Schon wieder nur gespielt? – Die Bedeutung des Spiels in der frühkindlichen Entwicklung

Von Ulrike Labuhn

 

 

Mein Kind hat heute wieder nur gespielt.“ Wie oft hören Erziehende in Kindertagestätten diesen Satz. Es ist nicht immer einfach, Eltern deutlich zu machen, dass es gerade das Spiel ist, das alle Schätze der Bildung bereits in sich trägt. Aus dem Althochdeutschen kommend bedeutet spil Tanzbewegung, also eine leichte Tätigkeit, die allein aus Freude an ihrer Ausübung ausgeführt wird, zum Vergnügen und zur Entspannung ohne bewussten Zweck. Und doch bietet gerade diese tänzerisch anmutende Leichtigkeit die Basis für kognitive, motorische und soziale Entwicklung sowohl beim Menschen als auch bei zahlreichen Tierarten.

Während Erwachsene das Spiel in erster Linie als Entspannung, Spaß und Abschalten in Abgrenzung zur Arbeit verstehen, bezeichnet die Reformpädagogin Maria Montessori das Spiel als die Arbeit des Kindes – eine Definition, die sich in vielen aktuellen Bildungsplänen wiederfindet. Im Spiel entdecken Kinder ihre Umwelt, sie konstruieren und rekonstruieren ihre Lebenswirklichkeit und setzen ihre Phantasie ein, die ihnen hilft die Welt zu verstehen und zu ordnen, ihre Gefühle auszudrücken, Kontakte zu knüpfen und Probleme zu bewältigen.

Dem Spiel liegt die angeborene Neugier des Kindes zugrunde. Wird diese Neugier aktiviert, beginnen Kinder, sich mit allen Sinnen mit Menschen und Dingen zu beschäftigen. Dies geschieht von Geburt an in der Berührung, im Anfassen, (Be-)Greifen und Ausprobieren; es findet Ausdruck im Schreien, Lächeln und im Suchen des Blickkontaktes, es geschieht spielerisch. Auf diese Art und Weise wird das Spiel zu einer zentralen Ausdrucksmöglichkeit des Kindes, vor allem dann, wenn eine verbale Sprache noch nicht zur Verfügung steht.

Kinder durchlaufen in den ersten Lebensjahren verschiedene Formen des Spiels, in denen sie sich vom egozentrischen hin zum gemeinsamen Spiel entwickeln.

Das sensomotorische Spiel

Zwischen dem zweiten und sechsten Lebensmonat setzt sich das Kind intensiv mit seinem eigenen Köper auseinander. Seine Körperteile sind Spielobjekte und es zeigt Freude an Bewegungen. Mit Mund und Händen untersucht es Gegenstände und entdeckt, dass man mit dem Mund Geräusche machen kann. Das Produzieren von Lauten und das Gurren sind erste Meilensteine in der Sprachentwicklung und dienen dem Ausdruck von primären Emotionen sowie der Kontaktaufnahme mit anderen.

Katharina (4 Monate) liegt auf dem Wickeltisch. Die Erzieherin bietet ihr zum Spielen einen Holzring an, nach dem Katharina spontan greift. Noch unkontrolliert bewegt sie ihn hin und her, und ihre Augen folgen den Bewegungen des Spielzeugs. Die Erzieherin nimmt den Ring sanft aus Katharinas Händen, lässt ihn kurz aus ihrem Blickfeld verschwinden und dann wieder sichtbar werden. Katharinas Blick folgt dem Spielzeug, suchend, wiederfindend, sie greift wieder danach. Dieses Spiel wiederholt sich mehrmals und wird zu einem täglichen Ritual während der Wickelsituation.

Dieses Verschwinden und Auftauchen von Gegenständen, das Guck-Guck-Spiel, ist eines der bekanntesten sozialen Spiele. Es macht Spaß, setzt gleichzeitig Erwartungen frei, es steigert die Erregung und löst Spannungen. In der Folge entwickelt sich daraus eine Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind. Es erfährt, dass es etwas (ein Spielobjekt) bekommt, wenn es dafür etwas tut: den Arm ausstrecken, lächeln, Laute von sich geben, den Blickkontakt mit der Bezugsperson suchen.

Das Explorations- und Konstruktionsspiel

In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres wollen Kinder herausfinden, was man mit Gegenständen alles tun kann. Fast alles kann dabei die Neugier der Kinder anregen und zum Spielobjekt werden. Wenn es gelegentlich zu einem gemeinsamen Tun mit einem anderen Kind kommt, so handelt es sich dabei eher um einen zufälligen Kontakt, der durch ein gemeinsames Spielobjekt entsteht. Für einen begrenzten Zeitraum nehmen Kinder Blickkontakt zueinander auf, lächeln sich zu, beugen ihre Körper zueinander, doch es bleibt ein egozentrisches Spiel, das auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes gerichtet ist.

Gegen Ende des ersten Lebensjahres wird das Kind immer sicherer in seinen Handlungsabläufen und seiner Geschicklichkeit. Damit verbindet sich das Gefühl von Stolz über seine Fähigkeiten und das Lob der Erwachsenen motiviert das Kind zu weiteren Spielen. Erfahren Kinder regelmäßiges Lob, so kann diese Motivation sie ein ganzes Leben lang begleiten.

Das Symbolspiel

Ab dem zwölften Lebensmonat treten Kinder in eine Phase ein, in der sie verstärkt nachahmen, was Erwachsene ihnen vormachen. Diese Vorgänge beziehen sich zunächst auf praktische Alltagssituationen wie zum Beispiel Füttern, Baden oder das Umblättern eines Buches. Das Kind spielt eine tatsächliche Situation nach und setzt sich dabei gleichzeitig mit der eigenen Entwicklungsaufgabe auseinander.

Katharina (18 Monate) spielt mit ihrer Puppe. „Kacka?“ Sie zieht die Puppe aus und setzt sie auf den Topf. „Fertig?“ Sie nimmt die Puppe vom Topf, schaut hinein, lobt die Puppe: „Gut gemacht!“ Sie schaut sich suchend um, holt sich eine Serviette vom Tisch und wickelt die Puppe. Dann ruft sie ihre Freundin dazu: „Komm, Anna, du auch“. Anna kommt mit ihrer Puppe dazu und beide vertiefen sich in ihr Spiel.

Das Symbolspiel bietet dem Kind die Möglichkeit, auch solche Situationen zu imitieren, die sich im realen Leben als schwierig und unbefriedigend erweisen. Im Spiel kann also gelingen, was im realen Leben noch nicht gelingt. Die Handlungen für solche So-tun-als-ob-Spiele werden aus dem sozialen Umfeld gezogen sowie aus den Erfahrungen, die das Kind bereits gemacht hat. Die Auseinandersetzung mit realen wie auch mit fiktiven Handlungen erlaubt ihnen, sich mächtig zu fühlen und ihre Allmachtphantasien auszuleben. Während sie im realen Leben immer wieder an Grenzen geraten, gelingt es im Symbolspiel, eigene Wünsche auszuleben und mühelos alle Ziele zu erreichen. Piaget bezeichnete diese stellvertretende Wunscherfüllung sogar als die eigentliche Ursache des Spiels.1

Darüber hinaus bietet das Symbolspiel dem Kind die Möglichkeit, sich in ganz besonderer Form mit der Welt auseinanderzusetzten. Es ist nun in der Lage, sich eigene Vorstellungen und Bilder zu machen, Gegenstände auch umzudeuten und phantasievoll einzusetzen. Sätze wie: „Der gelbe Klotz ist jetzt wohl mal der Käse“ oder „Ich tu mal so, als wär das jetzt ein Hase“ weisen auf die Fähigkeit hin, durch eine symbolische Vorstellung einen anderen Gegenstand zu ersetzen. Kinder sind damit in der Lage, Realität und Vorstellung voneinander zu trennen. Neben dem So-tun-als-ob-Spiel steht das Was-wäre-wenn-Spiel. „Wenn ich jetzt riesig groß wär, dann…“ oder „Wenn ich jetzt mal fliegen könnte, dann…“. Hier eröffnet sich Kindern die Möglichkeit, sich über das real Mögliche hinaus Situationen vorzustellen, die auf sein Wunschdenken treffen. Es kann als eine Vorstufe des Perspektivwechsels betrachtet werden, wenn Kinder in der Lage sind, sich in andere Dinge und Personen hineinzuversetzen. Diese Vorstellungskraft, diese Imagination des Kindes birgt ein immens kreatives Potential in sich und bietet somit auch eine Plattform für die Auseinandersetzung mit philosophischen und theologischen Fragen und Deutungen.

Katharina (2 ½ Jahre) kann nicht schlafen. Ängstlich schaut sie den Erzieher an und klammert sich an ihn. Der Erzieher nimmt Katharina fest in die Arme und flüstert ihr ins Ohr: „Hab keine Angst, ich bin bei dir. Und auch Gott ist bei dir, hält dich ganz fest. Er hält alle Menschen fest in seinen Armen.“ Katharina überlegt einen Moment und schaut dann ganz erstaunt: „Hat Gott soooo große Hände?“

Katharina macht sich ein Bild. Besonders in schwierigen Situationen stellen die Fähigkeit und das Ausleben von Imagination und Kreativität ein lebenslanges Potenzial dar. Auch wenn Kinder in dieser Lebensaltersstufe durchaus in der Lage sind, sich sprachlich differenzierter zu verständigen, reicht die verbale Ausdrucksfähigkeit noch nicht aus, um komplexe Themen konkret auszusprechen. Durch das spielerische Aufgreifen einer aktuellen Entwicklungs- und Beziehungsthematik wird die Bewältigung von Problemen hingegen ermöglicht.

Das Parallelspiel

Ab dem dritten Lebensjahr suchen Kinder im Spiel verstärkt die Nähe anderer Kinder, wobei die Spielhandlungen nicht immer konkret aufeinander bezogen sind. Es handelt sich hier um sogenannte Parallelspiele, bei denen zwar häufig ähnliche Spielobjekte ausgewählt werden, die Kinder jedoch für sich alleine in der ihnen wohltuenden Nähe der anderen spielen. Dieses Parallelspiel ist als Übergangsituation hinein in das soziale Spiel zu verstehen, so dass hier nun erste Freundschaften entstehen.

Das Rollenspiel

Rollenspiele sind frühestens zum Ende des dritten Lebensjahres zu beobachten. Sie „zeigen ein fortgeschrittenes Stadium der Symbolspiele an, in denen die Kinder sich intensiv darüber verständigen, wie die Spielhandlung vonstattengeht und fortentwickelt werden soll“.2 Das Rollenspiel erfordert weitaus höhere soziale und kognitive Kompetenzen als das Symbolspiel. Die Kinder sind nun in der Lage, die Spielhandlungen bewusst zu planen und vorzubereiten: Wenn es für die Spielhandlung erforderlich ist, werden mehrere Kinder bewusst in das Spiel mit einbezogen.

Katharina (3 Jahre) plant und organisiert: „Komm, wir spielen jetzt, dass wir im Garten sind. Du bist mal die Mutter, du musst dir das Kleid da anziehen, sonst sieht man das doch nicht. Und du bist die Katze, die die Mutter dann sucht, und ich bin mal die Tante, weil die hat leckeren Kuchen mitgebracht.“

Während im Symbolspiel die Spielhandlung in erster Linie vom Spielgegenstand ausgeht, geht es nun um die Übernahme einer konkreten Rolle, die das Kind bei anderen, meist Erwachsenen, erlebt hat. Das dabei wahrgenommene Verhalten wird zunächst imitiert, aber auch mit eigenen Ideen und gewünschten Verhaltensweisen ergänzt. Gelegentlich werden auch Kinder unter drei Jahren von älteren Kindern an Rollenspielen beteiligt, indem ihnen „kleinere“ Rollen gegeben werden wie z.B. „Ihr seid jetzt mal die Katzenfamilie“ oder „Ihr seid die Kinder und ihr schlaft jetzt alle“.
Mit zunehmendem Alter wird das Rollenspiel differenzierter gespielt und es werden Werte und Normen transportiert, die sich in der Auseinandersetzung mit existenziellen Themen wie Gerechtigkeit, Macht, Schwäche, Gut und Böse etc. zeigen.

Empathie und Konfliktfähigkeit

Wenn Kinder gegen Ende des dritten Lebensjahres mit mehr als einem*r Spielpartner*in in Kontakt treten, so suchen sie sich in der Regel gleichaltrige Spielpartner*innen aus, die ihnen einerseits ähnlich sind und andererseits ganz andere individuelle Eigenschaften zeigen. Gerade diese Mischung aus Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit stellt einen besonderen Reiz dar, denn sie birgt ein enormes Entwicklungspotenzial, was das Verständnis für das Gegenüber angeht und die Fähigkeit, sich einzufühlen. Zwar zeigen sich Anfänge eines solchen Gefühls der Empathie bereits ab dem zweiten Lebensjahr (Kinder besitzen schon früh die Fähigkeit, andere zu trösten), doch jetzt haben die Kinder eine Entwicklungsstufe erreicht, in der sie ein emotionales Verständnis für ihr Gegenüber zeigen. Es handelt sich hier um eine lebenslange Kompetenz, um langfristig wirkliche Freundschaften aufbauen zu können.

Das gemeinsame Spiel birgt natürlich auch Konfliktpotenzial. Kinder geraten häufig an ihre Grenzen, streiten um Spielobjekte, haben unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Missverständnisse und Enttäuschungen gehören zum Spiel, gehören zum Leben. Sie bieten ein breites und wichtiges Lernfeld für das Verständnis und den Umgang mit Konflikten. Sobald Kinder in der Lage sind, ihre Interessen auch sprachlich differenzierter auszudrücken, entstehen (Streit-)Gespräche und Diskussionen. Hier finden Emotionen Ausdruck, werden unterschiedliche Bedürfnisse besprochen, erkämpft und ausgehandelt. So entsteht im Spiel eine wertvolle Interaktion und es sind insbesondere die Streit- und Konfliktsituationen, in denen das Kind die Fähigkeit erlangt, Strategien und Lösungsmöglichkeiten vorzubereiten, die für das gesamte spätere Leben hilfreich sind.

Feinfühlige Erwachsene

In ihren spielerischen Prozessen brauchen Kinder zugewandte und feinfühlige Erwachsene an ihrer Seite, die das Kind zum Spielen anregen, es begleiten und motivieren. Feinfühlig, das bedeutet, genau hinzuschauen und die kindlichen Ausdrucksformen wie Körperhaltung, Gestik, Mimik, Sprache wahrzunehmen. Es bedeutet auch, Kindern die Freiheit zu lassen, ihr Spiel selbst zu entwickeln und zu gestalten und erst dann einzugreifen, wenn das Kind den Wunsch nach Hilfe signalisiert.

Feinfühlig bedeutet auch, anzuerkennen, dass das Spiel für das Kind harte Arbeit ist; es bedeutet Bestätigung und Lob. Es beinhaltet auch die Ermutigung dazu, selbst auszuprobieren und sich mitzuteilen, und schenkt den Kindern die Zeit, die sie brauchen, um eigene Lösungen zu finden.

Vor allem aber heißt es, dem Kind die Wertschätzung gegenüber seinem Tun zu zeigen und ihm damit zu signalisieren: So wie du bist, bist du richtig!

Anmerkungen

  1. Vgl. Piaget, Nachahmung, Spiel und Traum.
  2. Riemann / Wüstenberg, Die Kindergartengruppe, 45.

Literatur

  • Bartl, Almuth: Spielend schlauer werden! Fördern statt Überfordern, Münster 2008
  • Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 2009
  • Krenz, Arnold: Psychologie für Erzieherinnen und Erzieher, Mannheim 2007
  • Labuhn, Ulrike: Der Neugier der Kleinsten Raum geben, Troisdorf 2010
  • Oerter, Rolf/Montada, Leo: Entwicklungspsychologie, Weinheim 2002
  • Oerter, Rolf: Psychologie des Spiels, Basel 1999
  • Pausewang, Freya: Dem Spielen Raum geben, Berlin 2006
  • Piaget, Jean: Nachahmung, Spiel und Traum (1959), Stuttgart 2003
  • Riemann, Ilka/Wüstenberg, Wiebke: Die Kindergartengruppe für Kinder ab einem Jahr öffnen?, Frankfurt 2004
  • Seitz, Rudolf: Phantasie und Kreativität, München 1998
  • Völkel, Petra/Viernickel, Susanne: Fühlen, bewegen, sprechen und lernen. Meilensteine der Entwicklung bei Kleinstkindern, Troisdorf 2009