensiblen Religionsunterricht einfließen muss. Dass Uppenkamp dies tut, wird in ihrem Schlusskapitel „Spannungsverhältnisse“ deutlich, in dem sie Herausforderungen diskutiert, die sich aus einem in befreiungstheologischer Perspektive gestalteten armutssensiblen Religionsunterricht ergeben. Um Reifiziering zu vermeiden, schlägt sie z.B. vor, nicht von einer Theologie der Armen zu sprechen, „die als scheinbar homogene Gruppe eine soziale Konstruktion ergeben. Stattdessen könnte die ebenfalls aus befreiungstheologischen Zusammenhängen bekannte Formulierung Theologie der Unterdrückten genutzt werden, da das Motiv der Unterdrückung das theologisch zentrale Motiv darstellt“ (380).

Nach diesem Sprung ins Schlusskapitel nun noch einmal zurück: Auf die Ergebnisse der qualitativen Untersuchungen folgen facettenreiche konzeptionelle Überlegungen der Autorin für einen armutssensiblen Religionsunterricht. Sie gipfeln in einem Schaubild, das, anknüpfend an das trilemmatische Inklusionsmodell von Mai-Anh Boeger (2019), Bausteine für den Religionsunterricht gebündelt veranschaulicht. Diese bauen auf einer mehrdimensionalen Wahrnehmung von Armut, kontextuell-kritischer Selbstreflexivität von Lehrkräften sowie Erfahrungs- und Subjektorientierung auf. Wichtige Aspekte wie z.B. heterogenitätssensible Begleitung in der Identitätsbildung, Milieusensibilität oder hermeneutische Offenheit werden von Uppenkamp dort in ihrem Verhältnis zu den didaktischen Kategorien „Empowerment, Normalisierung und Dekonstruktion“ angeordnet (376).

Die tiefgründige Reflexion im Schlusskapitel „Spannungsverhältnisse“ zeugt von einem hohen Problembewusstsein der Autorin und von deren Bereitschaft, eigene Folgerungen offen für neue Sichtweisen zu halten und daran weiterzudenken. Das kleinschrittige Inhaltsverzeichnis macht den roten Faden dieser Untersuchung gut nachvollziehbar und ermöglicht einen schnellen Zugriff zu einzelnen Aspekten.

Insgesamt ist diese gut lesbare Arbeit ein wichtiger Beitrag zu einem zentralen religionspädagogischen Thema, das bis heute nichts von seiner Relevanz eingebüßt hat. Es ist zu wünschen, dass Lehrkräfte, Studierende, Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst, Ausbilder*innen und Wissenschaftler*innen sich mit deren Ergebnissen auseinandersetzen und sowohl wissenschaftlich als auch unterrichtspraktisch an solchen Fragen weiterarbeiten.

Christine Lehmann