Wer bin ich? – Haltungssache! Elemente des Darstellenden Spiels im Religionsunterricht

von Kerstin Hochartz

Anne, siebte Klasse, steht vor dem Spiegel und denkt: „Mit diesem Pickel auf der Nase kann ich auf gar keinen Fall heute zur Schule gehen.“ – Dorian, siebte Klasse, steht vor dem Spiegel und denkt: „Ich werde aber auch von Tag zu Tag schöner und schöner.“
Schüler*innen bringen unterschiedlichste Persönlichkeiten und Lebensentwürfe in den Unterricht ein. Der Religionsunterricht bietet ihnen Raum, die eigene Persönlichkeitsentwicklung sowie ihr Verhältnis zu anderen Menschen zu reflektieren. Dies geschieht vor dem Hintergrund des christlichen Verständnisses, dass der Mensch Geschöpf Gottes und sein Ebenbild ist.1

Vom „Raum bieten” sprechen hier die inhaltsbezogenen Kompetenzen im Kompetenzbereich „Nach dem Menschen fragen”. Raum zu bieten könnte auch bedeuten, eine Bühne zu bieten, eine Theaterbühne. Dies im Rahmen der Frage nach dem Menschen zu tun, liegt geradezu auf der Hand und mir als Lehrkraft für Darstellendes Spiel am Herzen.


Didaktische Überlegungen

„Was ist der Mensch?”, „Wer bin ich?”, „Wo stehe ich?”, „Welche Haltung habe ich?” – Das sind Grundfragen des Menschen und ganz besonders der Schüler*innen im Sekundarbereich I, die sich in der Entwicklungsphase der Pubertät befinden. In der Frage nach dem Menschen, nach dem eigenen Menschsein geht es um elementare Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster der Wirklichkeit des Menschen in der Ambivalenz zwischen Selbstbewusstsein und Unsicherheit, zwischen Zutrauen und Ängsten, zwischen Selbstüberschätzung und Selbsthass, zwischen Schlaffheit und Haltung. Gerade im Heranwachsendenalter ist diese Ambivalenz in unserer postmodernen und pluralistischen Gesellschaft schwer auszuhalten. In einer Gesellschaft, in der es kein „Richtig“ und kein „Falsch“ gibt, gilt es eine Vielzahl individueller Entscheidungen zu treffen, sind Hilfsangebote zum Finden eines eigenen Selbstverständnisses im Religionsunterricht gefragt. Die Fragen „Wer bin ich?”, „Wo stehe ich?” kann jeder Mensch nur für sich selbst beantworten. Sie stellen sich im Leben immer wieder neu, in der Lebensphase der Adoleszenz sogar täglich mehrmals. Die individuelle Antwort auf diese Frage erschreckt gelegentlich und verunsichert. Der Mut, sie immer wieder neu zu stellen und zu beantworten, stärkt auf lange Sicht.


Theologische Überlegungen

Ziel des Religionsunterrichts im Sek I-Bereich sollte sein, mit den Fragen „Was ist der Mensch?”, „Wer bin ich?”, „Wo stehe ich?”, „Welche Haltung habe ich?” die Resilienz der Schüler*innen zu stärken, sie auf dem Weg der Selbstfindung zu begleiten, ihnen das biblische Verständnis der grundsätzlichen Würde des Menschen aufgrund seiner Geschöpflichkeit und Ebenbildlichkeit als Basis des Lebens zu eröffnen. Neben Genesis 1,26-28 zur Ebenbildlichkeit des Menschen wäre auch Psalm 139 interessant unter dem Aspekt des Gesehenwerdens und Gehaltenwerdens des individuellen Menschen durch Gott. Hier wird deutlich, dass Ebenbildlichkeit nicht Perfektsein bedeutet, sondern Zuspruch und Vertrauen. Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten Matthäus 25,14-30 bietet eine gute Grundlage für die christliche Antwort auf die Frage nach dem eigenen Sein, nach den eigenen Fähigkeiten. Auch 1. Korinther 12,4-11 von dem einen Geist und den vielen verschiedenen Gaben der Menschen wäre ein geeigneter Bibeltext für das Verständnis der Notwendigkeit unterschiedlicher Fähigkeiten und Eigenschaften für das Gelingen des Ganzen, für die Gesellschaft als Gemeinschaft der Individuen.


Theaterpädagogische Überlegungen

Ein wesentliches Merkmal theaterpädagogischer Arbeit ist es, bewertungsfreie Räume zu schaffen, in denen Schüler*innen herausfinden können, wer sie selbst sind, wer sie sein möchten, welche Haltung sie einnehmen wollen. „Dabei gibt es weder gut noch böse, richtig oder falsch – alles was ich erlebe und entdecke, ist Teil meines inneren Reichtums. Im Spiel verschiebe ich Grenzen, entlarve (angelernte) Muster meiner Erziehung und Sozialisation und entdecke bisher im Verborgenen gebliebene Möglichkeiten meines Ausdrucks“2  Im Raum Schule, im 90-minütigen Religionsunterricht kann das Spiel nie so frei sein, wie es in anderen Zusammenhängen möglich wäre. Schule bleibt Schule. Klassenraum bleibt Klassenraum. Allerdings können theaterpädagogische Elemente aus dem darstellenden Spiel Möglichkeiten des Findens des eigenen Selbstverständnisses, der eigenen Haltung eröffnen, die in ihrer unmittelbaren Erfahrbarkeit über die gewohnte Arbeit mit Texten, Gesprächen, Deutungen weit hinausgehen. Im Spiel bringe ich große Teile meiner Persönlichkeit ein, auch die Teile, die vor mir selbst und anderen nicht immer offenliegen. Ich kann Facetten ausprobieren im geschützten Raum des Spiels, die ich ansonsten nicht auslebe.

Das bedeutet auch, dass die Teilnahme an theaterpädagogischen Übungen immer freiwillig sein muss und daher in Schulklassen niederschwellig angelegt sein sollte, um möglichst allen Schüler*innen die Teilnahme zu ermöglichen. Es muss möglich sein, bei Übungen auszusteigen und wieder zurückzukehren. Diese Möglichkeit muss klar kommuniziert werden. „Diese absolute Freiwilligkeit für alle Spieler, jederzeit aus dem Spiel aussteigen zu dürfen, wenn es ihnen nicht gut damit geht und wieder einsteigen zu können, wenn sich das ändert, ist vielen Lehrerinnen, aber auch Theaterpädagogen suspekt. Manche haben dann Angst vor Kontrollverlust. Dabei ist der wesentliche Punkt dabei eine Veränderung der Atmosphäre: Die Spielerinnen werden in die Lage versetzt, jederzeit für sich zu sorgen und Verantwortung zu übernehmen, es ist ein radikaler Akt der Selbstermächtigung.“3 


Theaterübungen, ohne ein Theaterstück aufzuführen? Was soll das?

Theaterspielen hat viel mit Haltung zu tun. Zuschauer*innen sollen erkennen, welche Person auf der Bühne dargestellt wird und was diese Person denkt und fühlt. Und das geschieht nicht nur über die Sprache, sondern sehr viel auch über Körpersprache und Haltung.
Als Haltung bezeichnet man im allgemeinen Sprachgebrauch mehrere Dinge:

  1. Die innere Grundhaltung eines Menschen, bestehend aus z.B. einer politischen Gesinnung (patriotisch, friedensbewegt), einer religiösen Einstellung (gläubig, atheistisch) oder einer Wesensart (egoistisch, empathisch, misstrauisch).
  2. Eine Position im Sinne einer persönlichen Meinung zu etwas, z.B. eine ablehnende, distanzierte, zustimmende oder schwankende Haltung einzunehmen.
  3. Die Stellung des menschlichen Körpers im Stehen, Sitzen oder Liegen. Eine Körperhaltung kann z.B. entspannt, angespannt oder kraftvoll sein, gerade oder geneigt, aufrecht oder gebeugt. Die Stellung der Beine und Haltung der Arme verstärken dies.

Entscheidend ist meines Erachtens, dass sich unsere innere Haltung (Gesinnung), unser eigenes Selbstverständnis durch äußere (Körper-)Haltung ausdrückt. Das macht sich bemerkbar im Sprachgebrauch, wir fragen z.B.: Wie stehst du denn eigentlich zu dem Thema? Oder stellen fest: Sie hat einen klaren Standpunkt.

Oft zeigt unsere Körperhaltung, dass wir etwas anderes sagen, als wir empfinden. Wir nehmen unterschiedliche Körperhaltungen gegenüber Freund*innen, Eltern, Fremden oder Lehrer*innen ein. Wenn wir uns einer Sache sicher sind, sollte das auch an unserer äußeren Haltung sichtbar sein. Unsere Haltung sollte unserer Persönlichkeit entsprechen, sie sollte ausdrücken, wer wir sind.
Deshalb bieten sich theaterpädagogische Übungen an mit dem Ziel, eine individuell angemessene Haltung einzunehmen, die der eigenen Persönlichkeit zumindest jetzt und heute entspricht: Das bin ich!


Wer bin ich? – Haltungssache!
Unterrichtsstunde (90 Min.) mit theaterpädagogischen Elementen aus dem darstellenden Spiel


1. Erwartungen klären

Die Schüler*innen zeigen ihre Erwartung an die Unterrichtsstunde durch Daumen hoch, Daumen Mitte, Daumen runter gemeinsam auf das Kommando „1-2-3-jetzt!”.


2. Im Klatschkreis warm werden

  1. Handklatscher werden im Uhrzeigersinn von einer*m Schüler*in zur*zum anderen weitergegeben mit dem Wort „Zapp“. Dabei kann das Tempo gesteigert werden.
  2. Mit einem Doppelklatscher und dem Wort „Zipp“ kann die Richtung gewechselt werden.
  3. Mit dem Wort „Boing“ kann der Handklatscher quer durch den Kreis weitergegeben werden. Der*die Empfänger*in des Handklatschers legt die Richtung der Weitergabe im Kreis neu fest.


3. In Bewegung kommen

Alle Teilnehmenden bilden einen Kreis. In der Mitte steht eine Person, die auf irgendeine Person im Kreis zeigt und sagt (alternativ):

  1. Kotzendes Känguru:
    Die Person, auf die gezeigt wird, „kotzt“ in den Beutel, den die beiden Personen rechts und links von ihr mit jeweils einem Arm andeuten.
  2. Toaster:
    Die Person, auf die gezeigt wird, springt als Toastbrot aus dem Toaster, der von den beiden Personen rechts und links von ihr mit zwei ausgestreckten Armen, die sich an den Händen des*der anderen begegnen, angedeutet wird.
  3. Elefant:
    Die Person, auf die gezeigt wird, formt mit ihren Armen einen Rüssel. Die Personen rechts und links von ihr deuten mit den Armen die großen Ohren an.
  4. Mixer:
    Die Person, auf die gezeigt wird, dreht sich um die eigene Achse. Die Personen rechts und links von ihr zeigen von oben auf sie.)
  5. James Bond:
    Die Person, auf die gezeigt wird, steht mit verschränkten Armen da. Die Personen rechts und links von ihr lehnen sich an sie und formen mit ihren Händen imaginäre Pistolen.

Wer zu langsam reagiert, wechselt mit der Person in der Mitte des Kreises.


4. Den Raum entdecken

Bei dieser Übung darf nicht gesprochen werden. Die Schüler*innen fokussieren sich zunächst auf sich selbst, dann auch auf die anderen. Sie bewegen sich im Raum. Die Spielleitung gibt unterschiedliche Anweisungen zur Art des Raumlaufs, die jeweils durch einen Klangschalenton eingeleitet werden:

  1. Die Schüler*innen laufen durcheinander, gut verteilt im Raum.
  2. Jede*r visiert einen Punkt im Raum an, geht auf diesen Punkt zu und berührt ihn.
  3. Das Tempo wird auf Ansage der Spielleitung geändert (Tempoangaben von 1 bis 10).
  4. Verschiedene imaginäre Untergründe werden von der Spielleitung genannt, auf denen sich die Schüler*innen bewegen (z.B. Schlick, Wasser, Sand...).
  5. Beim Anschlagen der Klangschale zeigen alle auf einen Punkt, den jede*r einzelne vorher in Augenhöhe oder höher anvisiert hat. Alle rufen gleichzeitig „You“ beim Zeigen.
  6. Die Schüler*innen gehen durch den Raum und begrüßen einander (Eine Steigerung der Begrüßung ist möglich: Zunicken, Lächeln, Handschlag, Umarmung).
  7. Die Schüler*innen stoppen und starten den Raumlauf gemeinsam zunächst auf den Klangschalenton der Spielleitung hin, dann von der Gruppe selbst gesteuert.
  8. Die Schüler*innen bewegen sich als Amöbe, Hase, Affe, Schwertkämpfer*in und Weise*r im Raum.4


5. Ins Spiel kommen durch Evolution

Zu Beginn der Evolution sind alle Schüler*innen Amöben und krabbeln auf dem Boden oder bewegen sich schlängelnd durch den Raum. Treffen sie auf eine andere Amöbe, spielen diese beiden Schere-Stein-Papier. Der*die Gewinner*in entwickelt sich zum Hasen weiter und hüpft als solcher durch den Raum. Der*die Verlierer*in bleibt Amöbe und sucht sich eine andere Amöbe, um von vorn zu beginnen. Der Hase wartet, bis er einen weiteren Hasen trifft und spielt mit diesem Schere-Stein-Papier. Der*die Gewinner*in entwickelt sich zum Affen weiter und geht wie ein solcher auf die Suche nach einem weiteren Affen. Der*die Verlierer*in entwickelt sich zurück zur Amöbe. Aus dem Affen wird ein*e Schwertkämpfer*in, aus dem*der Schwertkämpfer*in ein*e Weise*r. Wenn diese*r in der Mitte des Raumes stehen bleibt mit verschränkten Armen und „Stopp“ ruft, ist das Spiel beendet.


6. Rollen verkörpern

  1. Jede*r zieht eine Rollenkarte und bewegt sich in dieser Rolle im Raum. (Rollenkarten: König*in, Ritter*in, Spion*in, Erpresser*in, Bankräuber*in, Elfe, Zauberer/Hexe, Außerirdische*r, Bettler*in, Millionär*in, Influencer*in, Popstar, Spitzensportler*in, Rapper*in, Opernsänger*in, Journalist*in, Bundeskanzler*in, Showmaster*in, Umweltschützer*in, Model, Greis*in, Optimist*in, Pessimist*in, Psychotherapeut*in, Erfinder*in …)
  2. beim Erklingen der Klangschale begrüßen alle den*die jeweils am nächsten Stehende*n in ihren Rollen, erraten die Rolle des Gegenübers und tauschen ihre Rollenkarten.
  3. Die Schüler*innen laufen in der neuen Rolle im Raum. Beim Klangschalenton wird die*der Nächste begrüßt, die Rolle des*der anderen erraten und die Rollenkarten getauscht. Dieser Vorgang wiederholt sich mehrere Male.


7.    Lob erfahren mit einer warmen Dusche

Jede*r hat einen Din A 4-Zettel auf dem Rücken mit Tesakrepp festgeklebt, auf dem die anderen Schüler*innen etwas ausschließlich Positives über diese Person schreiben: Du bist … . Wenn alle auf jeden Rückenzettel außer dem eigenen etwas geschrieben haben, dürfen die Zettel abgenommen werden und jede*r liest still für sich, was die anderen über sie*ihn geschrieben haben. Am Ende sucht sich jede*r einen der Aussagen aus, die ihr*ihm besonders gefällt.


8. Mich selbst vorstellen

Alle gehen im Raum umher. In der Mitte steht ein Stuhl / Hocker. Eine*r steigt auf den Stuhl, nimmt eine ihm*ihr entsprechende Haltung ein und wartet drei Sekunden. Alle bleiben stehen und schauen ihn*sie an. Die Spielleitung lässt einen Klangschalenton erklingen. Der* die eine sagt: Ich bin XY und ich bin …! Entsprechend der ausgewählten Aussage von der „Warmen Dusche“. Danach wird wieder drei Sekunden gewartet. Der Klangschalenton erklingt. Der*die eine steigt vom Stuhl. Alle gehen weiter. Nach einer Zeit steigt jemand anderes auf den Stuhl …


9. Feedback zur Unterrichtsstunde

Die Schüler*innen zeigen ihre Haltung zur heutigen Unterrichtsstunde durch Daumen hoch, Mitte, runter: 1-2-3-jetzt!

Material/Raum:

  • Möglichst großer leerer Raum (Tische und Stühle am Rand)
  • Karten mit 35 Rollen (Berufe, Märchengestalten, historische Rollen)
  • Klangschale
  • ein Stuhl oder Hocker
  • Din A4-Zettel für alle Schüler*innen für „Warme Dusche: Du bist …“
  • Filzstifte für alle
  • Kreppklebeband

 

Anmerkungen

  1. KC Evangelische Religion Oberschule, Hannover, 2020, 17.
  2. https://lutz-pickardt.de/spielansatz.
  3. Hausy, „Auf die Bühne, fertig, los“, 26.
  4. Weitere Anregungen zum Raumlauf in: Herrig / Hörner, Darstellendes Spiel und Theater, 34ff.

 

Literatur

  • Hausy, Uwe (Hg.): Auf die Bühne, fertig, los, Frankfurt a.M., 2019
  • Herrig, Thomas A. / Hörner, Siegfried: Darstellendes Spiel und Theater“, Paderborn 2012
  • Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.): Kerncurriculum für die Oberschule. Evangelische Religion. Schuljahrgänge 5-10, Hannover 2020
  • Pickardt, Lutz: Spielansatz (https://lutz-pickardt.de/spielansatz/ (05.07.2023)