Rainer Möller, Clauß Peter Sajak (Hg.)
Religionspädagogik für Erzieherinnen.
Ein ökumenisches Arbeitsbuch
Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2020
ISBN 978-3-17-036420-2
275 Seiten, EUR 27,00 €
Welche Kompetenzen benötigen Erzieherinnen für religiöse Bildung und Erziehung in Kitas? Und wie kann ein methodisch-didaktisches Konzept aussehen, das Fachkräfte in der Aus- und Fortbildung beim Erwerb und der Weiterentwicklung der Fähigkeiten unterstützt? An diesen Leitfragen orientiert sich das ökumenische Arbeitsbuch „Religionspädagogik für Erzieherinnen“.
Ein Team aus evangelischen und katholischen Religionspädagog*innen hat das bisherige Arbeitsbuch grundlegend überarbeitet. Vor dem Hintergrund religiöser Pluralität in den Kitas finden sich mehrere Beiträge einer muslimischen Religionspädagogin. Die Perspektiven von Menschen, die sich keiner Religion bzw. Konfession zugehörig fühlen, versucht der Band ebenfalls an einigen Stellen zu berücksichtigen.
Die fünf Kapitel des Arbeitsbuches nehmen die grundlegenden Kompetenzen auf, die Erzieherinnen für die religionspädagogische Praxis brauchen. Das erste Kapitel wendet sich der Berufsrolle der Erzieherin zu und beschreibt grundlegende theologisch-didaktische und personale Kompetenzen. Das zweite Kapitel „Kinder verstehen lernen“ geht vor allem auf die psychische, kognitive, moralische und religiöse Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ein. Unterschiedliche Stufenmodelle der Entwicklung werden vorgestellt. Nach dem Blick auf die ‚Akteur*innen‘ beschäftigt sich das dritte Kapitel mit „Religion und religiöser Identität in der modernen Gesellschaft“. Neben Klärungen zum Religionsbegriff und einer knappen Bestandsaufname der gesellschaftlichen Bedeutung von Religion skizziert das Kapitel Besonderheiten jugendlicher Religiosität. Hinweise zur religiösen Sozialisation führen schließlich zu einem der Kernanliegen des Bandes: die Erzieherinnen bei der Ausbildung einer eigenen religiösen Identität zu unterstützen, um die Persönlichkeit des*der Einzelnen zu stärken und vor abwertenden und ausgrenzenden religiösen Haltungen zu bewahren.
Das vierte zentrale Kapitel stellt die „konzeptionellen Grundlagen religionspädagogischer Arbeit“ vor. Die Aufgaben religiöser Bildung werden praxisnah erläutert und mit unterschiedlichen Konzeptionen ins Gespräch gebracht. Im Ergebnis wird ein Konzept vorgeschlagen, das religiöse Bildung als alltagsorientierten Bestandteil pädagogischen Wirkens versteht: Religiöse Bildung kommt nicht von außen oder nur in besonderen Angeboten bzw. Aktionen dazu, sondern scheint im alltäglichen Zusammenleben als eine Dimension auf, die den Kindern hilft, ihre Lebenssituationen zu verstehen und zu bewältigen. Ausgangspunkt sind jeweils die Erfahrungen der Kinder. Die Erzieherinnen haben die Aufgabe, diese religiöse Dimension wahrzunehmen und für diese Situation eine „religiöse Vertiefung“ zu ermöglichen und so die Kinder in ihrer religiösen Entwicklung zu begleiten. Mit diesem Ansatz verbindet der Band ein didaktisches Modell für den Unterricht und für Fortbildungen: Statt Themen oder Lernfelder zum Ausgangspunkt des Lernens zu machen, die im Nachhinein auf die Praxis bezogen werden, stehen ausgewählte Alltagssituationen im Fokus. In der Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung der Situationen sollen die (angehenden) Erzieherinnen die erforderlichen Kompetenzen erwerben und erweitern.
Fünf Alltagssituationen werden dazu exemplarisch vorgestellt, pädagogisch reflektiert und auf die tiefer liegende religiöse Dimension befragt: „Rund um das Mittagessen“. „Ein Konflikt unter Kindern entsteht“. „Ein Kind wird krank“. „Ramadan in der Kindertagesstätte“. „Wenn Armut sichtbar wird“. Jede Alltagssituation wird in einem einführenden Teil beschrieben und in einem zweiten Teil mit methodisch-didaktischen Impulsen versehen. Die Aufgaben und Diskussionsanregungen dienen als Anstöße für die weitere Bearbeitung im Unterricht der Fachschule und Fachhochschule bzw. in der Fortbildung.
Das fünfte Kapitel gibt Einblicke in sechs exemplarische Methoden, die in der religionspädagogischen Praxis eine wichtige Rolle spielen. Neben „Kindertheologie/Kinderphilosophie“ sind dies: „Musisch-ästhetische Zugänge“, „Rituale entwickeln und gestalten“ und „Übungen zur Stille und Achtsamkeit in der Kita“. Die beiden weiteren Methoden „Glaubensgeschichten erzählen und gestalten“ sowie „Religiöse Orte erkunden“ lassen in der Formulierung erahnen, dass der interreligiöse Aspekt mitgedacht werden soll.
Wie löst das Arbeitsbuch sein Vorhaben ein?
Der konzeptionelle Ansatz einer alltagsintegrierten religiösen Bildung knüpft an praxisbewährte Modelle an und ist sowohl überzeugend wie empfehlenswert. Dies gilt ebenso für das didaktische Vorgehen, an Alltagssituationen anzusetzen und sie im Unterricht bzw. in der Fortbildung pädagogisch und religionspädagogisch zu erschließen, um damit die Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen zu erweitern. Die Vertiefung der Situation mit einer religiösen Dimension wird in den reflektierten Alltagsituationen unterschiedlich eingelöst. Die Mittagessenssituation und die Überlegungen zur Feier des Ramadans in der Kita zeigen überzeugend auf, welche religiösen Bezüge im Alltag enthalten sind und wie sie praktisch eingebracht werden können. Das Kapitel zum Umgang mit Konflikten regt zu Nachfragen an: Inwiefern eignen sich die theologischen Kategorien von Umkehr, Schuld und Vergebung, um die ausgewählte Konfliktszene religiös zu erschließen, in der ein Krippenkind das Bauwerk von zwei Kindergartenkindern zum Einsturz bringt? Hier könnten auch andere religiöse Bezüge eingespielt werden, die die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder stärker berücksichtigen. Die Alltagssituation, dass ein Kind krank wird, in den Pool der Überlegungen zu nehmen (an Stelle des Umgangs mit Tod und Trauer), leuchtet sofort ein. Die pädagogische Beschreibung der Bedürfnisse dieses Kindes, der Erzieher*innen und der anderen Kinder in der Kita ermöglichen einen weiten Blick auf die Situation und Handlungsmöglichkeiten. Die religionspädagogische Vertiefung konzentriert sich jedoch auf den Begriff der Hoffnung und deutet nur an, dass es eine Reihe von biblischen Geschichten gibt, die Kinder bei der Bewältigung der Krankheitssituation unterstützen können, ohne dies zu vertiefen oder zu konkretisieren. Anregend wäre eine Diskussion, welche Geschichten und Identifikationsangebote rund um Heilung, Trost, Klage, Zweifel, Gottes Nähe/Ferne und Vertrauen geeignete Anstöße geben können. Der Abschnitt über das tatsächlich enorm wichtige und oft übergangene Problem der Armut von Kindern und Familien beschreibt differenziert und engagiert die Auswirkungen von Armut auf die Entwicklung von Kindern und die Herausforderungen armutssensibler Handlungsstrategien in der Kita. Überraschenderweise fehlt hier die religionspädagogische Vertiefung. Hier wären Impulse möglich, die an biblische Grundzüge einer Parteinahme Gottes für die Armen anknüpfen und mit Erfahrungen der Kinder ins Gespräch bringen.
Auch an anderen Stellen regt das Buch weiterführende (kontroverse) Diskussionen an. Das Kapitel zur religiösen Entwicklung der Kinder legt vor allem die Stufenmodelle zugrunde, obwohl die Beschreibungen der kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung für das Alter der Krippen- oder Kitakinder sehr schematisch und kaum differenziert sind und so wenig helfen, die unterschiedlichen Entwicklungsstände der Kinder angemessen wahrzunehmen und zu begleiten. Hier wäre ein Blick auf neuere Forschungen eine notwendige Ergänzung, die differenzierter beschreiben, welche Faktoren religiöses Denken und Fühlen im Kita-Alter beeinflussen und welche Handlungsmöglichkeiten sich daraus ergeben.
Bei der Einführung in die exemplarischen Methoden überzeugen besonders die Kindertheologie, die Glaubensgeschichten, die Rituale und die Übungen zur Achtsamkeit und Stille. Die Methoden werden in ihrer Vielfalt sichtbar und durch die Impulse für eine Bearbeitung in Aus- und Fortbildung praxisnah bearbeitbar.
Die Kommentare aus muslimischer Sicht sind eine erkennbare Bereicherung. Die ausgewählten Aspekte (u.a. zu den Speisegeboten, zum Erzählen von Glaubensgeschichten) bringen eine authentische Stimme ins Gespräch und weisen wiederholt darauf hin, neugierig wahrzunehmen, wie vielfältig muslimische Kinder und Familien die eigene Religion leben. Diese Perspektiven können darum ein hilfreicher Bestandteil für erforderliche konzeptionelle Überlegungen sein, wie eine kirchliche Kita religiöse Vielfalt leben kann. Da auch diese Fragen die Interessen des (kirchlichen) Trägers betreffen, wäre – wie im Vorläuferband – ein Kapitel zur Zusammenarbeit von Kita und Kirchengemeinde eine gute Möglichkeit, über Unterstützungssystem für die religionspädagogische Arbeit in der Kita nachzudenken.
Fazit: Das ökumenische Arbeitsbuch bietet für Lehrkräfte und Fortbildner*innen einen überzeugenden religionspädagogischen Ansatz sowie eine Reihe von einsetzbaren Impulsen für Lerngruppen. Zugleich fordert es heraus, Alltagssituationen religiös zu erschließen, bei denen das Buch selbst nicht alle Fragen beantwortet.
Gert Liebenehm-Degenhard