Das Verständnis von Texten in Heiligen Schriften ist zunächst grundsätzlich mehrfach vor Veränderungen geschützt. Dafür sorgt nicht in erster Linie der kanonische Text selbst, obwohl dieser nicht mehr verändert, sondern nur noch ausgelegt wird. Es sind vor allem die in der religiösen Tradition etablierten Interpretationen, wie sie sich in klassischen Werken finden und in populären Medien, Auslegungen, Predigten, Kinderbibeln, Religionsunterricht u.a. verbreitet und so befestigt werden. Dennoch können sich diese etablierten Sichtweisen mit den Zeiten ändern, weil im hermeneutischen Prozess eine Horizontverschmelzung (H. G. Gadamer) stattfindet, bei der die Erfahrungswelten von Auslegern und die Welten der Texte zu neuen „Symbiosen“ verschmelzen. So können bislang wenig beachtete Textbestandteile neue Wichtigkeit bekommen oder vertraute Texte in ganz anderem Licht wahrgenommen werden. Dies muss nicht gegen den überlieferten Text geschehen, sondern kann von diesem geradezu gefordert werden. Das macht Bibelauslegung so unabgeschlossen und spannend.
Ich möchte davon am Beispiel von Hagar und Ismael in der Abrahamgeschichte berichten. In meinen Kinderbibeln der 1960er-Jahre wurde deren Geschichte einfach weggelassen. Abraham und Sara hatten nur ein Kind, das Gott Abraham unterm Sternenzelt versprochen und Sara durch eine wunderbare Geburt geschenkt wurde. Dieses Kind der Verheißung wurde zum Ahnvater Israels. Als ich dann selbst in der Vollbibel las, erfuhr ich, dass Isaak einen älteren Bruder Ismael hatte, Abrahams erstgeborenen Sohn mit der Sklavin Hagar. Diese Hagar wird zweimal in der Wüste von Gott gerettet; einmal, als sie die Gewalt in Abrahams Haus nicht mehr ausgehalten hat und deshalb schwanger in die Wüste geflohen ist (Gen 16); ein anderes Mal, als sie mit ihrem Sohn Ismael vertrieben worden ist (Gen 21). In keinem anderen biblischen Text wird die Not von Flucht und Vertreibung an Einzelschicksalen einprägsamer sichtbar gemacht. Und dann las ich, dass fast alle göttlichen Versprechen, die Abraham bekommt (das sind die berühmten Verheißungen an die Erzväter), ausdrücklich auch mit Ismael und Hagar verbunden werden (unzählbar zahlreiche Nachkommen, ein großes Volk, Gottes bleibender Segen in Gen 16,10; 17,20; 21,12f.17f.). Es fehlt nur die Landverheißung. Dabei ist Ismael doch kein Ahnvater Israels, sondern wird als Vater arabischer Völker erzählt. Einerseits verheißen und gesegnet, andererseits vertrieben, und dann doch gerettet? – Wie soll man eine so „verrückte“ Geschichte verstehen?
In der etablierten christlichen Tradition ist das Verständnis der Geschichte durch die Auslegung bestimmt, die Paulus in Gal 4,21-31 aufgeschrieben hat. Sie ist von einem scharfen Gegensatz zwischen Hagar/Ismael und Sara/Isaak geprägt. An den beiden Frauen verdeutlich Paulus den Gegensatz von Knechtschaft und Freiheit gegenüber der Mose-Tora. Während hier allein Isaak als „Kind der Verheißung“ und Symbolgestalt der christlichen Gemeinde verstanden wird, wird Ismael als ihr Feind und Verfolger gesehen. Das hat eine starke Wirksamkeit entfaltet. Denn fortan ist Ismael eine aggressiv feindliche Figur, gewissermaßen der bedrohlich dunkle Schatten der Erwählung Isaaks.
So wurde gelehrt, dass Ismael zwar als Abrahams erster Sohn geboren wurde, er aber als Kind einer Sklavin aus familiär illegitimen Verhältnissen stammte; die Geburt Ismaels zudem das Ergebnis menschlicher Eigenmächtigkeit und des Versuchs gewesen sei, Gott zu hintergehen, um die Erfüllung der Verheißung zu erzwingen. Abraham und Sara hatten Gottes Verheißungen nämlich zu wenig vertraut und die Dinge lieber selbst regeln wollen. Außerdem wurde in dieser Tradition hervorgehoben, Ismael sei ein wilder und gefährlicher Mensch gewesen (Gen 16,12). Deswegen habe er auch in die Wüste vertrieben werden müssen, weil er seinen kleinen Bruder beim Entwöhnungsfest bedroht habe. Aber Gott habe ihn ja „um Abrahams willen“ nicht ganz fallen gelassen, weil ihm auch die Sünder nicht gleichgültig sind. Vor seinen Nachkommen allerdings müsse man sich in Acht nehmen.1
Die Auslegung und Sichtweise, die ich hier zusammengefasst habe, wird heute kaum noch vertreten, hält sich aber in sehr konservativen oder fundamentalistischen Kreisen hartnäckig. Einzelne Elemente daraus prägen dennoch auch in anderen christlichen Kontexten bis heute das Verständnis.
Begegnet man mit diesen oder ähnlichen Vorannahmen dem alttestamentlichen Text, stellt man erstaunt fest, dass sich nahezu nichts von diesen Bewertungen im biblischen Text findet. Es wird also Zeit, noch einmal neu über seine Verständnismöglichkeiten nachzudenken.
Abraham – Vater Israels und vieler Völker
In der Erzählung über Abraham denkt das Volk Israel über seine Position in der Völkerwelt des antiken Orients nach. Diese Völkerdimension spielt in der Religionspädagogik meist keine Rolle, doch ist sie biblisch sehr präsent. Im genealogischen Horizont der Genesis zeugt Abraham mit insgesamt drei Frauen (Sara, Hagar, Ketura) zahlreiche Völker, welche die Regionen der transjordanischen Trockengebiete und Nordarabiens besiedeln. Diese Völkerlisten werden in Gen 25 vorgestellt. In der zweiten Generation kommen dann noch die edomitischen Völker hinzu, die als Nachkommen von Jakobs Zwillingsbruder Esau aufgefasst werden (Gen 36). Sie alle bilden gemeinsam mit dem späteren Israel einen Kreis gemeinsamer Zugehörigkeit – die Nachkommen Abrahams. Im kulturellen Gedächtnis des antiken Israel ist Abraham eine ökumenische Ahnvaterfigur, die es unterschiedlichen Völkern erlaubt, sich auf Abraham zu beziehen. Dies bildet die Voraussetzung für die zentrale Erwählungslinie Israels, die sich von Abraham und Sara über Isaak und Rebekka bis zu Jakob, Lea und Rahel fortsetzt. Erst Jakob wird genealogisch eindeutig allein der Ahnvater Israels. Dieser „ökumenische Horizont“ ist zum Verständnis der Hagar-Ismael-Episoden wichtig, denn nur von hier aus wird verständlich, warum Hagar und Ismael in Gottes „Heilsgeschichte“ einbezogen werden. Weil sich die Erwählung Israels inmitten der Völker ereignet und nicht gegen sie. In der Erzelternerzählung ist stets der jüngste Bruder der Träger der Israel-Erwählung, weil so gezeigt werden soll, dass Gott sich seinem kleinen Volk Israel besonders zuwendet.
Von Ismael und Hagar wird in der Abrahamüberlieferung deshalb erzählt, um zu zeigen, dass Gottes Verheißungen und Fürsorge auch die nichtisraelitischen Völker aus der Nachkommenschaft Abrahams betreffen. Denn sie sind „Same Abrahams“ und sie leben von dem damit verbundenen Segen. Auch wenn Ismael als erstgeborener Sohn Abrahams nicht das Erbe Israels tragen wird, so wird er weder als Feind Isaaks noch als eine Bedrohung Isaaks erzählt, vielmehr als Kind der Verheißung (Gen 15,4); als Träger des Segens und als Partner in Gottes Bundschluss mit Abraham (Gen 17,19-21). In narrativer Hinsicht ist Ismael nicht als feindliches Gegenbild, sondern als ein Vorläufer Isaaks gestaltet, der wie Isaak von Gott selbst seinen Namen bekommt, der die Segnungen Gottes mit seinem jüngeren Bruder teilt und vorwegnimmt, ebenso aber auch die furchtbaren Zumutungen, auf Gottes Geheiß vom eigenen Vater mit dem Tod bedroht zu werden (Gen 21/22). Ismael gewinnt als Stammvater anderer Völker zwar nicht die Bedeutung wie Isaak, denn die Israel-Erwählung läuft in der Erzelternerzählung stets über den jüngeren Bruder (Isaak und Jakob), aber er ist in vielerlei Hinsicht Teilhaber an der Verheißung, dem Segen und dem Bund, weil Gott diesen Bund mit dem Abraham, dem Völkervater, geschlossen hat. In Gen 25 wird Ismael als Stammvater eines Zwölfstämme-Verbandes nordarabischer Völker aufgefasst, deren Anzahl durch die Nachkommen Abrahams mit seiner dritten Ehefrau Ketura noch einmal vergrößert wird (Gen 25). Dieser Völkerkreis der Nachkommen Abrahams, der Israel mit den transjordanisch-arabischen Völkern verbindet, wird nicht nur genealogisch etabliert, sondern in der Gestalt Ismaels auch theologisch unter dem Segen, der Verheißung und Fürsorge des Gottes Abrahams qualifiziert. Der moderne Begriff einer „abrahamitischen Ökumene“ (K.-J. Kuschel) hat in der biblischen Genesis einen Vorläufer. So lässt sich die Geschichte von Hagar und Ismael neu verstehen.
Trouble in Abraham’s family
Der familiäre Grundkonflikt der Abrahamerzählung liegt bekanntlich in der Spannung zwischen den großartigen Ankündigungen zahlreicher Nachkommen und der Unfruchtbarkeit Saras, die mit Abraham nach Kanaan zieht. Es ist also nicht einmal ein einziges Kind zu erwarten, geschweige denn ein großes Volk (Gen 11,30-12,3). Nach Jahren des Lebens im verheißenen Land erneuert Gott seine grandiosen Verheißungen, aber die beiden sind noch immer kinderlos. Muss Abraham also seinen Knecht Eliezer adoptieren und als Erben einsetzen? So fragt er verzweifelt seinen Gott (Gen 15,2). Da verheißt Gott unter dem nächtlichen Sternenhimmel dem Abraham einen „leiblichen Sohn“ (Gen 15,4), lässt dabei aber die Frage der Mutter offen. So wird nun die tatkräftige Sara aktiv. Sie weiß, dass kein anderer als Gott für ihre Unfruchtbarkeit verantwortlich ist, und so versucht sie der gemeinsamen Kinderlosigkeit durch eine zweite Ehe mit ihrer ägyptischen Sklavin Hagar abzuhelfen (16,3), damit Abraham von ihr den „leiblichen Sohn“ bekommt, den Gott ihm verheißen, ihr aber offenbar versagt hat. Diese Initiative ist nicht negativ. In Zeiten, in denen sich alles um den Fortbestand von Familien dreht und daher die Mehrehe üblich war, ist ein solches Vorgehen nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig und wird später etwa in gleicher Weise auch bei der Familie Jakobs angewendet (vgl. Gen 30). Saras Sklavin Hagar wird hier nicht als „Leihmutter“ gesehen, die ihr Kind für eine andere Mutter (Sara) zur Welt bringt. Sie wird Abrahams zweite Ehefrau (Gen 16,3) und Ismael Abrahams erstgeborener und damit erbberechtigter Sohn, nicht der Sohn Saras durch eine Leihmutter. Freilich steht hinter dieser Ehe die Verfügungsgewalt der Herrin über ihre Sklavin. Als Hagar schwanger wird, kommt es zum Streit der beiden Frauen. Als er eskaliert, flüchtet die von Sara gequälte Hagar in die Wüste und wird dort am Brunnen Beer Lahaj Roi von Gott gerettet.
Hagar begegnet dem Engel
Die erste Begegnung mit einem Engel in der Bibel erlebt die gequälte und entlaufene Sklavin Hagar als göttliche Rettung in der Wüste. Aus seinem Mund bekommt sie die stolze Verheißung unzählbar zahlreicher Nachkommen. So etwas hören sonst nur die Erzväter Israels. Hagar wird Matriarchin eines großen Volkes. Sie wird zu Beginn allerdings auch mit der göttlichen Zumutung konfrontiert, ins Haus Abrahams und unter die harte Hand Saras zurückzukehren. Was später Abraham zweimal leidvoll erleben muss, wird hier auch Hagar zugemutet. Gottes erstes Wort ist furchtbar hart. Eine dunkle Forderung, die Gottes Verheißung in ihr Gegenteil zu verkehren scheint, steht am Anfang, damit Gottes Rettung am Schluss stehen kann. Der Sohn, den sie für Abraham gebären wird, trägt Hagars Begegnung mit dem rettenden Gott in seinem Namen: „Gott erhört“. Gott selbst bestimmt den Namen für Ismael, so wie er später auch den Namen für Isaak bestimmen wird (Gen 17,17-19), eine hohe Ehre für beide. Wegen seines schönen Erhörungsmotivs ist der Name Ismael im antiken Israel und im frühen Judentum beliebt. Noch im Talmud ist zu lesen: „Wer Ismael im Traum sieht, dessen Gebet wird erhört“ (bBer 56b). Der Wildeselspruch, der in Gen 16,12 mit Ismaels Zukunft verbunden wird, ist ein Verheißungswort und kein Gottesfluch. Er hält fest, dass Ismaels Nachkommen stolze Wüstenbewohner werden, die sich keinem Joch beugen, genauso wie die scheuen und freiheitsliebenden Wildesel. Die europäischen Bibelübersetzungen lassen den Tiervergleich weg und übersetzen „Er wird ein wilder Mensch sein“ (Lutherbibel bis zur Revision 2017). Dabei kennt die Erzählung keinen Konflikt der Brüder.
Während Gott Hagar in der Wüste rettet und ihr den Namen ihres Sohnes ankündigt, führt diese Gotteserfahrung bei Hagar dazu, dass nun sie selbst diesem rettenden Gott einen Namen gibt, der ihrer Rettungserfahrung gerecht wird: „El-Roi – Gott, der mich rettend angesehen hat“. Über die Rückkehrforderung ins Sklavenhaus sagt sie nichts. Es ist sehr auffällig. Mit dem Geschick der ägyptischen Sklavin Hagar in Abrahams Haus formen die altisraelitischen Erzähler eine „Exodusgeschichte unter umgekehrten Machtverhältnissen“ und wenden den Freiheitsimpuls der Exoduserfahrung auf die Sklavin in Abrahams Haus an.
Ismael und der Gottesbund
Zurückgekehrt, bringt Hagar ihren Sohn Ismael „für Abraham“ zur Welt, ohne dass ihre Not im Haus Abrahams eine Fortsetzung findet. So steht Ismael während des Bundesschlusses (Gen 17) neben dem Völkervater Abraham unter dem Segen und der Verheißung des Abrahambundes, der allen Nachkommen Abrahams gelten soll (V.4-8). Deshalb wird Ismael auch mit den Segensverheißungen dieses Bundes (V.20) und mit dem Bundeszeichen der Beschneidung versehen. Die übliche Interpretation, die einfach behauptet, Ismael werde in V.19-21 aus dem Abraham-Bund ausgeschlossen, geht am Text vorbei. Auf dem Höhepunkt der Bundesoffenbarung und zugleich der Abrahamgeschichte erbarmt sich Gott der Kinderlosigkeit Saras und verheißt Abraham nun auch einen Sohn von der alten Sara, die zum Kinderkriegen mittlerweile eigentlich viel zu alt ist. Diesen Wundersohn soll er Isaak nennen. Auch der hier erst angekündigte und noch nicht geborene Isaak wird in den Abraham-Bund eingeschlossen. Die Verse Gen 17,17-21 werden bisher so verstanden, als werde Ismael aus dem Bund ausgeschlossen. Dabei zeigen sie die Zuordnung der verschiedenen Abrahamsöhne in einer gemeinsamen theologischen Konzeption des Bundes, der Verheißung und des Segens, ohne die besondere Bedeutung Isaaks einzuebnen. Da Gott mit seiner Antwort in Gen 17,19-21 auch Abrahams Bitte für Ismael (V.18) erhört, ist der Beginn von V.19 nicht mit „Nein“, sondern mit „Ja, gewiss“ zu übersetzen, was die alten Übersetzungen (Septuaginta, Vulgata, Luther 1545) noch wussten. Dabei bleibt die völkergeschichtliche Dimension ausdrücklich im Blick, denn die Verheißung überreichen Segens für Ismael in 17,20 schlägt einen Bogen zur Aufzählung der zwölf ismaelitischen Völker in Gen 25. Die theologische Spannweite des Abrahambundes betrifft in Gen 17 nicht allein das Volk Israel, sondern die Völker aus der Nachkommenschaft Abrahams, deren nichtisraelitischen Teil Ismael hier repräsentiert. Da selbstverständlich auch Ismael zum Bund gehört, wird er als Sohn Abrahams beschnitten (Bundeszeichen der Beschneidung).
Gottes Zumutungen – Vertreibung, Rettung, bleibende Bewahrung
In der Abrahamfamilie wird Ismael nach der Geburt Isaaks tatsächlich zum Problem. Aber nicht, weil er seinen Mutwillen mit seinem jüngeren Bruder getrieben oder Isaak in irgendeiner Weise bedroht hat. Es ist Ismaels kindliches Lachen, Scherzen oder Spielen (hebr. mezachek), das Sara beim Entwöhnungsfest an ihren Sohn Isaak erinnert, trägt doch Isaak dieses Lachen (jizchak) in seinem Namen. Hier liegt die Wurzel von Saras mütterlicher Eifersucht, mit der sie verhindern will, dass die beiden erbberechtigten Söhne Abrahams das Familienerbe einst gemeinsam antreten. Jahrhundertelang hat man in Ismaels kindlichen „Spielen“ eine bedrohliche, aggressive Handlung gesehen (spotten, seinen Mutwillen treiben u.a.).
Während Abraham protestiert, stellt sich Gott in zunächst unbegreiflicher Weise selbst hinter Saras Vertreibungsforderung und treibt Abraham in das furchtbare Dilemma, sich zwischen seinem Gott oder seinem Sohn Ismael entscheiden zu müssen: Wen Gott liebt, den stellt er auf eine harte Probe. Die Preisgabe seines anderen Sohnes wird Gott von Abraham auch noch verlangen (Gen 22). Indem Gott die Vertreibungsforderung Saras aufnimmt, wandelt er den in der Eifersucht Saras geborenen Vertreibungswunsch in eine Prüfung Abrahams. Und indem Abraham der dunklen Gottesforderung nach Preisgabe seiner Söhne – gegen alle Einsicht und Verstehbarkeit – nachkommt, verliert er keinen von beiden. Am Rand des Todes werden beide Söhne von Gott gerettet, der eine (Ismael) verdurstend in der Wüste (Gen 21), der andere (Isaak) mit dem Messer des eigenen Vaters schon im Genick (Gen 22). Beides, die Vertreibung Hagars und Ismaels sowie die Bindung Isaaks, sind abgründige und paradoxe Episoden, die in den wichtigen Szenen bis in den Wortlaut hinein parallel formuliert sind. Sie wollen jeweils am denkbar schlimmsten Fall zeigen, wie Gott auf brutale Weise zurückzufordern scheint, was er zuvor verheißen und geschenkt hat. Sie wollen zeigen, dass auch Situationen und Lebensverhältnisse, in denen Gott dunkel und ganz unbegreiflich scheint, (wenigstens) am Ende heilvoll für alle Beteiligten ausgehen. Das ist der Sinn, auf eine so abgründige Weise von Gottes Zumutungen zu erzählen. Wie später Isaak werden auch Ismael und Hagar von Gott aus einer Situation gerettet, in die er selbst sie zuvor gebracht hat. Anschließend wird die Verheißung eines Volkes auch für Ismael bekräftigt. Der Erzähler betont ausdrücklich, dass Gott mit seiner Fürsorge auch bei Ismael in der Wüste bleibt (V.20).
Ismael nimmt eine Frau aus Ägypten und wird der Stammvater eines zahlreichen Volkes unter der Verheißung des Gottes Abraham, das in Gen 25 wie das Volk Israel als Zwölfstämme-Volk beschrieben wird. Offenbar lebt Ismael in naher Verbindung zum Haus Abrahams, denn als Abraham stirbt, begraben ihn beide Söhne gemeinsam. Da sich Ismael und Isaak nie gestritten haben, müssen sie sich auch nicht wieder versöhnen. Dennoch wird der jüngere Bruder Isaak der Haupterbe Abrahams (Gen 25,6). Der Segen des Gottes Abrahams zeigt sich im Wohlergehen zahlreicher Völker. Gen 25 bietet ein eindrückliches Tableau der vielen Völker aus der Nachkommenschaft Abrahams. Zunächst werden die Söhne Abrahams mit Ketura in die transjordanischen Lebensräume ihrer Nachkommen ausgesendet, und Isaak wird als Stammvater der Israellinie gesegnet. An ihn gibt Abraham Erbe und Familienverantwortung für Israel weiter. Danach wird die Ismaelgeschichte durch die Notiz vom Tod des Patriarchen und einen Überblick über die zwölf ismaelitischen Völker abgeschlossen. Ihre Lebensräume sind (ähnlich denen der Ketura-Söhne) die Wüstengebiete zwischen Ägypten und Mesopotamien. Gen 25,18 markiert die geografischen Grenzen des Siedlungsgebietes der Völker aus der Nachkommenschaft Abrahams (ähnlich in Gen 15,18). Man muss sich daher gar nicht wundern, dass Jahrhunderte später die islamische Tradition diesen Sohn Abrahams, der den großen Ahnen mit Arabien und seinen Bewohner*innen verbindet, als von Gott gesegneten Propheten in die eigene Traditionsgeschichte aufnahm. In der islamischen Tradition wird die Vertreibung Hagars und Ismaels in die Wüste Beerscheba (Gen 21) als Aussendungsgeschichte neu erzählt, die unter Gottes Geleit bis ins Tal von Mekka führte, weil eben schon die Bibel mit Hagar und Ismael eine komplexe Segensgeschichte erzählt. Die Riten der Wallfahrt in Mekka bewegen sich bis heute im Erinnerungsraum der Hagar-Ismael-Erzählung.
Anmerkungen
- Naumann, Streit um Erbe und Verheißung?, 107-124.
Literatur
- Naumann, Thomas: Ismael. Israels Selbstwahrnehmung im Kreis der Völker aus der Nachkommenschaft Abrahams, WMANT 151, Göttingen 2018
- Naumann, Thomas: Streit um Erbe und Verheißung? Der Fall Ismaels in der Genesis und in der christlichen Rezeptionsgeschichte, in: Kügler,
- Joachim (Hg.), Impuls oder Hindernis? Mit dem Alten Testament in multireligiöser Gesellschaft, Münster 2004, 107-124