Als Lehrkraft im Sek I-Bereich einer Oberschule habe ich diese interessante Frage schon sehr lange nicht mehr gehört. Mein erster Impuls war jedoch: Müsste man die Lerngruppen nicht doch eher danach fragen, ob das, was in der Bibel steht, tatsächlich so passiert ist (sozusagen „didaktisch“ reduziert)? Denn „Wahrheit“ im religionspädagogischen Kontext ließe sich doch auf unterschiedliche Weise mit Inhalt füllen.1
Gleichzeitig haben die Menschen, die die obige Frage entwickelt haben, sich bestimmt etwas dabei gedacht; und so gab ich diese Frage einfach mal an die Expert*innen weiter: die Schüler*innen. Diese beschäftigen sich seit acht, neun oder auch zehn Jahren im Religionsunterricht und auch im Konfirmandenunterricht mit biblischen Geschichten und können entspre-chend ihres religionspsychologischen Entwicklungsstandes Auskunft geben.
Einige der Befragten gaben an, dass es eine Glaubensfrage sei, ob man die biblischen Texte für wahr halte und wenn man glaube, dann sei auch alles in der Bibel wahr, also vermutlich „so passiert wie aufgeschrieben“. Viele formulierten Zweifel an gewissen Geschichten und antworteten auf die oben angeführte Frage: „Nein, weil sich manche Sachen dort nicht wahr anhören.” „Ja, weil es Wunder ja wirklich geben könnte!” „Ich kann mich für gar nichts entscheiden, also entscheide ich mich für beides.“ (Schülerin, 8. Klasse).
Antworten, die sich mit der Unvereinbarkeit von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Religion beschäftigten, gab es nur sehr wenige. Diese bezogen sich auf die Schöpfungserzählung und auf das „Nicht-beweisen-Können“ von z.B. Gottes Existenz. Ein eindeutiges „Nein“ war nicht unter den Antworten.
Angehende Lehrkräfte (GHRS), mit der gleichen Frage konfrontiert, berichten Ähnliches aus ihrer Praxis: Die Frage nach der Wahrheit ist eher nachrangig zu beobachten und stellt für die Unterrichtenden selten eine Herausforderung dar, weil sie in der Lage sind, die historischen Bezüge mit den Aussagen der Texte zu verknüpfen und den Schüler*innen auf diese Weise die Möglichkeit geben, die Texte auf ihre Lebenswelt zu beziehen und entsprechende Erfahrungen zu machen. Wichtig war ihnen außerdem zu betonen, mit welcher Lust die Schüler*innen sich den biblischen Texten nähern.
Offenes Formulieren von Zweifeln und persönlichen Überzeugungen in den Ausführungen der Befragten im Zusammenhang nicht nur mit dieser Frage belegt erneut die Notwendigkeit dieses Fachs in der Schule. Offensichtlich bieten diese alten Geschichten so viel „Wahrheit“ oder die Möglichkeit der individuellen Wahrheitsfindung, dass die Schüler*innen die Begegnung mit der Bibel als etwas empfinden, was „ein Gefühl von Sicherheit“ geben kann (Schülerin, 10. Klasse), aber auch die kritische Auseinandersetzung mit vermeintlich eindeutigen Aussagen fördert, z.B. zur Homosexualität: „In der Bibel steht doch etwas anderes, und die Kirche supported doch verschiedene Arten zu leben – was stimmt denn jetzt?“ (Schülerin, 9. Klasse).
Nachdem ich die Antworten der angehenden Lehrer*innen und die der Jugendlichen gelesen und ihnen zugehört hatte, wurde mir klar, dass ich sie in ihrer Kompetenz, sich der Begrifflichkeit „Wahrheit“ zu nähern, genauso unterschätzt hatte wie die Relevanz, die diesem Impuls offensichtlich innewohnt.
Ich deute das an dieser Stelle als ein gutes Zeichen: Die Befragten haben offensichtlich im Laufe ihrer Schulzeit die Möglichkeit gehabt, sich Lerngegenstände zu erschließen, sich ihnen dialogisch-kommunikativ anzunähern und eine personal orientierte „Wahrheitsfindung“ zu erleben. Arbeiten wir weiter daran!
Anmerkungen
- Theologie fragt nach Inhalten und Formen lebensbedeutsamer Wahrheit. Nicht die Sicherheit des gedanklichen Für-Wahr-Haltens, sondern das Wagnis der existenziellen
Wahr-Nehmung gilt als menschliche Entsprechung zur Wahrheit Gottes (Paul Tillich 1978).