Leichtkontaktboxsport – Kampfsport und Kampfspiel in der Schule

Von Arwed Marquardt

 

 

Einleitung

Ziel dieses Beitrages ist es aufzuzeigen, wie eine kämpferische Sportart wie der Boxsport im außerunterrichtlichen Rahmen an Schulen so umgesetzt werden kann, dass die Freude an einer spielerischen und doch kämpferischen Auseinandersetzung gewinnbringend möglich ist.

Im Zentrum dieses Beitrages stehen einfache Übungen und Spielformen, Sensibilisierungsaufgaben sowie Differenzierungsformen für die Arbeit in heterogenen Lerngruppen. Nach einer kurzen Einführung in den Sport werden zuerst einige Aspekte des sportpädagogischen Angebotes skizziert: Impulskontrolle, Gender und Inklusion. Anschließend werden der methodische Zugang und der Materialbedarf vorgestellt. Die abschließende Übungskartei, die auf der Website des RPI als Download bereitsteht, ermöglicht Anregungen zur Planung eigener Stunden und kleinerer Einheiten.1

Grundlage dieses Praxisbeitrages ist ein Projekt des Niedersächsischen Kultusministeriums, das kooperativ mit dem Landessportbund Niedersachsen, dem Niedersächsischen Boxe-Sport-Verband sowie dem Institut für Sportwissenschaft der Leibniz Universität Hannover durchgeführt und 2010 abgeschlossen wurde.2 Leichtkontaktboxen ist für den Nachmittagsbereich an Schulen genehmigt. In diesem Beitrag werden nur solche spielerischen Übungen aufgezeigt, bei denen der mögliche Körperkontakt auf ein Minimum reduziert ist.

Als Herkunftsland des Leichtkontaktboxens kann Frankreich angesehen werden. Dort wird es als Boxe Éducative angeboten und ist sowohl in Vereinen als auch in der Sozialarbeit stark verbreitet.3 Boxe Éducative kann als Einstieg in den olympischen Boxsport angesehen werden: Die meisten französischen Olympia-Teilnehmer haben ihre ersten boxsportlichen Erfahrungen mit Boxe Éducative gesammelt. Seit einigen Jahren gehen vom Boxe Éducative bzw. Light-Contact Boxing wichtige Impulse für den Behindertensport aus.4

Impulskontrolle

Die Fähigkeit, Kontrolle über die eigenen Impulse auszuüben, ist im Boxsport eine besondere Herausforderung. Die Schläge, Blöcke und Verteidigungen werden mit fortschreitender Übung so inkorporiert, dass sie intuitiv zur Verfügung stehen. Die besondere Bedeutung, Impulse zu kontrollieren, ist im Falle des Leichtkontaktboxens besonders evident, denn harte Schläge sind verboten. Die Schüler*innen müssen sich so kontrollieren können, dass auch beim Sparring die Sicherheit des*der Partner*in jederzeit gewährleistet ist. Erfahrungsgemäß fällt dies leichter, als Lehrkräfte es vermuten. Dennoch müssen Aufgaben zur Entwicklung der Impulskontrolle zentraler Bestandteil des Unterrichts sein. Von zentraler Bedeutung sind hierfür sogenannte „Sensibilisierungsübungen“. Es scheint paradox: Kerngedanke dieser Herangehensweise ist, dass die übenden Partner*innen sich absichtlich treffen sollen. Nur so kann der vorsichtige, sanfte Schlag entwickelt werden.5

Sensibilisierungsübungen müssen adäquat thematisiert werden: Die Schüler*innen sollten bereits erste Erfahrungen mit Schlagbewegungen gesammelt haben. Bei Bedarf sollen sie die Möglichkeit bekommen, mit dem*der Übungspartner*in über die Schlaghärte zu sprechen, um zu verstehen, dass es sich hierbei um eine Übungssituation zur Kontrolle der Schlagstärke handelt und es beim späteren Sparring natürlich darauf ankommt, möglichst nicht getroffen zu werden.

Boxen Mädchen anders? Aufbrechen von Geschlechterstereotypien

Es kann beobachtet werden, dass Mädchen nicht anders boxen als Jungen. Sie haben auch nicht mehr Angst vor dem Körperkontakt beim Sparring und müssen – ebenso wie Jungen – das leichte Schlagen erlernen. Es ist allerdings häufig festzustellen, dass Jungen bereits nach kurzer Zeit Sparring durchführen wollen. Technische Übungen sind für sie oftmals zweitrangig und es ist nicht immer leicht zu vermitteln, dass Grundtechniken notwendig sind und die „Kunst des Boxens“ erst ausmachen. Manche Mädchen hingegen können es sich erst nach längerer Übungszeit vorstellen, eine kampfähnliche Begegnung zu haben; der Schritt zu einem authentischen Leichtkontaktsparring wird zumeist dann vollzogen, nachdem ausrei-chend positive Erfahrungen gewonnen worden sind.

Beide Geschlechter indes zeigen großes Interesse am Image des Boxsports als Fitnessprogramm. Sie versprechen sich durch die anstrengenden Übungen körperliche Attraktivität: Mädchen erhoffen sich oft Gewichtsreduzierung, Jungen versprechen sich dagegen meist einen muskulösen Oberkörper, genauer gesagt kräftige Oberarme und definierte Bauchmuskeln. Hierbei zeigen sie oftmals eine überraschende Offenheit im Umgang mit ihrem eigenen Körper und dem ihrer Mitschüler. Man kann diese Stereotypien belächeln oder kritisieren – es stellt sich allerdings die Frage, wo Mädchen und Jungen im schulischen Kontext diesem offensichtlichen Bedürfnis nach dem Umsetzen ihrer Vorstellungen von Attraktivität und körperlicher Kraft nachkommen können und dies als authentischer Anlass für Gespräche genutzt werden kann.

Die Entscheidung für gemeinsamen oder getrennten Unterricht hängt ab von den angestrebten Zielen: Sollen Mädchen beispielsweise innerhalb eines geschützten Rahmens die Möglichkeit erhalten, sich auszuprobieren, ihre Kräfte kennenzulernen und über Gewalt und Gewalterfahrungen zu sprechen? Dann bietet sich eine reine Mädchengruppe an. Aber auch die andere Perspektive kann eine Entscheidungshilfe sein: Sollen Jungen ohne den Druck, sich vor dem anderen Geschlecht präsentieren und profilieren zu müssen, trainieren und auch ihre Sorgen und Erfahrungen mit Gewalt thematisieren können? Dann könnte eine homogene Jungengruppe in Erwägung gezogen werden.

Ein großer Vorteil des koedukativen Trainings besteht bei dem vorgestellten Ansatz des Leichtkontaktboxens darin, dass sich die Jungen und Mädchen gemeinsam mit einem neuen Sport auseinandersetzen und hierbei Lernende sind. Es stellt sich in den Gruppen häufig heraus, dass es durchaus nicht nur die Jungen sind, die die Techniken und Partnerübungen schnell und sicher umsetzen können. Da es nicht auf Schlaghärte und Körperkraft ankommt, können sich Jungen auf diese vermeintlichen Vorteile nicht berufen und müssen oftmals feststellen, dass Mädchen im Leichtkontaktboxen ihnen ebenbürtig sind. Hierin liegen große Lernchancen in Bezug auf vorhandene Geschlechterstereotypien.

Eine Möglichkeit, den verschiedenen Bedürfnissen von Jungen und Mädchen gerecht zu werden, die mit der Teilnahme an einer Leichtkontakt-AG Rechnung verbunden sein können, wäre die Differenzierung nicht nur nach Leistung, sondern phasenweise auch nach Interessensschwerpunkten. Eine Gruppe kann z.B. dem Bedürfnis nach „Kraftmeierei“ nachkommen, etwa durch Boxschläge gegen Sandsäcke. Die andere Gruppe perfektioniert eine Partnerübung oder erarbeitet eine Choreografie aus Angriff und Verteidigung. Möglicherweise ergeben sich hieraus unerwartete Zuordnungen!

Boxing Inclusion: Können Rollstuhlfahrer boxen?

Inklusion ist die aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderung. Alle Schulen und Schulformen sind ge-fordert, diese umzusetzen. Durch adäquate Differenzierungsmaßnahmen und eine entsprechende Haltung der anleitenden Lehrkraft ist es möglich, dass auch Kinder und Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigungen Leichtkontaktboxen erlernen. Die Schule ist damit der einzige Ort, an dem Schüler*innen mit Beeinträchtigungen Leichtkontaktboxen erlernen können. In Frankreich und Großbritannien gibt es eine Reihe von Projekten und Vereinen, die Leichtkontaktboxen für Menschen mit und ohne Handikap anbieten. In Frankreich haben viele Boxvereine eigene Sparten für Rollstuhlfahrer*innen eingerichtet, die untereinander Wettkämpfe ausführen.6 

Koordinative Übungen, Aufgaben zur Raum-Lage-Wahrnehmung und Auge-Hand-Koordination nehmen insbesondere bei inklusiv arbeitenden Lerngruppen einen hohen Stellenwert und viel Zeit ein. Zeit, die gut investiert ist.

Der methodische Zugang

Der erste Schritt besteht in der Klärung von Führungs- und Schlaghand. Es ist für Schüler*innen nicht ein-fach zu verstehen, dass die eigentlich schwächere Hand im Boxsport die aktivere Hand – nämlich die Füh-rungshand – ist. Damit eine eindeutige und funktionale Unterscheidung der beiden Hände ermöglicht wird, kann die Führungshand markiert werden (durch Klebepunkt, einen Boxhandschuh o.ä.). Das Einnehmen der Grundstellung und erste Schrittübungen können anfangs durch Bodenmarkierung unterstützt werden.

Grundtechniken des Leichtkontaktboxens bilden die Basis, um aus Partner*innenübungen den größtmöglichen Effekt für soziale und emotionale Kompetenzen zu erzielen und – weiterführend – technisch-taktische Aspekte vermitteln zu können. Die meisten Jungen wollen sich möglichst schnell die Handschuhe anziehen und „in den Ring“ steigen. Wenn man dies zulässt, erlebt man nicht selten eine in aller Regel vorsichtige, aber sehr unkoordinierte und eher willkürliche Balgerei. Dies mag Spaß machen und in Einzelfällen auch sinnvoll sein. Damit Leichtkontaktboxen aber sicher und langfristig erfolgreich ausgeübt werden kann, ist ein Grundstock an Techniken unabdingbar. Das Umsetzen der in der Übungskartei näher beschriebenen Übungen und Techniken halte ich innerhalb eines Schulhalbjahres bei einer Übungsfrequenz von 90 Minuten pro Woche für erreichbar.

Zur Förderung von Reaktions- und Antizipationsfähigkeit ist der Einsatz von beweglichen, pendelnden Trainingsgegenständen sinnvoll: Tennisbälle, Pendelbälle, Doppelendbälle, Reflexbälle.

Die Übungen leitet man zunächst in Einzelarbeit an; hierbei bietet sich als Einstieg die frontale Lernsituation an. Achtung: Spiegelverkehrtes Vormachen kann die Umsetzung erschweren! Im Sinne der Entwicklung von Fairness und der Herausforderungen, die sich durch das Partner*innentraining ergeben, sollen frühzeitig entsprechende Übungen und Spiele eingebaut werden. Nach einiger Übung sind die Schüler*innen in der Lage, einfaches Pratzentraining7 miteinander durchzuführen. Eine klare Aufgabenstellung ist hierfür unabdingbar. Wichtig ist, dass Schlaghärte nicht das entscheidende Kriterium ist, sondern es vielmehr auf Ausführung, Distanz, Treffgenauigkeit und Schnelligkeit ankommt.

Welches Material wird benötigt?

Es sind nicht viele Ausrüstungs- und Trainingsgegenstände notwendig. Aus meiner Erfahrung ist allerdings auf qualitativ hochwertiges Material zu achten, da dieses die Belastungen besser aushält und so langfristig eine dämmende Wirkung zu erzielen ist. Bei Handschuhen ist auf eine ausreichende Polsterung zu achten.

Wenn nur eine oder mehrere Schnupperstunden angeboten werden, müssen die Schüler*innen noch keinen Mundschutz haben. Wenn eine feste AG eingerichtet werden soll, ist ein individuell anzupassender Mundschutz allerdings notwendig, denn bereits leichte und versehentliche Schläge gegen den geöffneten Unterkiefer können schmerzhafte Verletzungen hervorrufen.

Elastische Bandagen stützen das Handgelenk und die Knöchel. Trikothandschuhe sind eine sinnvolle hygienische Ergänzung, sie werden über die Bandagen gezogen oder bei Anfänger*innen alternativ verwendet.
Ein Kopfschutz ist meines Erachtens hingegen nicht notwendig. Die schlagabsorbierende Wirkung eines Kopfschutzes ist eher gering und spielt im Leichtkontaktsparring ohnehin keine Rolle.

Vorhandene Sportgeräte sollten alternativ eingesetzt werden wie zum Beispiel:

•    aufgerichtete und an der Wand befestigte Weichböden (eventuell mit Trefferflächen markiert),

•    Matten auf bewegliche Mattenwagen,

•    weiche Bälle, die an einer Schnur oder in einem Ballnetz aufgehängt werden.
 

Ein Boxring erhöht die Authentizität des Sports. Außerdem können fortgeschrittene Schüler*innen technisch-taktische Kompetenzen erwerben. Der Ring kann problemlos aus einem langen Seil und vier Haltepunkten aufgebaut werden.

Die Praxis zeigt, dass der Leichtkontaktboxsport für viele Schüler*innen eine sinnvolle Ergänzung des üblichen schulischen Sportangebotes darstellen kann. Nicht nur, dass die sozialen und emotionalen Kompetenzen geschult werden (Impulskontrolle, Wahrnehmung des eigenen und fremden Körpers, Umsetzung von Regeln, hoher Grad an Strukturiertheit) – diese Boxsportvariante ist auch geprägt von seinem spielerischen Charakter. Begleitende Gruppenspiele und -aufgaben unterstützen dies.8

Anmerkungen

  1. Eine Fülle von Übungs- und Spielformen bietet das Buch von Cougoulic/Raynoud/Cougoulic.
  2. Vgl. Marquardt, Boxe-Éducative; ders., Boxsport im Aktionsprogramm Schule-Sportverein.
  3. Vgl. Marquardt, Boxsport im Aktionsprogramm Schule-Sportverein.
  4. Vgl. Käser/Marquardt, Boxe Éducative – Leichtkontaktboxen.
  5. Übungen hierzu finden sich in der Übungskartei im Download-Bereich unter rpi-loccum.de/pelikan.
  6. Die umfangreichen Beispiele auf youtube geben einen guten Eindruck in die Vielfalt dieser Angebote.
  7. Als Pratzen bezeichnet man spezielle Handschuhe, deren Innenflächen als Trefferflächen gearbeitet sind (siehe Übungskartei). Für den Einstieg können hierfür normale Boxhandschuhe verwendet werden.
  8. Die zahlreichen Veröffentlichungen bieten eine Fülle an Anregungen, so z. B. Baer, 666 Spiele für jede Gruppe für alle Situationen.

 

Literatur

  • Baer, Ulrich: 666 Spiele für jede Gruppe für alle Situationen, Seelze 2009
  • Cougoulic, Pierre; Raynoud, Stéphan & Benoit Cougoulic. La Boxe Éducative-200 jeux et situations pédagogiques, Paris 2003.
  • Käser, Stefan/Marquardt, Arwed: Boxe Éducative – Leichtkontaktboxen: „sensibel werden“. In Kuhn, Peter / Lange, Harald / Leffler Thomas u.a. (Hg.): Kampfkunst und Kampfsport in Forschung und Lehre 2011. Schriften der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft, 220, Hamburg 2011
  • Marquardt, Arwed (2010a). Boxe-Éducative: Rahmenkonzept für ein Angebot im außerunterrichtlichen Schulsport, Hannover: Institut für Sportwissenschaft 2010. www.mk.niedersachsen.de/download/55990/Rahmenkonzept.pdf (abgerufen am 17.09.2020)
  • Marquardt, Arwed (2010b). Boxsport im Aktionsprogramm Schule – Sportverein. Unveröffentlichter Projektbericht, Hannover 2010. http://docplayer.org/26219877-Boxsport-im-aktionsprogramm-sportverein-in-niedersachsen-projektbericht-leibniz-universitaet-hannover-institut-fuer-sportwissenschaft.html (abgerufen am 17.09.2020)
  • Marquardt, Arwed: Boxsport und Schule – eine enaktive Ethnographie über sozio-emotionale Praktiken. Bad Heilbrunn. Zugleich Habilitationsschrift, Leuphana Universität Lüneburg, in Vorbereitung