„I’ve done everything the bible says“, behauptet Ned Flanders in einer Simpsons-Folge1, „even the stuff that contradicts the other stuff.“ Tatsächlich ergibt sich beim aufmerksamen Lesen der neutestamentlichen Schriften früher oder später die Einsicht, dass diese Texte Aussagen beinhalten, die sich nicht immer leicht miteinander harmonisieren lassen. Wenige Beispiele seien genannt:
- Mit welcher Äußerung auf den Lippen stirbt Jesus? – Mit einem unartikulierten Schrei (Mk 15,37)? Mit den Worten „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ (Lk 23,46)? Oder sagt er „Es ist vollbracht“ (Joh 19,30)?
- Auf welche Weise stirbt Judas, nachdem er Jesus verraten hat? – Erhängt er sich aus Verzweiflung (Mt 27,3–5)? Oder stürzt er unglücklich, so dass sein Körper aufgerissen wird und die Gedärme herausquellen (Apg 1,16–18)?
- Und wodurch wird ein Mensch vor Gott gerecht? – Durch den Glauben ohne Werke (Röm 3,28)? Oder nicht allein durch Glauben, sondern durch Werke (Jak 2,24)?
Die Liste prägnanter Gegenüberstellungen neutestamentlicher Aussagen ließe sich leicht verlängern. Man muss nicht Theologie studieren, um auf sie zu stoßen, sondern es reicht aus, die Texte mit Verstand zu lesen. Ist aber erst einmal ein solcher Widerspruch identifiziert, dann zieht dies unweigerlich die Frage nach sich: Was stimmt denn nun? Nach den Regeln unserer Logik können ja wohl zwei miteinander unvereinbare Aussagen schlecht gleichermaßen wahr sein, oder? Die Frage kann auch noch basaler ansetzen: Wie kann das Neue Testament vertrauenswürdig sein, wenn es doch offenkundig solche problematischen Aussagen beinhaltet?
Interessanterweise haben ähnliche Fragen auch schon die Alte Kirche beschäftigt. Das Neue Testament bietet ja eine Sammlung von Schriften, die ursprünglich einmal separat voneinander entstanden sind und überliefert wurden. Erst mit fortschreitender Dauer der Kirchengeschichte musste ein Klärungsprozess stattfinden, in dem sich die christlichen Gemeinschaften darüber verständigten, welche Texte für sie normative Geltung besitzen sollten und welche nicht.
Einen schönen Einblick in diesen Vorgang bietet der antike Kirchen-Geschichtsschreiber Eusebius von Cäsarea. Er teilt die christlichen Schriften in drei Gruppen ein: erstens die unumstrittene, zweitens die umstrittene und drittens die abzulehnende (nachzulesen in Eus., Hist. 3,25). Auf der einen Seite der Skala kennt Eusebius also solche Texte, deren Verbindlichkeit für ihn sonnenklar ist. Dazu gehören die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und einige Briefe, hauptsächlich von Paulus. Das andere Extrem bilden die Schriften, die Eusebius ganz klar ablehnt wie die Paulusakten, die Petrusoffenbarung, den Barnabasbrief und andere. Besonders interessant ist aber die mittlere Kategorie, die der umstrittenen Schriften. Hier ordnet Eusebius den Jakobus- und Judasbrief, den zweiten Petrus- sowie den zweiten und dritten Johannesbrief ein. Auch von der Johannesoffenbarung macht er deutlich, dass manche Gemeinden sie sehr schätzen, während andere sie ablehnen. Zu seiner Beurteilung gelangt Eusebius dabei, indem er die Schriften inhaltlich und stilistisch miteinander vergleicht.
Dieser kleine kirchengeschichtliche Exkurs zeigt, dass wir es im Neuen Testament mit einer Sammlung von Schriften zu tun haben, denen eine gewisse Heterogenität innewohnt, auch wenn die Texte sich in wesentlichen Punkten sicherlich einig sind – wie etwa in der Auffassung, dass dem Christusgeschehen eine heilvolle Bedeutung für die Glaubenden zukommt. Doch schon in der frühesten greifbaren Phase des jungen Christentums werden die heterogenen Aspekte wahrgenommen und diskutiert. Am Ende setzt sich die Auffassung durch, dass die Schriften, die dann zum „Neuen Testament“ kanonisiert werden, sich harmonisch genug zueinander verhalten, um sie im Gottesdienst zu lesen und das theologische Nachdenken an ihnen zu orientieren. Doch ein Maß an Sperrigkeit, an Heterogenität, bleibt.
Und diese Heterogenität stellt sogar einen hermeneutisch sehr erfreulichen Umstand dar, denn sie nötigt zur Auseinandersetzung. Menschen, die heute auf die widersprüchlichen Züge des Neuen Testaments hinweisen und nach der Wahrheit der Aussagen fragen, befinden sich in guter Gesellschaft, da dies offenbar auch bereits die Glaubenden des frühen Christentums getan haben. Die sperrigen Aspekte in den Texten wollen wahrgenommen werden. Sie spiegeln die Heterogenität des frühen Christentums und lassen sich oftmals nicht ohne Gewaltanwendung harmonisieren. Auch hinter den Differenzen, die auf den ersten Blick historische Fragen betreffen, stehen letztlich theologische Überzeugungen. Damit liefert das Neue Testament in seiner Eigenschaft als Schriftensammlung einen wertvollen Anlass zur Beschäftigung mit der Frage nach seiner Wahrheit. Miteinander bilden die neutestamentlichen Schriften den Dialogprozess ab, der sich im Frühchristentum abspielt, und durch diese seine Beschaffenheit zieht der Kanon des Neuen Testaments seine Leserschaft mit in den Dialog hinein und drängt sie förmlich dazu, vor der Folie der eigenen Lebenswirklichkeit ebenfalls nach der Wahrheit seines Gegenstands zu fragen. Welch eine Steilvorlage für einen (Religions-)Unterricht, der es wagt, Schüler*innen der heterogenen und uneindeutigen Faktenlage auszusetzen und dazu ermutigt, Uneindeutigkeiten und Spannung auszuhalten! – Ein Unterricht, der aufkommende Fragen in einem dialogischen Prozess thematisiert, um Kindern und Jugendlichen den Erwerb wichtiger Fähigkeiten und Kompetenzen zu ermöglichen.
Nicht nur die frühen Christ*innen müssen sich im Dschungel widersprüchlicher Berichte und Aussagen orientieren; Jugendliche stehen heute vor ähnlichen Herausforderungen, wenn sie durch Nutzung Sozialer Medien mit einer unüberschaubaren Vielzahl an widersprüchlichen Wirklichkeiten konfrontiert werden. Was ist Wahrheit, was sind Fake News? Die Suche nach dem, was stimmt oder echt sein könnte, stellt ein komplexes Unterfangen dar, und es ist nicht nur entwicklungspsychologisch nachvollziehbar, dass Jugendliche unreflektiert Meinungen und Ansichten selbst gewählter Vorbilder übernehmen und deren Aussagen Glauben schenken. Eine zunehmend stärker werdende ergebnis- und leistungsorientierte Pädagogik nimmt Schüler*innen zudem jegliches „Selberdenken“ ab, wenn es letztlich nur darum geht, die eine richtige Antwort auf eine zuvor gestellte Frage parat zu haben, um eine gute Benotung oder Bewertung zu bekommen. Selbstständiges Denken und Nachfragen – wie sich dies im Kindesalter so natürlich zeigt – bleibt dann gegebenenfalls auf der Strecke und kann sich nicht entfalten.
Die Entwicklung eines Menschen vollzieht sich ganzheitlich, und der kognitive Aspekt des „Wissens“ beschränkt sich nicht nur auf eine Wiedergabe von zuvor angeeigneten Informationen. Jugendliche Identitätsentwicklung braucht Themen und Settings, mittels derer Informationen gefiltert, neues Wissen erworben, reflektiert und auf bereits vorhandene Wissensbestände bezogen werden kann. Die eigene Positionalität kann dadurch in Abwägung und Konfrontation mit anderen Ansichten geschärft und eingenommen werden. Dies gilt im Allgemeinen und im Speziellen auch für die Entwicklung der subjektiven Spiritualität: Fragen stellen, Widersprüche aufspüren, Unsicherheiten und Heterogenität wahrnehmen, all das ebnet den Weg zu einer mündigen Positionalität.
In einer heterogenen, multikulturellen, globalen und pluralen Gesellschaft gibt es nämlich nicht nur die eine Wahrheit, und allgemeingültige Antworten auf die großen Fragen sind rar. Mehr denn je brauchen Schüler*innen und Individuen heute die Fähigkeit, komplementär zu denken und unterschiedliche Aspekte oder Ansichten nacheinander zu betrachten und zu beschreiben.2 Dabei kann sich zeigen, dass die einzelnen Ergebnisse oder Aussagen gleichzeitig wahr oder richtig sind bzw. Gültigkeit besitzen.3 Eine angemessene Sicht auf diese widersprüchlich-spannungsvolle Situation kann sich entwickeln, wenn es gelingt, die Facetten miteinander ins Verhältnis zu setzen. Fragen von Schüler*innen können bereits im Grundschulalter Auslöser dialogischer Prozesse sein und sind von elementarer Bedeutung. Ein leises „Stimmt das?“ oder ein „Ist das echt passiert?“ können ein inspirierendes Gesprächsgeschehen auslösen und in die Auseinandersetzung mit verschiedenen subjektiven Perspektiven münden; und diese Gespräche wiederum können den Weg für individuell bedeutsame Antworten ebnen.
Die Frage nach der Wahrheit biblischer Texte sollte im Religionsunterricht also offensiv und mutig angegangen werden. Glaubensfragen von Schüler*innen fördern eine gesunde spirituell-religiöse Entwicklung, wenn sie basierend auf einer offenen, dialogischen Gesprächskultur ausgesprochen und thematisiert werden können. Empirisch-entwicklungspsychologische Befunde belegen, dass ein kognitiv aktivierender dialogischer Prozess zielführender ist, als zu schnell fertige Antworten zu geben. Wenn ein sicherer Raum vorhanden ist, trauen sich Schüler*innen ihre individuell relevanten Fragen nach der Wahrheit zu stellen.
In einer Unterrichtsstunde zum biblischen Schöpfungsbericht platzte es z.B. unvermittelt aus einer Schülerin heraus: „Boah, das ist doch alles totaler Quatsch! Das kann ja gar nicht wahr sein.“ Nach einem Moment spannungsvoller Stille und der Bitte, möglichst genau zu erklären, was denn da „Quatsch“ sei, antwortete die Schülerin, dass die Menschen ja erst ganz zum Schluss erschaffen werden und gar nicht wissen können, was vorher passiert ist. Da sie am Anfang nicht dabei waren, verfügen sie über keine Kenntnis vom Beginn der Schöpfung, und deshalb müssen sie sich die ganze Erzählung ausgedacht haben, bevor sie aufgeschrieben wurde. Der weitere Verlauf des Gesprächs kann an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden. Entscheidend ist, dass sich genau an dieser „Wahrheitsfrage“ eine emotional-engagierte Diskussion entfachte.
In einer anderen Stunde platze es aus einem Jungen heraus: „Hä? Das kapier ich nicht … Ist der Jesus jetzt ein Mensch oder doch sowas wie‘n Gott?“ Welch eine gute und zentrale Frage! Es stimmt: Nach unserer Logik können zwei einander widersprechende Aussagen schlecht gleichermaßen wahr sein – oder vielleicht doch? Es stimmt: Auf diese Frage kann man keine schnelle und allgemeingültige Antwort geben – oder vielleicht doch? Vielleicht sollten wir darüber immer wieder offen und ehrlich sprechen? Außerdem: Wir befinden uns auch heute noch in guter Gesellschaft. Wenn schon in der frühesten greifbaren Phase des jungen Christentums heterogene Aspekte wahrgenommen und diskutiert wurden, dann dürfen Kinder, Jugendliche und Erwachsene das im Hier und Heute ebenso tun. Sogar oder vielleicht erst recht, wenn ein hohes Maß an Sperrigkeit, an Heterogenität bleibt.
Anmerkungen
- „Hurricane Neddy“ (S08E08), 1996.
- Vgl. Schirrmacher, Entdeckung der Komplementarität, 3.
- Vgl. ebd.
Literatur
- Büttner, Gerhard / Freudenberger-Lötz, Petra / Kalloch, Christina & Schreiner, Martin (Hg.): Handbuch Theologisieren mit Kindern, Calw 2014
- Faix, Tobias: Eine qualitative Erhebung aus der Sicht empirischer Missionswissenschaft, Münster 2007
- Lindner, Heike / Zimmermann, Miriam (Hg.): Schülerfragen im (Religions-)Unterricht: Ein notwendiger Bildungsauftrag heute?!, Neukirchen 2011
- Schirrmacher, Thomas: Die Entdeckung der Komplementarität, ihre Übertragung auf die Theologie und ihre Bedeutung für das biblische Denken,
- MBS-Texte 66, München 2006, www.thomas schirrmacher.info/wp-content/uploads/2009/02/mbstexte066_1_.pdf (20.09.2022)