Religion ist die „Kultur des rationalen Verhaltens zum Unverfügbaren“2 , so habe ich es von Hermann Lübbe gelernt. Spielen gehört zum Menschsein, ist Ausdruck von Freiheit und ist somit gleichermaßen eine besondere Form der Kultur des leiblichen Verhaltens zu Erfahrungen des Unverfügbaren – eine kulturelle Anerkennung von Kontingenz. Theologie ist wie die Pädagogik, die zugleich die Grenzen des Spielbaren in der Wirklichkeit markiert, selbst nicht frei von Spielen.3 Religiöse Bildung ist undenkbar ohne den bildenden, pädagogischen Umgang mit Erfahrungen des Unverfügbaren, mit Kontingenz.4
Dass die biblische Heilsgeschichte nicht der Dimensionen von Ritual und Drama entbehrt, zeigt die Passionsgeschichte. Passion ist ein theologisches Kernstück von Unverfügbarkeitserfahrung. In ihr werden Lebenserfahrungen wie Leid und Tod, Vertrauen und Verrat erzählt. Eine Vorlage für Passionsspiele bietet einerseits die biblische Erzählung als erzählter und geschriebener Text. Dieser wiederum ist eingebunden in eine theologische Heilsgeschichte vom Anfang bis zum Ende. Wer die biblische Passionsgeschichte kennt, weiß um dieses „Skript“ und deren Ausgang.
Das Passionsspiel unterscheidet sich von anderen Spielen: Nicht Lust, sondern Leiden steht im Fokus. Den biblischen Spielakten von Verrat, Verurteilung und Verspottung folgen die Kreuzigungsszene und damit der Tod. Geschehen kommt handlungsmäßig damit an die dramatische wie dramaturgische Grenze von Leben und Tod. Theologisch deutlich hinterfragt ist: Gehört die Passion zu diesem großen Spiel (analog zu den sog. großen Erzählungen)? Ist sie dort eingewoben als Teil der Vorsehung, des Heilsplanes, oder fällt sie unter die Eigendynamik der (ungeplanten) Spielzüge, die in Kauf genommen werden oder die gar aufgrund anderer Machtverteilungen unabänderlich sind? Dass Jesus in Bezug auf seine Hinrichtung ein Spielball politischer Mächte war, ist die eine, nämlich opfertheologische Seite der Medaille.
Eine andere Seite ist die rituelle Vergegenwärtigung in verschiedenen Formen von Passionsspielen, welche die heute schwer nachzuvollziehende Heilswirkung leibräumlich rekonstruieren. Viele mediale Inszenierungen nehmen das Szenario der Passionsgeschichte auf.5 Schon Johann Sebastian Bach nimmt wie alle anderen Komponisten und Arrangeure bei seiner Matthäus-Passion eine Vorlage und gestaltet diese zum rituellen, aber nachösterlichen liturgischen Nachvollzug. Seine sogenannten oratorischen Passionen sind Oratorien, im Grunde liturgische Opern, die Passion musikalisch und mit Rollen inszenieren, also in Szene setzen. Zu den Rollen gehört dort auch die Gemeinde, die innerhalb der Passion durch Choräle eingebunden ist.
Handelte es sich dabei ausschließlich um ein methodisches Unterfangen, um zu zeigen, wie die Geschichte stattgefunden haben könnte, wäre das Spiel eine Farce: ein Historisieren einer vermeintlichen Deckung von Wirklichkeit und Wahrheit. Es geht hier vielmehr um performative Akte, in denen der ursächliche Entstehungszusammenhang – also der enge ätiologische Bezug – von Drama und Liturgie deutlich wird. Im Spiel wird aus Spiel unabdingbarer Ernst, und doch ergibt sich im wiederholenden Spielen auch Spiel-Raum – so funktioniert die Mnemotechnik des Passionsspiels als Ritual und Drama. Das Spiel und seine Spielstationen (Kreuzweg) werden jedes Jahr in der Passionszeit an originären Orten gelebter Religion außerhalb von Bildungszusammenhängen rhythmisch wiederholt. Und doch sind sie als solche nicht im Sinne der Gleichheit wiederherstellbar: Jede neue Aufführung, jedes neue Spiel kostet neue Energie; sie wird ein wenig anders ausfallen als das letzte Mal, sie bezieht das Weltgeschehen je neu ein. Dieses Spiel erfordert eine Regie, auch wenn die Spielzüge eigentlich klar sind. Aus theologischen Gründen ist inhaltlich mit dem Ein-für-allemal der Tod besiegt und seine Sünde, der unüberbrückbare Graben zwischen Leben und Tod, getilgt – und doch brauchen Christ*innen die wiederkehrende Erinnerung, das Ritual der erneuten Begehung, genau wie an Weihnachten. Das Passionsspiel, das an eine Vorlage gebunden ist, wird also eher zu einem rituell-dramatischen Spiel zur Passion.
Warum aber spielt man ein Spiel mit Religion in Bildungskontexten, in der Schule? Gibt es außer der pädagogischen wie religionspädagogischen Aufwertung des kulturellen Erinnerns andere Gründe?
Auf der Bühne der Schulaula stehen drei Jungen nebeneinander, dem Publikum zugewandt, und blicken starr ins Leere. Sie inszenieren eine Passage des Buches Hiob. „Ausgelöscht!“, schreit der eine. „Ausgelöscht“, echot es aus mehreren Richtungen etwas gedämpfter. „Ausgelöscht“ – wieder folgt das Echo. „Ausgelöscht sei der Tag meiner Geburt!“ Der Junge sackt in sich zusammen und fällt auf die Erde. Zwei Gestalten gehen auf ihn zu und legen ihm nacheinander die Hand auf die Schulter: „Wenn du aber dich beizeiten zu Gott wendest und zu dem Allmächtigen flehst, so wird er deinetwegen aufwachen und wird wieder aufrichten deine Wohnung, wie es dir zusteht.“ – „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott?“
Eine Lerngruppe des 9. Jahrgangs im Religionsunterricht erprobt ein Texttheater zum Buch, zur Gestalt und zum Problem des Hiob. Dabei geht es um Folgendes: Noch bevor in Goethes Faust Satan und Gott eine Wette abschließen, gibt das alttestamentliche Hiobbuch nahezu ein Skript für eine Inszenierung zwischen Himmel und Erde. In der Rahmenerzählung des Buches geht es um das Schicksal des lebenstüchtigen Mannes Hiob im Lande Uz, dem aufgrund einer Wette zwischen Satan und Gott alles genommen wird. Der Mittelteil des biblischen Buches besteht aus Klagemonologen Hiobs und Dialogen zwischen Hiob und seinen Freunden, die ihm Ratschläge erteilen, sowie einer existenziellen Auseinandersetzung zwischen Hiob und Gott. Am Ende wird die Rahmenhandlung wieder erzählerisch aufgenommen; Hiob bekommt in einer Art Happy End nicht nur alles Verlorene wieder zurück, sondern ein viel reicheres Leben als zuvor.
Im Religionsunterricht begeben sich die Lernenden in die Lage eines entsprechenden Menschen, der großes Leid erlebt; sie erfühlen und überlegen, worin Hiobsbotschaften in der Lebenswelt bestehen können. Anschließend werden die Rollenmanuskripte – lange Monologe und Dialoge – gefiltert und wichtige Stellen für eine gemeinsame Inszenierung erprobt. Dazu üben sie das laute und klare Sprechen auf einer Bühne; sie versetzen sich in die Rollen des Hiob und der Freunde, die ihm Ratschläge geben; sie nehmen Körperhaltungen ein, probieren Gesten und Gebärden aus und arbeiten an ihrer Mimik. Sie lassen alles wirken.
Am Ende dreht ein Schüler mit seinem Smartphone diese Szenerie zu einem Videoclip.
Selbst ein wahrlich ernstzunehmender Unterricht wie Religionsunterricht gibt sich dem Spielen hin. Die Religionspädagogik hat spätestens seit dem Beginn des „ästhetischen Jahrzehnts“ (Hermann Timm) entdeckt, dass der sinnlich-ästhetische, wahrnehmende wie darstellende und auf diese Weise mitteilende Zugang zu religiösen Texten, Themen und Fragen Lernende anders in den Unterricht einbindet, die Begegnung mit dem Fremden, Anderen an sich, auf eine menschliche und pädagogisch leichtere Art und Weise anbietet.6 Über Religion nicht nur zu reden, und sei es auch in diskursiven Sprachspielen, sondern Religion zu spielen und sie so zur Aufführung zu bringen, respektiert, dass Religion wie Leben eigene, szenisch begreifbare Wirklichkeiten in sich tragen. Das Spiel zu Hiob nimmt spielend ernst, dass leid-volle ebenso wie wunder-volle Wandlungen zum Leben dazugehören, und fragt nach den Verantwortlichkeiten. Eine biblische Gestalt, ein biblisches Buch auf eine Kernaussage und repetierbare „Message“ zu reduzieren, ließe den Charakter der Verdichtung, die eine leibräumliche Entfaltung braucht, außer Acht. Selbst das bloße Lesen der Faust-Tragödie gewinnt für Neuleser*innen erst dann an Bedeutung, wenn sich zumindest vor dem inneren Auge nicht nur Buchstaben zu Text reihen, sondern Geschehen wie ein Film ab-spielt. Lehrer*innen wissen um diese ästhetischen Signaturen: Im Musikunterricht werden nicht nur Partituren gelesen, sondern Musik wird leiblich gespielt, d.h. gehört, gesungen, instrumentalisiert; im Sportunterricht werden nicht nur Volleyballregeln gelernt, sondern es wird auch Volleyball gespielt; im Deutschunterricht wird nicht nur über Gedichte gesprochen, sondern diese werden längst auch spielerisch rezitiert und inszeniert. Der Physikunterricht diskutiert nicht nur das Verhalten von Druckluft, sondern erprobt es – experimentell. So macht auch ein solcher Religionsunterricht rituell und experimentell begreifbar, dass Religion, um ebenfalls wahrgenommen zu werden, das Wahrnehmen und das Aufführen, das experimentelle Erproben mit Spieler*innen und Zuschauer*innen braucht – in selektiver Authentizität.
Im religionspädagogischen Sinn ist bei beiden Beispielen der leitende Gedanke: Wie sieht die Außen- und Innenwelt von Leiden aus? Welchen Weg bietet die christliche Religion im Sinne von heilsamer Verwandlung an? Wie gewinnen Schüler*innen ein lebendig begründetes Verhältnis zu diesen Offerten – also Resonanzen zu Religion? Die Füllung von Rollen und Spielen geschieht unter Einbezug ihrer Leiblichkeit, deren subjektorientierten Verständnisses und deren ästhetischer bzw. religiöser, pathischer Erfahrung. Letztere ist nicht das vorrangige Ziel; aber ebenso verkrümmt wäre ein Unterricht, der auch in Sachen Religion Erfahrung, Wahrnehmung, Darstellung ausschließt. In diesem Sinne ist Unterricht nicht nur ein Gedankenspiel, sondern geht verantwortlich „spielend“ und leibräumlich erprobend auf die Welt und ihre Phänomene zu.
Leitend können in der Religionsdidaktik dabei trotzdem unterschiedliche Interessen sein: Zum einen kann es eher um ein im weiteren Sinne liturgisches Lernen in der Schule gehen, das dem ewigen Verhältnis von Gott und Mensch durch den Einbezug des Spiels – einer substanziell und phänomenal anderen Wirklichkeit, die mit dem Erscheinen Gottes in der Wirklichkeit rechnet – Spielformen gibt und die Gestaltung dieser Formen pädagogisch erprobt. Dort wird nicht einfach Bibel nachgespielt, aber auch nicht ein intrapsychischer Prozess dargestellt, sondern eine religiös gegebene Vorlage wird inszeniert unter den Bedingungen gegenwärtiger (biografischer, kultureller, gesellschaftlich-politischer) Lebenswelt. Den Kontext bildet eine Plausibilität, die stets mitbedenkt, warum und wofür es gut ist, sich mit Religion zu befassen. Ziel ist, dass Religion nicht nur Relevanzerfahrungen erzeugt, sondern wirksame Resonanzen erbringt, indem das Antworten auf Lebensbezüge und -herausforderungen erprobt wird.7
Dafür kann zum anderen die Frage nach einer Ästhetik, die Ethik menschlich macht, leitend sein. Ein Religionsunterricht achtet darauf, dass Didaktik den leiblichen Umgang mit dem Verschwiegenen, Unbewussten und Ungesagten im Spiel zur Geltung bringt: „Der Mut, den es angesichts der Zweideutigkeiten des Lebens bedarf, kann aber nicht in Lernprozessen freiwerden, die sich mit den Zwängen des unbewussten Anderen entziehen und Schüler zum Spiel mit diesem dämonisierten Anderen befähigen. Es wird eine Art pädagogisches Masken-, Rollen- oder Puppenspiel sein müssen, ein Maskenspiel mit den Dämonen unserer Gesellschaft und Zeit, vielleicht auch mit den persönlichen, eigenen Dämonen. Deshalb sind Unterrichtsverfahren zu suchen, die das Argumentieren an das Leben und die Struktur anbinden […] und die alles Erleben und alle Erfahrungen mit Handeln, Spielen und Diskutieren ins Wahrnehmen, Beobachten, Denken und Argumentieren einbringen.“8 Damit ist auch klar, dass solcher Unterricht Spiel postmodern, aber keinesfalls „postfaktisch“ versteht. Das Ringen um die Wirklichkeit auf der Suche nach Wahrheit bleibt eine ständige ernste Herausforderung.
In jedem Fall meint religiöse Bildung mit dem Spiel weder ein Nach-Spiel theologischer Sachentscheidungen noch ein beliebiges Ausspielen unbegrenzter Möglichkeiten. Mit dem Spiel öffnet sich ein Resonanzraum für kulturelle religiöse Bildung. Religionsunterricht ist der spielend eingetragene Ernstfall wie die Probe aufs Exempel der rituell-dramaturgischen Gestaltung religiösen, lebens-fähigen und -gestaltenden Lebens: aus meiner Perspektive im theologischen Horizont „,was Christum treibet‘, bisweilen sogar das, was Christum übertreibet“.9 In jedem Fall erfolgt auf diese Weise eine unterrichtliche Form der Annäherung an Fremdes; religionsdidaktisch kommt es darauf an, das Spiel mit den lebenswerten Lebens-Formen zu ermöglichen, um die Gestaltung und das ernsthafte Nachdenken über Leben im Gegenüber des Anderen und im Miteinander mit anderen zu ermöglichen und das Antworten auf Unverfügbarkeitserfahrungen zu fördern.
Anmerkungen
1. Veränderte Fassung der Erstveröffentlichung „Passions-Spiele – religionspädagogisch, performativ“ zum univer-sitären Abschied von Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann – und weiterhin ihm gewidmet nach 27 Jahren Passionsse-minar.
2. Vgl. Lübbe: Religion nach der Aufklärung;
3. Vgl. auch Klie, Thomas: Immer mal wieder gespielt. Zur sprunghaften Rezeption des Spielbegriffs in der Prakti-schen Theologie, in: Magazin für Theologie und Ästhetik. Nr. 24, www.theomag.de/24/tk1.htm (abgerufen am 7.10.2020)
4. Lübbe unterscheidet Kontingenzbewältigung und Kontingenzvergegenwärtigung; Kontingenz bewältigen heißt: Kontingenz anerkennen (vgl. a.a.O., 165).
5. Der Dokumentarfilm „Der Sohn Gottes“ von Otto Dietrich gibt einen guten Überblick über mediale Inszenierungen der Passionsgeschichte, stellt vier verschiedene Szenarien dar und kommentiert sie. www.dersohngottes.de.
6. Vgl. Klie / Leonhard, Schauplatz Religion; Leonhard / Klie, Performatives Lernen und Lehren von Religion.
7. Vgl. Leonhard, Resonanz und Performative Didaktik.
8. Zilleßen / Gerber: Und der König stieg herab von seinem Thron, 39.
9. Teckemeyer / Schroeter-Wittke, Performative Didaktik – Erinnern und gestalten, 22.
Literatur
- Klie, Thomas / Leonhard, Silke (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer performativen Religionspädagogik. Leipzig 22006
- Leonhard, Silke / Klie, Thomas: Performatives Lernen und Lehren von Religion. In: Bernhard Grümme / Hartmut Lenhard / Manfred L. Pirner (Hg.): Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch. Stuttgart 2012, 90-104
- Leonhard, Silke: Resonanz und Performative Didaktik, in: Leonhard, Silke / Hanusa, Barbara (Hg.): Kompetenz, Performanz, Resonanz. Konzeptionelle Perspektiven zu Religionsdidaktik im Gespräch, Loccumer Perspektiven, erscheint Rehburg-Loccum 2020.
- Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung, Graz 1990.
- Teckemeyer, Lothar / Schroeter-Wittke, Harald: Performative Didaktik – Erinnern und gestalten. In: 95 Thesen JETZT. EIN BILDUNGSBUCH. Loccum / Münster 2016
- Zilleßen, Dietrich / Gerber, Uwe: Und der König stieg herab von seinem Thron. Frankfurt 1997