„Als Kind habe ich meinem Großvater gedankt, dass wir katholisch sind.“

Nina Rothenbusch im Gespräch mit Christian Stückl, Spielleiter der Passionsspiele in Oberammergau

„Als Kind habe ich meinem Großvater gedankt, dass wir katholisch sind.“

Nina Rothenbusch im Gespräch mit Christian Stückl, Spielleiter der Passionsspiele in Oberammergau

Die Geschichte der Passionsspiele in Oberammergau ist lang und alt: Vor 400 Jahren wütete die Pest in vielen Teilen Europas, so auch in Oberammergau. Um dem Elend ein Ende zu setzen, beschlossen die Oberammergauer, ein Gelübde abzulegen. 1633 schworen sie, alle zehn Jahre das Leiden und Sterben Christi aufzuführen, sofern niemand mehr an der Pest stirbt. Das Dorf wurde erhört, und so spielten die Oberammergauer 1634 das erste Passionsspiel. Ihr Versprechen haben sie bis heute gehalten. Vom 14. Mai bis 2. Oktober 2022 gingen die 42. Passionsspiele erfolgreich über die Bühne, nachdem sie 2020 coronabedingt verschoben werden mussten.
Was bewegt den derzeitigen Spielleiter Christian Stückl dabei? Welche religiösen Motive spielen eine Rolle? Wir haben Christian Stückl zum digitalen Interview getroffen und ihn zu seiner Meinung nach der Beziehung von Religion und Theater gefragt.

 

Nina Rothenbusch: Wenn ich mir die Liste deiner Inszenierungen ansehe, dann finde ich viele große Erzählungen, politische und religiöse Themen, kantige Persönlichkeiten und auch viele biblische Charaktere. Was motiviert dich, wenn du z.B. die Passionsspiele oder Hiob inszenierst?
Christian Stückl: Zuerst einmal bin ich da als Kind schon hineingeflogen. Ich bin mit den großen Figuren Kaiphas, Pilatus, Judas aufgewachsen, seit ich bewindelt war. Bei uns in der Familie war der Vater bei der Passion Kaiphas, der Großvater war Kaiphas und als Kind dachte ich, das sei vererbbar und ich werde später selber einmal Kaiphas. Ich habe nie über Jesus nachgedacht, den fand ich eher langweilig als Bub. Da war der Kaiphas zweifelsfrei um ein Vielfaches spannender. Ich bin da also hineingewachsen.
Mit zwölf Jahren bin ich dann an das so genannte „Schwarzbuch“ gekommen. Das war eine Auflistung der Antisemitismen im Passionsspiel. Die habe ich gelesen und meinen Großvater gefragt, was Antisemitismus ist. Irgendwann wurde mir klar, er will nicht darüber reden, er geht dem Thema aus dem Weg. So habe ich angefangen, mich damit auseinanderzusetzen, und plötzlich war ich mittendrin. Als 14-Jähriger habe ich mich tatsächlich für einen Fachmann in Antisemitismusfragen gehalten.
Als ich dann selbst das erste Mal eine Rolle gespielt habe, habe ich gemerkt, dass es mir nicht reicht, nur zu spielen, sondern dass ich das Ganze gern in der Hand hätte, die ganze große Geschichte erzählen will. Mit 16 war mir klar, dass ich Regisseur werden möchte. Ich habe mir dann schon ganz früh vorgenommen, Passionsspielleiter zu werden. Mit 18 bin ich es noch nicht geworden, aber mit 24; da war ich dann der Leiter der Oberammergauer Festspiele.
Und so bin ich über die Zeit hineingewachsen in diese große Erzählung der Passion. Das Theater war meine Leidenschaft. Irgendwann war aber auch klar, dass ich einen Beruf brauche. Also habe ich erst Bildhauer gelernt. Das hat mir überhaupt keinen Spaß gemacht. Es hat mich immer mehr zum richtigen Theater, zum professionellen Theater gezogen, bis ich dann Regieassistent bei den Münchner Kammerspielen wurde. Da war ich umringt von großen Figuren und Wesen und musste mich mit dem Faust auseinandersetzen. Die Themen kamen einfach auf mich zu.
Ich glaube, bei mir ist das schon sehr speziell, dass ich so stark mit den religiösen Themen umgehe. Das kommt von der Herkunft aus Oberammergau. Beim großen Theater braucht man große Geschichten, und die kann man mit biblischen Figuren oder – im Münchner Volkstheater – mit den großen Figuren aus der Literatur erzählen.

Rothenbusch: Apropos religiöse Themen und Oberammergau: In einer Stückl-Dokumentation zu den Passionsspielen 2022 sagst du, dass der Gottesdienst eine Inszenierung ist. Ist das so?
Stückl: Absolut. Als Kind habe ich meinem Großvater immer gedankt, dass wir katholisch geworden sind und nicht evangelisch, wie meine Großmutter. Denn in meiner Wahrnehmung gingen euch Evangelischen die Kleider ab, der Weihrauch, die Fahnen, eigentlich alles. Ihr habt auf die ganze Inszenierung verzichtet, da ist nur das unattraktive schwarze Gewand mit zwei so Bäffchen dran.
Da war ich wirklich dankbar, denn wir haben diese theatralen Momente, mir hat genau das immer total Spaß gemacht.
Das Ganze ist eine Inszenierung. Jeder Gottesdienst ist eine Inszenierung. Wenn man mal die Jahrhunderte zurückgeht: Die Bischöfe und Priester wussten alle über solche Inszenierungen Bescheid, die wussten, wie man das macht. Nach der Reformation wollte die katholische Kirche sich dann größer zeigen und hat in der Gegenreformation die Fronleichnams-Prozessionen erfunden. Man hat alles dafür getan, um sich groß zu zeigen und eine große, gute Inszenierung vorzulegen, mit Musik, mit Gesängen, Hinknien und Aufstehen… alles ist durchgetaktet, inszeniert.
Man merkt, wenn die Inszenierung nicht gelungen ist, dann ist den Leuten langweilig. Die Leute bleiben dann vielleicht noch in der Kirche drin, aber sie sind nicht dran. Wir haben in Oberammergau auf eigenartige Weise sehr viele protestantische Besucher. Vermutlich haben sie Sehnsucht nach Bildern.

Rothenbusch: Gottesdienst als Inszenierung, die nur noch wenige mitnimmt? Wenn das so ist, was muss Kirche anders machen? Hast du eine Idee, Christian? Was würdest du reformieren?
Stückl: Ich habe manchmal das Gefühl, das eine solche Reformation zu spät kommt. Das ist schon vorbei – so ist zumindest mein Eindruck. Es ist ganz eigenartig: Wenn ich einen Shakespeare mache, dann muss ich mir die Sprache immer wieder heranziehen. Ich muss die Sprache für mich greifbar machen, für die Schauspieler und Zuschauer. Ich habe das Gefühl, ein solcher Prozess hat bei den Kirchen schon seit ewigen Zeiten nicht mehr stattgefunden. Das, was da vorne im Gottesdienst gesprochen wird, das, was da gemacht wird, das hat man nicht mehr an sich herangezogen. Es entsteht der Eindruck, man betet etwas herunter, ein bisschen wie ein Ritual, aber es wirkt sinnentleert.
Das merke ich zum einen daran, dass bei den zum Teil sehr jungen Darstellern und Hauptdarstellern der Passion – da ist dann mein Vater mit 80 der Älteste – bestimmte Begrifflichkeiten oder Aussagen überhaupt nicht mehr ankommen. Wenn ich z.B. sage: „Jesus ist für unsere Sünden gestorben“, dann fragen die mich: „Was das ist? Warum muss da einer für unsere Sünden sterben?“. Diese Begrifflichkeiten sind irgendwie sinnentleert. Ich habe das Gefühl, dass man genau da am meisten tun müsste. Heute schraubt man immer mehr an der Inszenierung rum, man findet neue Musik und so, aber das eigentlich Inhaltliche bleibt immer gleich. Wir haben den Zugang verloren. Wir müssen den Kern wieder suchen. Da habe ich das Gefühl, müsste man in der katholischen Kirche evangelischer werden – sich mehr aufs Evangelium zurückbeziehen und fragen: Was will der Text heute noch von uns? Was steckt da drin? Stattdessen streiten wir uns darum, ob Wiederverheiratete zur Kommunion zugelassen werden oder, ob Homosexuelle gottgewollt sind. Das schert den lieben Gott doch einen Scheißdreck. Wir müssen stattdessen lieber wieder – wenn wir es überhaupt noch schaffen können – an die Botschaft näher rankommen und die Botschaft neu erzählen.

Rothenbusch: Kann Kirche von Schauspielkunst etwas lernen? Dir gelingt es ja bei deinen Inszenierungen, die Leute ganz dicht an die Sache heranzuholen.
Stückl: Ja, aber ich merke auch, dass ich damit immer wieder in Konflikt mit der Kirche gerate. Irgendwann hat zum Beispiel einmal ein Theologieprofessor nach dem Passionsspiel zu mir gesagt: „Herr Stückl, Sie müssen vorsichtig sein, wenn sie so weitermachen mit der Vermenschlichung, dann haben wir am Ende nur einen Mohammed oder einen Mose, nicht mehr den Sohn Gottes. Sie müssen es schaffen, ihn als ´wahren Mensch` und ´wahren Gott` darzustellen“. Ihm habe ich geantwortet: „Wenn es mir gelingt, Jesus als wahren Menschen darzustellen, bin ich schon ganz schön weit.“ Wahrer Gott, das will ich gar nicht versuchen, das finde ich vermessen. Wenn ein 24-jähriger Oberammergauer Jesus spielt, dann will ich ihn dazu bringen, Menschlichkeit zu zeigen. Wenn er Göttlichkeit zeigen würde, dann mache ich einen arroganten Jesus, der da über die Bühne schleicht. Das geht nicht. Dem Theologen habe ich geantwortet, dass Jesus eben vielleicht auch nicht mehr als Mohammed oder Mose war. Denn im weitesten Sinne kann man doch sagen, dass wir alle Kinder Gottes sind, vielleicht ist Jesus auch nicht mehr. Aber damit eckst du natürlich an.

Rothenbusch: Bei den diesjährigen Passionsspielen in Oberammergau war der Jesus ziemlich aggressiv. So wütend habe ich Jesus noch nie gesehen. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht.
Stückl: Das ist ja so: Du wirst ja mit deinem Jesus alt. Ich habe ihn jetzt viermal mit fünf oder sechs unterschiedlichen Jesus-Darstellern inszeniert. Und ich erinnere mich noch gut an das erste Mal, da wollte ich einfach nur einen Revoluzzer, der jung und agil ist. Beim zweiten und noch stärker beim dritten Spiel habe ich gedacht, dass der überhaupt nie laut werden darf. Jesus muss leise sein, ganz konsequent seinen Weg gehen und darf keine Wut zeigen. Dieses Mal habe ich gedacht, vielleicht muss Jesus doch aggressiv werden? Vielleicht ist Jesus auf gewisse Weise auch eine gescheiterte Figur? Jemand, der an seinem eigenen Anspruch zerbricht und dafür ans Kreuz genagelt wird. Nicht, weil er für unsere Sünden leiden will, sondern weil er einen großen Anspruch hat, den die Menschen um ihn herum einfach nicht aushalten können.

Rothenbusch: Bei der Planung der Passionsspiele setzt du dich intensiv mit religiösen Traditionen, Themen und Haltungen auseinander. Das fließt in die Umsetzung ein. Dafür hast du etliche Auszeichnungen bekommen, in neuester Zeit gerade in Bezug auf den jüdisch-christlichen Dialog. Könnte man sagen, dass du eine radikal ökumenisch-interreligiöse Perspektive einnimmst?
Stückl: Ich bin in den 1970er-Jahren in einem kleinen Dorf groß geworden. In meiner Kindheit kam immer wieder das Wort Tradition. Tradition, Tradition.
Ich bin in einem Gasthof aufgewachsen. Jeden Sommer kam dorthin eine Familie aus Amerika zu Besuch. Die Mutter war Oberammergauerin, die nach Amerika ausgewandert und mit einem Amerikaner verheiratet war. Die beiden hatten einen schwarzen Adoptivsohn. Ich habe mich jeden Sommer auf den David gefreut, weil der so gut bayerisch gesprochen hat. Irgendwann habe ich ihn mit zum Schuhplattln genommen und irgendwer aus der Gruppe wollte wissen, was der „Neger“ da will. Meine Antwort war, dass das mein Freund, der David, ist. Ich habe das Problem nicht verstanden. Als sie dann sagten, den brauchen wir hier nicht, bin ich ganz entsetzt heim gegangen.
In unserem Gasthaus waren immer viele Gäste aus anderen Ländern. Darüber habe ich mich gefreut, das war normal. Diese Ausgrenzung, die ich da erlebt hab, habe ich schon ganz früh als etwas ganz Eigenartiges empfunden.
In dem Jahr, als ich Passionsspielleiter geworden bin, gab es drei Frauen, die seit 17 Jahren für Gleichberechtigung beim Bayerischen Verwaltungsgericht geklagt hatten. Meine Vorgänger hatten irgendwann eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass die Frauen nicht bei den Passionsspielen mitspielen dürfen. Ich hab dann aber entschieden, dass ich auch eine eidesstaatliche Erklärung abgebe, die sagt, dass ich die Frauen unterbringe. Wenn es soweit ist, dann bringe ich sie unter. Außerdem hab ich an diejenigen Oberammergauer gedacht, die aus der Kirche ausgetreten waren gedacht. Die durften nämlich auch nicht mehr mitspielen. Ich wollte aber, dass alle mitspielen können. Wir haben dann auch über Muslime gesprochen. Ja, klar spielen dann auch Muslime mit. Der Moslem, der seit über 20 Jahren im Dorf wohnt, der darf mitspielen.
Wenn man genau hinschaut, dann stecken Ausgrenzung und Antisemitismus aber nicht nur in solchen Dingen. All das findet sich auch in ganz anderen Bereichen. In unserem Köpfen stecken immer noch komische Sachen. Wenn ich auf evangelische Kirchentage gehe, bin ich zum Beispiel immer noch irritiert, wie viel Israelfeindlichkeit ich da entdecke. Das ist Antisemitismus. Und damit sollte man ganz schön vorsichtig sein. Das heißt ja nicht, dass man nicht Kritik an der Politik Netanjahus üben darf, das darf man auf jeden Fall. Aber wenn dann gesagt wird, man soll keine Sachen aus dem Westjordanland kaufen, das ist für mich fast wie: Kauft nicht bei Juden. Dieser Antisemitismus steckt immer noch bei uns in jeder Ecke. Ich find es wahnsinnig, dass wir heute das N-Wort nirgends mehr sagen, das ist richtig gut. Aber dass sie in Regensburg oder anderen Kirchen immer noch die Juden-Sau hängt, das ist Antisemitismus unter Denkmalschutz.
Ich fahr seit 30 Jahren nach Indien. Ich habe muslimische und hinduistische Freunde. Keine Kirche, keine Glaubensgemeinschaft, niemand kann sagen: Wir haben die Wahrheit. Wir können höchstens sagen: Wir alle sind auf der Suche nach der Wahrheit. Ich als Katholik und du als Protestantin – niemand von uns kann von sich sagen, ich habe die Wahrheit. So kann es auch kein Jude und kein Moslem sagen. Deswegen müssen wir uns gegenseitig akzeptieren und müssen wir uns irgendwie aushalten.

Rothenbusch: Es ist noch lange hin, ich weiß, aber – Passion 2030 – kannst du dazu schon was sagen?
Stückl: Ich habe das im Gemeinderat schon gesagt: Wenn sie mich nochmal fragen, mach ich es nochmal.

Rothenbusch: Und bekommen wir dann charakterlich einen anderen Jesus?
Stückl: Das kann ich jetzt noch nicht sagen, das kommt drauf an, in was für einem Geisteszustand ich dann bin.