Carsten Jochum-Bortfeld: Paulus in Ephesus, Eine Expedition in die Entstehungszeit des Neuen Testaments, Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 2021, ISBN 978-3-579-07153-4, 272 Seiten, 22,00 €
Paulus in Ephesus.
Eine Expedition in die Entstehungszeit des Neuen Testaments
Carsten Jochum-Bortfeld nimmt seine Leser*innen in seinem Buch „Paulus in Ephesus“ mit auf eine Entdeckungsreise ins antike Ephesus. Er begleitet Paulus und seine Gefährt*innen dabei, wie sie die Stadt erkunden und sich in der Werkstatt von Aquila und Priska niederlassen. In Ephesus soll Paulus viele seiner Briefe verfasst haben; umso lohnender ist es, die Stadt kennenzulernen. In zwölf Kapiteln gewährt Jochum-Bortfeld Einblicke in eine Welt, die den Menschen des 21. Jahrhunderts sonst fremd bliebe. Dem Autor gelingt es, diese Fremdheit einerseits geschickt weiterhin aufrechtzuerhalten, indem er nicht von Christ*innen, sondern von Messiasleuten spricht. Andererseits zeigt er an ausgewählten Stellen der paulinischen Korrespondenz, wie die Äußerungen des Apostels vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realität seiner Zeit zu interpretieren sind, und verhindert so ein allzu leichtes Verstehen-Wollen vor den Voraussetzungen der eigenen Gegenwart.
Jochum-Bortfeld macht ernst mit der „New perspective on Paul“. So neu ist dieser Interpretationsansatz im Jahr 2021 zwar gar nicht mehr; dieses Buch jedoch ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie groß der Gewinn für die Interpretation paulinischer Texte sein kann, wenn die „New perspective on Paul“ konsequent angewendet wird. So haben laut Jochum-Bortfeld Generationen von Neutestamentler*innen den im Galaterbrief geschilderten Konflikt als Debatte um die Heilsrelevanz der Beschneidung verstanden – und damit zutiefst missverstanden. Dahinter stehe vielmehr die Sorge der jüdischen Gemeinden, durch die aufmüpfigen Messiasleute, deren Trennung vom Judentum noch nicht vollzogen war und die durch ihre Botschaft vom hingerichteten Staatsfeind Jesus Unruhe stifteten, die römische Staatsmacht gegen sich aufzubringen. Dies zu verhindern, sei aus Sicht der jüdischen Bevölkerung überlebensnotwendig und nur durch Reglementierung möglich gewesen. In der Tat: eine interessante neue Perspektive auf einen alten Konflikt.
Es gelingt dem Autor hervorragend, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie es gewesen sein muss, im 1. Jh. n. Chr. in Ephesus zu leben – und zwar nicht in einem der luxuriösen Hanghäuser, die heute noch zu besichtigen sind, sondern in den Mietskasernen, die eng und dunkel waren und in der sich Familien oft einen Raum teilten. Mehr als 90 % aller Menschen waren arm, wenn auch in graduellen Abstufungen. Die Messiasleute gehörten dazu. Für sie alle war die Gefahr eines Absturzes stets präsent; institutionelle Absicherungen gab es nicht, Rücklagen hatte man nicht. Und da wirbt Paulus für seine Kollekte (2 Kor 8f): Nicht auf die Reichen sollen die Gemeinden hoffen, sondern auf wechselseitige Solidarität der Armen.
Paulus war wahrlich kein Sozialrevolutionär, doch zeigt Jochum-Bortfeld, wie seine Botschaft innerhalb der in der Antike geltenden Wertmaßstäbe neue Akzente setzte. So sei das Abendmahl eine Gegeninszenierung zu antiken Kulten. Diese dienten zur Demonstration von Reichtum und Macht, in der Jesusgemeinschaft hingegen seien alle Körperteile gleich wertvoll (1 Kor 12). In einer Gesellschaft, in der zweite Sieger bei Wettkämpfen oft nicht einmal mehr einen Preis erhielten, muss die paulinische Botschaft von der Verehrung eines Gekreuzigten tatsächlich wie Sprengstoff gewirkt haben.
Dieses Buch zu lesen ist ein Genuss, der nur durch die Tippfehler getrübt wird. Schade ist auch, dass der Autor auf ein Sachregister verzichtet. Und auch das Narrativ rund um Paulus, das jeweils zum Beginn der Kapitel kurz eingebracht wird, bleibt gekünstelt. Allerdings stört es auch nicht. Die Stärke dieses Buches liegt woanders: in sorgfältiger Recherche, profunder Sachkenntnis, provokanten Thesen und einem Stil, der einen mitnimmt auf diese Expedition.
Michaela Veit-Engelmann