Religiöse Bildung im öffentlichen Raum ist unter modernen Bedingungen geradezu sachnotwendig strittig: Das post-aufklärerisch säkulare Mindset – sowohl der Gesellschaft als auch einer wachsender Zahl Einzelner – stellt ihren Sinn und ihre Berechtigung grundsätzlich in Frage. Die Pluralität der Religionen und ihrer Denominationen fordert ihre herkömmliche organisatorisch-didaktische Gestalt, etwa den (mono-)konfessionellen Religionsunterricht in der Schule, heraus und lässt nach Reichweite, Logik und Ziel religiöser Bildung im öffentlichen Raum fragen. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und ihrer ‚Systeme‘ gibt religiöser Bildung im öffentlichen Raum z.B. in Schule und Gemeinde unterschiedlichen Drive und verlangt zugleich, beide aufeinander zu beziehen – allein schon, weil es (z.T.) dieselben Menschen sind, die an beidem teilnehmen. Kurzum: Religiöse Bildung erfährt in der Moderne „Plausibilisierungsstress“ – und dies gegenwärtig in forcierter Weise.1
Das – hier in Anlehnung an 1. Kor 16,13 leicht modifizierte – Motto des 39. Kirchentages in Hannover 2025 kann in dieser Lage produktiv anregen: und zwar sowohl das religionspädagogische Nachdenken als auch den Kirchentag, seine Programmverantwortlichen und ihre Wahrnehmung von „Bildung“. Letzteres tut insofern not, als es auf Kirchentagen – wenn ich es richtig sehe – zuletzt kaum je prominent sichtbare Veranstaltungen zu Fragen von (religiöser) Bildung gab2 und es sie auch in Hannover wohl nicht geben wird.
Eine Blütenlese solcher doppelseitigen Anregungen folgt.
Impulse des Mottos für religiöse Bildungsarbeit
- Wachsam – sich neuen Aufgaben stellen
Der Plausibilisierungsstress für religiöse Bildung nimmt zu – das können wohl am ehesten diejenigen wahrnehmen und bestätigen, die in kritischem Umfeld für religiöse Bildung eintreten: Erzieher*innen, die sich für „interkulturell-interreligiös sensible Bildung in Kindertageseinrichtungen“ stark machen, obwohl es ‚einfacher‘ wäre, auf die Thematisierung mehrerer Religionen zu verzichten, weil die Anforderungen an Wissen, Takt und Metareflexivität hoch und der möglichen Konflikte viele sind.3 Religionslehrer*innen, die für transparent positionellen Religionsunterricht in ihrer Schule eintreten, obwohl es ‚einfacher‘ wäre, ein Fach für alle zu organisieren, das vor allem Ethik als den kleinsten gemeinsamen Nenner thematisiert.4 Fachleiter*innen und Hochschullehrer*innen, die im Studienseminar oder an der Universität mit ihrem theologisch grundierten Fach auf Befremden stoßen.5
Insofern erfordert das Eintreten für religiöse Bildung im öffentlichen Raum zusehends Mut – obschon nicht nur dieses Eintreten, sondern auch religiöse Bildung durch die sogenannte positive Religionsfreiheit (die in Art. 4 und 7 verankert ist) grundgesetzlich geschützt wird. Der Mut muss freilich einhergehen mit Kompetenz im je eigenen Feld und mit neuen Kommunikationswegen – denn in der Tat reicht es in neuen Konstellationen nicht aus, altbekannte Einsichten im gewohnten Sprachspiel zu wiederholen. Jedenfalls aber – und das ist durchaus neu – sind diejenigen, die Religion unterrichten, in wachsendem Maße auch Diskutanten für ihr Fach in der schulischen oder der lokalen Öffentlichkeit. Sie sind nicht mehr nur Expert*innen für Unterricht (und im Unterricht), sondern öffentliche Theolog*innen – das gilt es zu erkennen und mutig anzugehen.
- Stark – für das Eigene eintreten
Etliche der Kontroversen um religiöse Bildung kreisen im Kern um die Frage, ob weiterhin eigenes religiöses Commitment auf Seiten der Lehrenden erforderlich und gewünscht ist und auf Seiten der Lernenden angeregt werden soll, oder ob religiöse Bildung zukünftig möglichst im Modus der ‚Information über …‘ stattfinden sollte. Religionskunde, Religionswissenschaft und Lehr-Lern-Prozesse, bei denen es jeder bzw. jedem selbst überlassen bleibt, wie er oder sie sich entscheidet, finden derzeit in hohem Maße Akzeptanz6 – konfessioneller Religionsunterricht, Bezugnahme auf Theologie und ein Ringen um Wahrheit stehen unter dem Verdacht, einseitig, indoktrinär und intolerant zu sein.
In dieser Konstellation erfordert es Selbstvertrauen, für transparente Positionalität im Feld religiöser Bildung zu werben – sei es international im Konzert der vielen Länder, die sich wie bspw. England und Wales für einen pädagogisch verantworteten multifaith approach oder sogar für dessen Weiterentwicklung zu „religions & worldviews“ entscheiden, sei es hierzulande, wo es eine Tendenz innerhalb vieler Schulkollegien gibt, das komplexe und organisatorisch aufwändige Konstrukt aus „Werte und Normen“ und verschiedenen Religionsunterrichten zu Gunsten einfacher scheinender Lösungen einzuziehen. Es gilt insofern, zur eigenen Tradition religiöser Bildung zu stehen – nicht stur apologetisch, wohl aber darauf bestehend, dass das Commitment der Lehrenden und ihre reflektierte Positionalität zum fairen Ausweis der (unvermeidlich) eigenen Perspektive gehört, die allererst Identifikation und Auseinandersetzung anregt.7
- Beherzt – experimentierfreudig sein
Freilich: Man kann nur weitergeben, was man liebt. In Sachen Christentum geht es, wenn man es denn liebt, nicht (nur) um eine kognitiv anspruchsvolle und plausible Weltsicht. Es geht um eine Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten und zu deuten – in der Gemeinschaft derer, die das teilen, wenngleich womöglich biografisch, lokal und ggf. konfessionell anders gefärbt. Und diese Möglichkeit braucht eine Form, wenn sie denn stabilisierend, tragfähig und lebensfroh machend wirksam werden soll – in diesem Sinne fragt Fulbert Steffensky: „Gibt es geistliche Sitten, die uns in glanzloser Regelmäßigkeit vertraut machen mit der Schönheit unserer Tradition?“8
Die Frage nach Orten und Gestalten des Christ*inseins, nach einer verheißungsvollen Topologie und Morphologie dessen, wovon im Religionsunterricht die Rede ist, wenn es um das Christentum geht, verlangt dringend mehr Aufmerksamkeit, als eine bloße Fachdidaktik Religion, eine (einseitig) empirisch ausgerichtete und eine sich nicht als Theologie begreifende Religionspädagogik ihr widmen können.9 Sie müsste beherzter aufgegriffen werden.
Impulse des Mottos für die Programmatik des Kirchentages
- Wachsam – sich neuen Aufgaben stellen
Mit der Zukunft religiöser Bildung steht viel auf dem Spiel – jedenfalls für verfasste Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften und auch für „eine unabhängige [christliche] Laienbewegung“, wie es der Kirchentag ist.10 Sollte – um ein drastisches, aber mittelfristig keineswegs undenkbares Szenario aufzurufen – ein von den Religionsgemeinschaften mitverantworteter Religionsunterricht im Sinne von Art. 7.3 GG zugunsten anderer, vermutlich religionskundlich-ethischer Formate abgeschafft werden, verlöre bspw. die evangelische Kirche einen großen Teil ihrer Reichweite unter Kindern und Jugendlichen und eine wichtige religiöse Sozialisationsinstanz.11 Falls keine theologisch qualifizierten Religionslehrer*innen mehr benötigt würden, wären über kurz oder lang auch keine theologischen Institute – derzeit 32 allein auf evangelischer Seite – und wohl auch keine Fakultäten – derzeit 19 auf evangelischer Seite – mehr nötig und möglich: Die Religionslehrenden würden dann primär pädagogisch-religionswissenschaftlich qualifiziert; die bundesweite Zahl der derzeit mit dem Studienziel Pfarramt Theologie Studierenden könnte unschwer von zwei gut ausgestatteten Kirchlichen Hochschulen aufgenommen werden. Schließlich und vor allem aber schwände mit einem kirchlich mitverantworteten Religionsunterricht die äußere und die innere Notwendigkeit, die Vereinbarkeit von Glauben und Vernunft, religiöser und allgemeiner Bildung, Christ*insein und verantworteter Teilhabe an der Gesellschaft zu denken und unter Beweis zu stellen – ein Bestandteil der DNA reformatorischer Kirche und Theologie, bezeugt von Philipp Melanchthon über Friedrich Schleiermacher bis zu Rudolf Bultmann und darüber hinaus.
Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, gehört „religiöse Bildung“ als Zukunftsfrage auf die thematische Agenda des Kirchentags (genauso wie allgemeine Bildung, deren Zugänglichkeit und Outcome in Deutschland seit Jahren wenig überzeugend ausfällt).
- Stark – für das Eigene eintreten
Der Deutsche Evangelische Kirchentag, 1949 ins Leben gerufen, lässt sich von seinem Gründungsimpuls her durchaus als Bildungsbewegung charakterisieren – in seiner Grundordnung heißt es: Hier „feiern [sc. nach dem christlichen Glauben fragende Menschen] Gottesdienst, suchen ihren Glauben besser zu verstehen, lernen ihre Weltverantwortung und ihre ökumenische Verpflichtung sachgerechter wahrzunehmen, setzen sich für die Erneuerung ihrer Kirchen ein und unterstützen entsprechende Initiativen“.12 Traditionell wird berufstätigen Teilnehmenden dafür Bildungsurlaub gewährt, und „seit den 1990er Jahren“ wird der Kirchentag „zunehmend wichtig als Fortbildungs-Messe für kirchliche Mitarbeitende“13 , zu denen ja nicht zuletzt auch Erzieher*innen oder Religionslehrer*innen gehören. Wenn er Bildungsfragen thematisiert, entspricht der Kirchentag somit seinem Gründungsmotiv und seinem selbstgesetzten Auftrag.
Wenn Bildung in einer pluralen Gesellschaft über materiale und formale Bildung hinaus zunehmend metareflexive Momente einschließt, also etwa die Mittelreflexion, die „co-agency“14 und die Arbeit an der eigenen Bildungsbiografie15 , dann steht der Kirchentag gerade dann zu seinen Wurzeln, wenn er diese metareflexive Wende nachvollzieht – oder anders gesagt: wenn er die Teilnehmenden einlädt zu verstehen, wie sich „Bildung“ und das Verständnis von Bildung verändern und was das für sie als Christ*innen gleich welchen Lebensalters und welcher formalen Bildung impliziert. (Berufs-)Lebenslanges Lernen und Bildung im Digitalzeitalter gehören dafür ebenso auf die Agenda wie Krisen und Reformmodelle für religiöse Bildung in der Kindertagesstätte, im schulischen Religionsunterricht und in der Erwachsenenbildung – und zwar nicht, weil alle Christ*innen diesbezüglich professionelles Knowhow bräuchten, sondern weil in diesen modifizierten Bildungsformaten ja immer auch Kompetenzzumutungen an Menschen mitschwingen, die sich nicht (mehr) in formalen Bildungsinstitutionen bewegen.
- Beherzt – experimentierfreudig sein
Dieser letzte Gedanke gilt in hohem Maße für den Zusammenhang zwischen Religionsunterricht und Christ*insein. So hat sich in den letzten Jahren herauskristallisiert, dass Religionsunterricht eine inklusive, heterogenitäts- und pluralismusfreundliche Gestalt gewinnen und im Zuge dessen auf drei komplexe Befähigungen hinwirken sollte: auf die Fähigkeit, Glaubenspraktiken und -deutungen in der Begegnung mit sog. konfessionslosen bzw. religionskritischen Positionen, in der Begegnung mit einer Mehrzahl von Religionen, die nicht die eigene sind, und in der Begegnung mit Angehörigen verschiedener Strömungen bzw. Denominationen der eigenen Religion zu vertreten – was einschließt, den jeweiligen Unterschieden gerecht zu werden, Gemeinsamkeiten zu stärken und „Besonderes“ zu „bergen“.16 Das genau ist die Baustelle, an der die religiöse Elementarbildung ebenso arbeitet wie die Reformmodelle des Religionsunterrichts, sei es der Hamburger Weg17 , sei es der in Niedersachsen vorbereitete Christliche Religionsunterricht (CRU).18 Was für heranwachsende Kinder und Jugendliche als Horizont religiöser Bildung formuliert wird, beansprucht implizit Geltung für alle Christ*innen, die ihrem Glauben in unserem gesellschaftlichen Kontext eine tragfähige und überzeugende Gestalt geben wollen: Christlicher Glaube soll so gelebt und verstanden werden, dass er für Skeptiker*innen nachvollziehbar bleibt, dass er interreligiös tolerant, kooperationsbereit und streitbar auftritt, dass er ökumenisch orientiert ist und doch um das Besondere der eigenen konfessionellen, regionalen, biografischen Tradition weiß.
Wo, wenn nicht im Rahmen des Kirchentags, kann und muss das durchsichtig werden und auf seine Konsequenzen für die Gestalt von Gemeinden, Initiativgruppen und Kirche insgesamt hin bedacht werden?
Anmerkungen
- Domsgen/Witten, Plausibilisierungsstress.
- Zuletzt gab es beim 37. Kirchentag in Dortmund 2019 einen „Thementag Bildungsgerechtigkeit“.
- Mößle u.a., Übergänge.
- Vgl. Fuchs u.a., Religiöse Bildung.
- Zu dieser Thematik liegt keine empirische Ausleuchtung vor.
- Vgl. Alberts, Handbuch.
- Schröder, Religion unterrichten, 70f.
- Steffensky, Fragmente, 36.
- Vgl. Schröder, Christ:in-Sein, und Domsgen u.a., Christsein.
- https://www.kirchentag.de/ueberuns (13.08.2024).
- Dazu Kirchenamt, Wie hältst du’s mit der Kirche, 60-62 und XXX.
- Präambel der Grundordnung des DEKT i.d.F. von 2018 - https://static.kirchentag.de/... /ordnung_des_kirchentages_stand_2018_01.pdf (13.08.2024).
- Bubmann, Kirchentag als Bildungsangebot, 421.
- OECD, Lernkompass, 20 u.ö.
- EKD, Religiöse Bildungsbiografien ermöglichen.
- So Simojoki, Differenzkompetenz, 74.
- Bauer, Religionsunterricht für alle.
- Heinig u.a., Christlicher Religionsunterricht.
Literatur
- Alberts, Wanda u.a. (Hg.): Handbuch Religionskunde in Deutschland, Berlin u.a. 2023
- Bauer, Jochen: Religionsunterricht für alle. Eine multitheologische Fachdidaktik, Stuttgart 2019
- Bubmann, Peter: Der Kirchentag als Bildungsangebot, in: Gottfried Adam / Rainer Lachmann (Hg.) Neues Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen 2008, 413-424
- Domsgen, Michael / Witten, Ulrike (Hg.): Religionsunterricht im Plausibilisierungsstress: interdisziplinäre Perspektiven auf aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen, Bielefeld 2021
- Domsgen, Michael u.a. (Hg.): Christsein. Beiträge zur Morphologie und Topologie einer Lebensform, Leipzig 2024
- Monika, E. / Hohensee, Elisabeth / Schröder, Bernd /Stephan, Joana: Religionsbezogene Bildung in Niedersächsischen Schulen (ReBiNiS). Eine repräsentative empirische Untersuchung, Stuttgart 2023
- Heinig, Hans-Michael / Hense, Ansgar / Lindner, Konstantin / Simojoki, Henrik (Hg.): Christlicher Religionsunterricht (CRU). Rechtswissenschaftliche und theologisch-religionspädagogische Perspektiven auf ein Reformmodell in Niedersachsen, Tübingen 2024
- Kirchenamt der EKD (Hg.): Religiöse Bildungsbiografien ermöglichen. Eine Richtungsanzeige der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend für die vernetzende Steuerung evangelischer Bildung, Leipzig 2022
- Kirchenamt der EKD (Hg.): Wie hältst du’s mit der Kirche? […] Erste Ergebnisse der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, Leipzig 2023
- Mößle, Laura u.a. (Hg.): Übergänge in der Kita gestalten: Impulse für eine religionssensible und interreligiös reflektierte Praxis (IIBK 10), Münster u.a. 2023
- OECD Lernkompass 2030 – OECD-Projekt »Future of Education and Skills 2030«. Rahmenkonzept des Lernens, Gütersloh u.a. 2020
- Schröder, Bernd: Religionspädagogische Aufgaben angesichts des Wandels institutionellen Christentums, in: Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) 30 (2014): Religiöse Bildung in der Transformationskrise, 110-121
- Schröder, Bernd: Religionsunterricht im Plural – und doch vor gemeinsamen Herausforderungen, in: Theologische Literaturzeitschrift 146 (2021), 255-270
- Schröder, Bernd: Religion unterrichten, Göttingen 2022
- Schröder, Bernd: Religionspädagogische Ökumenik. Weltweites polyzentrisch-plurales Christentum als Bildungsreligion, Tübingen 2023
- Schröder, Bernd: Christ:in-Sein will gelernt sein, oder: Anmerkungen zur Bedeutung religiöser Bildung, in: rpi-Impulse Januar 2024, Marburg 2024, 1-7
- Simojoki, Henrik: Ökumenische Differenzkompetenz. Plädoyer für eine didaktische Kultur konfessioneller Kooperation im Religionsunterricht, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 67 (2015) 1, 68-78
- Steffensky, Fulbert: Fragmente der Hoffnung, Stuttgart 2019