Unterrichtliche Impulse für den Berufsschulreligionsunterricht
Sehnsucht ist eine allen Menschen vertraute Empfindung. Unsere Sehnsüchte und Hoffnungen verraten viel über uns. Durch die Beschäftigung mit Sehnsucht lassen sich viele existenzielle oder identitätsbezogene Themen aufschließen und besprechen. Sehnsüchte lassen sich oft bildhaft darstellen.
Die Idee der Sehnsuchtsorte
Entstanden ist die Idee für das Lernarrangement im ersten Lockdown im vergangenen Jahr. Von jetzt auf gleich wurde der gesamte Unterricht auf „digital“ umgestellt. Das führte dazu, dass es an vielen Stellen nur noch um die Kern- oder Hauptfächer ging und die Schüler*innen oft mit textbezogenen Aufgaben überschüttet wurden. Daraufhin entstand die Idee, den Schüler*innen und gerade den Auszubildenden nicht noch weitere Aufgabenblätter zu schicken, sondern ihnen akustische und bebilderte Nachrichten zukommen zu lassen. Diese Bildnachrichten sollten idealerweise eine religiöse Dimension einspielen, die im schulischen und betrieblichen Alltag unter Pandemiebedingungen in Gefahr stand, verloren zu gehen. Allerdings gehört es zu den Charakteristika des Berufsschulreligionsunterrichts, dass er im Regelfall im Klassenverband – also in religiös und weltanschaulich sehr heterogenen Lerngruppen – stattfindet. Für den Einstieg ist es empfehlenswert, Unterrichtszugänge zu finden, die religiöse wie nicht-religiöse Schüler*innen ansprechen. Die Idee, mit Sehnsuchtsorten zu arbeiten, war geboren!
Ein Blick auf das Foto von Michael Himmelreich genügt, um zu sehen, dass zu jedem Sehnsuchtsort eine Geschichte gehört. Können diese eher etwas abgenutzten Möbel für einen Sehnsuchtsort stehen? Sehnsuchtsorte erhalten ihre besondere Bedeutung durch die biografische Einbettung im Leben Einzelner oder von Gemeinschaften. Die Abbildungen von Sehnsuchtsorten fordern geradezu zum Erzählen auf.
Im ersten Lockdown (vor Ostern 2020) wurde den Schüler*innen durch die Lehrkraft ein kleines Video zugeschickt mit dem Sehnsuchtsort von Michael Himmelreich und einer Erzählung, was diesen Ort so besonders sein lässt. Die Auszubildenden meldeten positiv zurück, dass sie sich über die Nachricht der Lehrkraft freuten und die Geschichte anregend fanden. In einer zweiten Phase wurde die Lerngruppe gebeten, ebenfalls einen Sehnsuchtsort vorzustellen. Dies waren zumeist Urlaubsfotos oder Bilder aus der Heimat der Eltern bzw. Großeltern. In anderen Gruppen, in denen diese Übung durchgeführt wurde, gab es aber auch Bilder vom eigenen Sofa oder eine Konzertbühne.
Die Einheit macht sich zu Nutze, dass die meisten Menschen auf ihren Smartphones unzählige Bilder von Sehnsuchtsorten zur Auswahl haben. Es muss nicht lange gesucht werden, bis jede*r ein geeignetes Foto gefunden hat. Ebenso ist schnell ein kurzer Text verfasst, in dem erläutert wird, was diesen Ort so besonders macht oder warum man sich danach sehnt.
Die meisten Menschen erzählen gerne von ihren Sehnsuchtsorten. Das ist nicht zu intim und persönlich, gleichzeitig berührt es aber Wesensmerkmale des Einzelnen. In gewissem Sinne geht es um Dinge, die mich „unbedingt angehen“. Es lohnt sich daher sehr, für das Vorstellen und Reden über die Sehnsuchtsorte in den Lerngruppen ausreichend Zeit einzuräumen. (Dies kann plenar oder in Kleingruppen geschehen.) Mögliche Themen sind dabei:
• Welche Erfahrungen hat man selbst an dem Ort gemacht?
• Gehören zu dem Ort und den mit ihm verbundenen Erfahrungen
(bestimmte) Menschen?
• Ist der Ort frei zugänglich?
• Lässt sich der Ort verändern?
• Ist der Ort gefährdet?
Die Herstellung von Ton-Bild-Verknüpfungen
Bild und (biografische) Erzählung lassen sich auf vielfältige Weise technisch miteinander verknüpfen. Ich habe gute Erfahrung mit PowerPoint gemacht. Hier lassen sich Bild und Ton sehr leicht in eine oder mehrere Folien einfügen. Das Einfügen von Bildern in PPT-Dateien ist sicherlich vielen vertraut, das Verfahren beim Ton ist analog dazu. Entweder man fügt einen auf dem Rechner vorhandenen Ton ein oder man kann den Text unmittelbar auf der Folie einsprechen. Abschließend lassen sich Ton und Bild zu einer MP4-Datei also einem Video verbinden. Damit hat man eine Datei, die sich gut weiterverwenden lässt. Es ist natürlich auch auf anderem Wege möglich, solche kleinen Videos bzw. MP4-Dateien herzustellen.
Religiöse Sehnsuchtsorte
Religionen besitzen Sehnsuchtsorte. Manche davon sind heilige Orte auf dieser Welt und manche der Sehnsuchtsorte überschreiten das irdisch Vorhandene. Diese Dimension wird durch einen Sehnsuchtsort des Propheten Jesaja eingespielt. In Kap. 11 prophezeit Jesaja einen Ort und eine Zeit, in der Raubtiere und Weidetiere friedlich miteinander grasen und ein Kleinkind gefahrlos neben einer Natter spielt. Hier wird den Armen und Elenden Gerechtigkeit widerfahren und die Gewalttätigen werden von Gott in ihre Schranken verwiesen. Die prophetische Rede enthält Sehnsucht und Hoffnung auf ein Leben, das es noch nicht gibt. Hier entfaltet der Begriff „Sehnsuchtsort“ eine weitere Dimension.
Diese Weissagung wurde elementarisiert und in den Kontext heutiger sozialer Auseinandersetzungen übertragen. Dann wurde der Text mit Hilfe von PowerPoint animiert. (Auch hier sind andere Produktionsweisen natürlich möglich.)
Durch die Prophezeiung Jesajas wird erkennbar, wie schwer manche Sehnsuchtsorte zu erreichen sind. Vielleicht sehnt sich eine Schülerin nach Gerechtigkeit und Versöhnung nach familiärer Gewalterfahrung. Oder ein Schüler sehnt sich nach seiner Heimat, aus der er geflohen ist und die es so nicht mehr gibt. Oder ein Jugendlicher hadert mit dem gewählten Beruf, hat aber Sorge einen Neubeginn zu wagen.
Daher wäre es auch falsch, die Sehnsuchtsorte der Schüler*innen und die biblische Prophezeiung in einem polaren Schema von weltlich-immanent gegenüber himmlisch-transzendierend zu deuten. Die Worte Jesajas finden ihre (Er-)Füllung in irdischen Bildern und verheißen auch im Gegenwärtigen Veränderung. Genauso verbirgt sich hinter den Sehnsüchten der Schüler*innen mehr als nette Urlaubsromantik.
Verbindung der verschiedenen Perspektiven
Um die beiden Perspektiven miteinander zu verknüpfen, ist es hilfreich, wenn man diese bei der Präsentation der Sehnsuchtsorte der Schü ler*innen schon angebahnt hat. Methodisch geschieht die Verknüpfung über ein fiktives Interview zwischen den Lernenden und Jesaja.
Beide Fragerichtungen sollen in den Blick genommen werden: Fragen aus der Lerngruppe an Jesaja und Fragen von Jesaja an die Lerngruppe. Nachfolgend finden sich einige mögliche Fragen. Gut vorstellbar erscheint auch, mit der Lerngruppe selbst mögliche Fragen zu sammeln und / oder die untenstehende Liste zu ergänzen. Die Fragen werden in Einzelarbeit beantwortet.
Fragen an Jesaja:
• Was kann man tun, um den Sehnsuchtsort zu erreichen?
• Glaubst du, dass du in deinem Leben den Sehnsuchtsort sehen
wirst?
• Gibt es etwas, das du dir für dich wünschst?
• Möchtest du mit zu meinem Sehnsuchtsort kommen?
Umgekehrt könnten Fragen von Jesaja an die Lerngruppe sein:
• Wie gefällt dir mein Sehnsuchtsort?
• Glaubst du, dass wir den gemeinsam erreichen können?
• Ist in meiner Sehnsucht Platz für deinen Sehnsuchtsort?
• Ist in deiner Sehnsucht Raum für meine Hoffnungen?
Abschließend kann gemeinsam überlegt werden, was Jesaja wohl heute prophezeien würde.
Mögliche weitere Schritte
Wenn man möchte, lassen sich in einer solchen Einheit auch noch weitere Sehnsuchtsorte sowohl als Text als auch im Videoformat einspielen. Denkbar wären z.B. Auszüge aus dem Gedicht von Amanda Gorman, das sie zur Amtseinführung von Präsident Biden vortrug. Oder das Lied (inklusive Video) von Bosse „Das Paradies“ (Bosse – Das Paradies (Official Video) –YouTube). Möglich ist ebenso, dass man einen weiteren biblischen Text auf seine Sehnsuchtsdimensionen hin befragt. Das könnten andere prophetische Aussagen oder auch ein Text wie Psalm 23 sein.
Informationen:
- Das Transskript des Videos zu Jesaja 11 ist im Downloadbereich unter www.rpi-loccum.de/pelikan als pdf- Datei abrufbar.
- Sehnsuchtsort des Propheten Jesaja: https://youtu.be/ 578crbXQEaE
- „Sehnsuchtsorte” von Michael Himmelreich: https://youtu.be/10xwC-sDhHc.