Die ganze Welt ist eine Bühne - Praxisbeispiele aus der religionspädagogischen Arbeit mit theaterpädagogischen Elementen

von Berit Busch

Das Leben als Bühne zu beschreiben, ist eine beliebte Metapher, die nicht nur seit Shakespeares Zeiten immer wieder genutzt wird. Anders als in einem fertigen Stück gleicht unser Leben in gewisser Weise allerdings einem noch unfertigen Drehbuch, das mit viel kreativem Potenzial und Erlebnissen von uns und unserer Umgebung weitergeschrieben wird. Dabei gibt es die unterschiedlichsten Rollen im Laufe der Zeit: Wir sind die Jungen und die Alten, die Gesunden und die Kranken, die Ehrlichen und vielleicht auch mal die Lügner, wir sind zickig oder weise, lustig und traurig, die Begehrten oder die am Rande. Und häufig spielen wir die Rollen perfekt, weil wir genau dies in solchen Augenblicken tatsächlich auch sind. Wir verschmelzen symbiotisch mit der Rolle des Augenblicks. In der Theaterpädagogik nutzen wir u.a. genau diese Erinnerungen, damit Menschen sich besser und einfacher in Rollen einfühlen können (das sogenannte Method Acting), um auch die Zuschauenden am inneren Erleben der Figuren teilhaben zu lassen.
In der Ev. Jugend Nienburg ist die kulturelle Arbeit fest verankert: Eine Viertelstelle steht im Kreisjugenddienst zur Verfügung. Damit begleite ich die Jugendband des Kirchenkreises, es gibt aufwendige Jugendgottesdienste, ab und zu eine Ausstellung und überall auch Theater: ob als Freizeit, als Angebot für eine Jugendgruppe, als Workshoptag für die Krippenspielleitungen oder im Rahmen der Juleica-Aus- und -Fortbildungen. Der Spielspaß, das Erleben von ästhetischen Kommunikationsmitteln und die eigene (religiöse) Entwicklung stehen dabei immer im Vordergrund allen Handelns.
Aus dem Improvisationstheater habe ich eine Idee mitgenommen, die sich auf alle Theaterstücke, egal ob mit oder ohne Text, übertragen lässt:


In drei Schritten durch die Probe

1. Schritt (1/3 der Zeit): Aufwärmen
Egal ob mit klassischen Gruppenspielen, Kennenlernspielen, schlichtem Fangen oder Power-Yoga; das Ziel ist immer das gleiche: Aufwärmen vom Körper, Stimme und das Ankommen in der Gruppe.

2. Schritt (1/3 der Zeit): Szenische Übungen
Mit theaterpädagogischen Übungen können erste Inhalte aus den Stücken geübt werden: z.B. verschiedene Emotionen, Begegnungen und Handlungen. Viel Spaß macht es, kleine Szenen zu Themen zu entwickeln, die sich nachher (gegebenenfalls mit leichten Veränderungen) ins Stück einbauen lassen.

3. Schritt (1/3 der Zeit): Üben an der eigentlichen Geschichte
Der Zeitraum scheint wenig zu sein, reicht aber völlig aus, wenn die eigentlichen Inhalte, Charaktere und Emotionen vorab schon geübt wurden. Sollten Geschichten rein aus der Improvisation entstehen, setzen wir die geübten Szenen aneinander und entwickeln etwas davor und danach, verändern und passen die ersten Ideen an. Sollte mit Text gearbeitet werden, dann ist es wichtig, hier immer wieder auf die davor geübten Szenen, Haltungen und Emotionen zu verweisen.
Für die Vorbereitung im Team empfehle ich genau die gleiche „Drittel-Drittel-Drittel-Probenregel“: Auch Teamer*innen müssen in der Vorbereitungsgruppe ankommen, viele eigene Übungen machen und sich erst dann mit der Geschichte beschäftigen. Das macht nicht nur Spaß, sondern bringt die ganze Gruppe schnell auf die richtige Spur. Und egal was und wie nachher das Stück gespielt wird, für alle gilt: Gespielt wird ein Schau-Spiel und kein Hör-Spiel. Der Text ist wichtig, aber genauso wichtig ist die Bewegung auf der Bühne und die Körperlichkeit der Rollen.


Beispiel: Anspiele für Gottesdienste, Kinderbibelwochen, Krippenspiele

„Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria!“ (Lukas 1,30)
Interessant für die Gemeinde werden Anspiele, wenn die Rollen authentisch wirken, d.h. wenn z.B. Esther als Königin wirklich königlich wirkt und wenn ihre Diener*innen ihr wirklich dienen. Wenn alle stocksteif aufgerichtet stehen, werden die Rollen und ihre Verhältnisse zueinander nicht klar. Einfache Übungen zum Thema „Hoch- und Tiefstatus” helfen hier den Schauspielenden schnell in die richtige Haltung zu kommen, noch bevor sie den Text das erste Mal gelesen haben. Auch Überlegung und Übungen für
•    Charaktereigenschaften (Ist die Königin hochnäsig oder ganz zugänglich? Spricht sie langsam oder schnell?),
•    Rituale (Machen die Diener*innen immer eine Verbeugung, wenn sie durch die Tür kommen?),
•    Beziehung zu anderen Figuren (Wer ist von wem abhängig? Wer tuschelt immer miteinander?),
•    der Körperlichkeit (Wie schnell sind die Diener*innen? Haben sie hängende Schultern?)
•    und den Emotionen der Rollen (freundlich, genervt, aufgeregt etc.)
im Vorfeld helfen schon beim ersten Lesen, ein Gefühl für die Szene zu bekommen. Natürlich werden sich die Vorüberlegungen im Laufe des Spielens verändern oder einschleifen. Eine einfache Verkleidung zudem – und wenn es nur ein umgelegtes Tuch ist – und etwas auf der Bühne zu tun zu haben helfen gleich, in ein echtes Spielen zu kommen. Wichtig bei allem ist: Die Königin ist die Königin, die Dienerin die Dienerin. Die Rollen müssen klar definiert sein und dürfen nicht verschwimmen.
Krippenspiele gehören in vielen Gemeinden zum Heiligabend-Repertoire dazu. Und oft ist besonders die Rollenvergabe gefürchtet: Alle wollen Maria sein, niemand möchte den Herodes spielen … Warum das Ganze nicht mal andersherum aufbauen? Erst einmal werden mit allen Kindern einige theaterpädagogische Übungen gemacht: Hoch- und Tiefstatus, Sprachübungen, Emotionen weitergeben und Körperhaltung. Danach werden die Rollen in einer wertschätzenden Haltung verteilt: „Du hast wunderbar aufrecht, majestätisch und wichtig gewirkt: Du bist genau die richtige Person, um unseren Herodes zu spielen!“ Vielleicht lässt sich erst danach genau der Text festlegen? Dann ist klar, ob Herodes viel oder wenig Text sprechen kann und ob es drei oder fünf Engel sind.
Zudem lassen sich die Proben einfacher handhaben, wenn nicht so viele Kinder gleichzeitig dabei sind und die Wartezeit bis zum eigenen Einsatz lang wird. Es lohnt sich, nach einem Szenenplan zu arbeiten und nur einen kleineren Teil der Kinder gleichzeitig vor Ort zu haben. 30 bis 40 Minuten Probe reichen aus, so dass es auch bei großen Gruppen möglich ist, zwei Proben hintereinander zu legen.

Ablaufplan für die Proben eines Krippenspiels

1. Treffen    Alle Kinder kommen zusammen:
•    Kennenlernspiele
•    Theaterübungen
•    am Ende Rollenverteilung (eventuell auch erst beim zweiten Treffen den Text austeilen, um noch Änderungen vornehmen zu können)

2. und 3. Treffen    nur mit Kindern von ein bis zwei Szenen:
•    Warm-up Spiel(e)
•    Theaterpädagogische Übungen: Status, Emotionen
•    Rollenfindung
•    Erste Sätze spielen
•    Je nach Lesefähigkeit: die Szenen in Emotionen lesen / spielen

4. und 5. Treffen     in Kleingruppen mit weitestgehend auswendig gelerntem Text
•    Warm-up Spiel
•    Rollenspezifische Übungen: Status, Emotionen etc.
•    Szene(n) spielen

6. Treffen    Alle Kinder treffen sich
•    Warm-up
•    Rollenübung
•    Gemeinsames Spiel

7. Treffen    Generalprobe (mit Eltern?)

Dann könnte der Ablauf folgendermaßen aussehen.


Beispiel: Kindertheaterfreizeit

Alle zwei Jahre fahren wir mit 30 bis 50 Kindern zwischen acht und zwölf Jahren auf eine fünftägige Theaterfreizeit, die ohne Textlesen und -lernen auskommt und offen ist für Kinder mit und ohne besondere Bedürfnisse.
In den Osterferien 2023 war das Thema „Gemeinsam groß“, und wir haben neben dem Entwickeln von Theaterstücken auch draußen und drinnen gespielt, Andachten gefeiert und uns Gute-Nacht-Post gemalt und geschrieben. Unser Freizeithaus bot uns kleine Bühnenelemente, und mit Hilfe von minimaler Technik (mit zwei Ständern und Scheinwerfern) und schwarzem Stoff über eine Wäscheleine im Hintergrund gespannt entsteht schnell eine Bühne. Die Freizeit hat ein Team aus fünf 15- bis 21-Jährigen gemeinsam mit mir an drei Abenden und einem Wochenende vorbereitet.


Erster Tag:
Ankommen in der Theaterwelt

Ankommen am Nachmittag: erstes Kennenlernen innerhalb der Gruppe.
Abends: Spielekette mit theaterpädagogischen Übungen „Gemeinsam groß – Willkommen in der Theaterwelt“ (M 1)


Zweiter Tag:
Gemeinsam unterwegs

Das Team spielte den Kindern ein Stück verkleidet als Arche Noah Tiere vor, die gemeinsam unterwegs waren und nur zusammen Hindernisse meistern konnten. Dieses gemeinsame Spiel des Teams motivierte nicht nur die Kinder, sondern entsprach auch der eigenen Leidenschaft und Spielfreude.
Anschließend trafen sich die Kinder für 90 Minuten in nach Alter sortierten Gruppen und entwickelten drei verschiedene Geschichten zum Thema „gemeinsam unterwegs sein“. Dabei hatten die Teamenden Kurzgeschichten im Hinterkopf, die sie den Kindern aber weder erzählten noch vorlasen. Alleine durch die theaterpädagogischen Übungen vorweg entwickelten sich in den Kinderköpfen Szenen zu Geschichten, die ähnlich dem Original waren, aber den Erlebnissen und Wünschen der einzelnen Gruppen entsprachen. Aufgabe für die Teamenden war, neben den theaterpädagogischen Impulsen darauf zu schauen, dass alle Kinder die Möglichkeit hatten, so viel zu sagen und Theater zu spielen, wie sie wollten.
Am Nachmittag gab es noch einmal 90 Minuten Zeit, um an den Geschichten zu arbeiten und die Requisiten zu basteln, so dass am Abend bereits die erste Aufführung dreier Kurzgeschichten stattfinden konnte.


Dritter und Vierter Tag:
Wer sind denn die anderen da? – „Die kleinen Leute von Swabedoo”

Die Anspiele am Morgen nahmen die Kinder mit hinein in das Thema „andere annehmen, anderen etwas schenken, gemeinsam groß sein“. Das waren die Startgedanken, um mit den Kindern in den Kleingruppen Szenen aus der Geschichte von den Kleinen Leuten von Swabedoo zu spielen. In drei Teile hatte das Team vorab die Geschichte unterteilt, um mit den Kindern in zwei Tagen eine eigene Version der Geschichte zu erarbeiten. Methodisch haben wir hier wieder die Kinder von der eigentlichen Geschichte erst einmal ferngehalten:

Gruppe 1 (die jüngeren Kinder): Bei den Swabedoodas zu Hause und im Dorf

Theaterpädagogische Übungen (M 2):
•    Geschenke überreichen
•    wenn du mir was schenkst, dann fühle ich mich, wie …
•    Menschen begegnen und begrüßen
•    Emotionsquadrat
•    Statusarbeit

Es wurden Szenen entwickeln, in denen Menschen aufeinandertreffen und einander etwas schenken. Das Team erzählte nun von den Swabedoodahs, die sich gegenseitig warme, weiche Pelzchen schenken, und stellte Fragen:
•    Was machen die Swabedoodahs tagsüber?
•    Was machen sie abends? Singen sie zusammen? Tanzen sie? Feiern sie eine Party?

Die Kinder entwickelten kreative Szenen über das Leben und Spielen im Dorf, in der Schule mit guten und schlechten Noten, übers Trösten und Pelzchen Tauschen.

Gruppe 2: Der Kobold ist neidisch und bringt die Swabedoodahs davon ab, Pelzchen zu tauschen

Theaterpädagogische Übungen:
•    Geschenke überreichen und nicht annehmen
•    Menschen begegnen und begrüßen
•    Statusarbeit – Statuswechsel
•    Engelchen und Teufelchen
•    Haus der Gefühle
Von den Kindern wurden erste Szenen entwickelt, in denen jemanden etwas Schönes schenkte, die Person es aber ablehnte – und andere, in denen Geheimnisse anvertraut wurden. Dann haben die Teamenden von den Swabedoodahs und dem Kobold erzählt; die Szenen wurden verändert und weiterentwickelt. Die Fragen dazu waren:
•    Hat der kleine Swabedoodah sein Erlebnis mit einem Freund zu Hause diskutiert?
•    Wie ging es dem Kobold vorher? Hat er sich mit anderen ausgetauscht?

Der Schwerpunkt der Kinder in der zweiten Szene lag in dem Spiel zwischen schönen und unangenehmen Erfahrungen. Sie spielten in ihren Szenen, wie die Swabedoodahs immer langsamer, leiser und gebeugter wurden. Eine Koboldhöhle wurde gebaut und aus ihr heraus agiert.

Gruppe 3 (die älteren Kinder): Der Kobold gibt Steine aus

Theaterpädagogische Übungen:
•    Geschenke überreichen
•    Wenn du mir was Schönes / Doofes schenkst, dann fühle ich mich, wie…
•    Menschen begegnen
•    Emotionsquadrat, Haus der Gefühle
•    Statusarbeit – Statuswechsel
•    Etwas heimlich tun
•    Engelchen und Teufelchen

Die Gruppe der älteren Kinder hat die Geschichte am meisten verändert. Sie konnten es nicht gut aushalten, dass der Kobold alleine war und am Ende nicht auch etwas Gutes bekam. So entschieden sie sich für zwei Kobolde und dafür, dass in den Steinen Edelsteine zu finden waren. Die Kinder schlugen vor, dass in den Sommermonaten alle Figuren kalte Edelsteine und im Winter warme Pelzchen tauschen.

Nebenbei haben alle Kleingruppen Material, Requisiten und Kulissen gebastelt. Bestimmte Requisiten und Kostümelemente wurden durch alle drei Gruppen durchgegeben, damit die Rollen erkennbar waren (z.B. Ohren für die Swabedoodahs; graue Umhänge für die zwei Kobolde, Pelzchen und Steine mit Edelsteinen, eine Höhle für die Kobolde). Insgesamt haben die Kinder sechs Stunden an dem Stück geübt und gebastelt. Dazu haben sie es sich am vierten Tag abends gegenseitig aufgeführt.
Am fünften Tag haben wir das Theaterstück dann in Nienburg im Kulturwerk auf einer Bühne mit Scheinwerferlicht, viel Schminke und unter donnerndem Applaus in unserer ganz eigenen Version vor Eltern und Geschwistern unter dem Titel „Gemeinsam groß“ aufgeführt.


Beispiel: Ausbildung von Mitarbeiter*innen

„Wer auf die Bühne kommt, muss Neuerfundenes bringen und auf neue Art“ (Titus Maccius Plautus, lateinischer Komödiendichter, 250-184 v. Chr.)
Es ist eine große Hilfe für das Rollenverständnis, wenn bereits in die Ausbildung der jungen Menschen theaterpädagogische Übungen eingebaut werden. In unserem Trainee-Kurs für Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren machen wir viele Übungen zum Thema Selbst- und Fremdwahrnehmung, um ihnen bewusst zu machen, wie verschiedene Haltungen auf andere Menschen (und ihre zukünftige Zielgruppe) wirken.
Im Juleica-Grundkurs sind fünf Theatersport-Einheiten (M 3) fester Bestandteil des achttägigen Kurses. Jede 60-minütige Einheit nimmt sich ein bis zwei Regeln des Theatersports als Grundlage und probiert die Übungen dazu aus. Verknüpft werden sie nicht nur während der Theatersport-Einheit mit den pädagogischen Inhalten des Kurses, sondern auch andersherum wird während des Kurses auf die Übungen und ihre Bedeutung verwiesen.
1. Einheit: Regel 1, 2 und 5 Teamarbeit
2. Einheit: Regel 3 und 4 Kreativität
3. Einheit: Regel 6 und 8 Präsenz / Dramatik
4. Einheit: Regel 9 Status
5. Einheit: Regel 10 Komm wieder

Die jungen Menschen probieren hier nicht nur sich und ihre Wirkung auf andere aus, sondern schulen ganz nebenbei ihre Kreativität, ihre Sprachfähigkeit, die Aussprache und Lautstärke und ihre Selbstsicherheit im Auftritt Gruppen gegenüber. In den vielen Improvisationsübungen erleben sie, dass am meisten fasziniert, was unerwartet ist. Auch dies lässt sich gut in die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen übertragen: Überraschungen, Geheimnisse und eine gute Dramatik binden die Aufmerksamkeit der Rezipienten.

Literatur

  • Andersen, Marianne Miami: Theatersport und Improtheater. Deutschsprachige Ausgabe, Planegg 1996
  • Bany-Winters, Lisa: Theater-Spiel-Training für Kinder. Alles für den großen Auftritt, Mülheim an der Ruhr 2000
  • Barone, Paul: Theaterübungen. Vom Spiel zum partizipativen Inszenieren (43 Karten), Weinheim 2023
  • www.pangloss.de/cms/index.php?page=Übungen (Theaterpraktische Spiele und Übungen)
  • https://improwiki.com/de (Improspiele, Warm-ups und Übungen fürs Improtheater)
  • www.schultheater-nds.de/ideen-für-die-praxis/theaterübungen (Theaterübungen)

 

 

Ablaufplan