„Die großen ursprünglichen Betätigungen des menschlichen Zusammenlebens sind alle bereits von Spiel durchwoben.” Johan Huizinga
Vorbemerkung
Nachdem in der UN-Kinderrechtskonvention1, die von der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1989 unterzeichnet worden ist, neben dem Recht auf Spiel auch die Rechte von Kindern mit Behinderung deutlich betont worden sind, ergibt sich mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die von der Bundesre-publik Deutschland im Jahre 2009 unterzeichnet worden ist, nun die gemeinsame gesellschaftliche Aufga-be, Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung im Sinne der Inklusion als Leitbild zu praktizieren.2 Die UN-BRK bezieht alle Lebensbereiche und den gesamten Lebenslauf mit ein. Ziel ist insbesondere der Abbau von Barrieren und die Bereitstellung von angemessenen Vorkehrungen für mehr Teilhabe. Inklusion ist somit nicht nur eine Aufgabe für Bildungseinrichtungen wie Kindertageseinrichtungen und Schulen, sondern ebenso im Beruf, in der Freizeit und im öffentlichen Raum.3 Dem Spiel kommt bei dieser Aufgabe, besonders bezogen auf Kinder und Jugendliche, eine besondere Rolle zu.
Kindliche Spielwelten der Gegenwart
Schätzungen zufolge spielen Kinder in den ersten sechs Lebensjahren etwa 15.000 Stunden. Allerdings scheint die Erkenntnis, dass das Spiel für Kinder eine Entwicklungsnotwendigkeit ist, in der Gegenwart verloren zu gehen. Digitale Spielwelten, zerstörte Spielräume im Umfeld von Familien, Bildungsstandards sowie lernzielorientierte Bildungs- und Erziehungspläne stellen eine zunehmende Gefährdung des kindlichen Spiels dar. Insofern ist es angezeigt, erneut auf das Recht des Kindes auf Spiel zu verweisen, wie es die UN-Kinderrechtskonvention bereits 1989 gefordert hat. Dazu gilt es drei Grundfragen zu beantworten:
1. Was ist Spiel?
2. Wie entwickeln sich die Spielformen bei Kindern?
3. Welche Bedeutung hat das Spiel für die kindliche Entwicklung?
Damit sind zugleich Voraussetzungen für die Entwicklung einer inklusiven Spielförderung benannt, um zukünftig das inklusive Potenzial von Spieltätigkeiten noch umfassender zu erschließen.
Was ist Spiel?
Wollen wir klären, was unter Spiel zu verstehen ist, so sind wir darauf angewiesen, die konkret beobacht-bare Spieltätigkeit von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt einer Erforschung des Spiels zu stellen. Bestätigt wird dies durch den niederländischen Spielforscher und Historiker, Johan Huizinga4, der als Fazit seiner Untersuchung zum Spiel in verschiedenen Kulturen und Epochen festhält, dass im Spiel stets der Handlungsaspekt betont wird. Über verschiedene Merkmale wird diese Tätigkeit von Kindern und Ju-gendlichen nun von anderen Aktivitäten unterschieden, so wie es der nordamerikanische Spielforscher Joseph Levy in einer bis heute anerkannten Begriffsbestimmung vorgeschlagen hat.5 Er betrachtet das Spiel als spezifische Form der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Diese Interaktion des Kindes mit sei-ner Umwelt wird zwischen Fantasie und Realität, zwischen externer und interner Kontrolle und zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation konkret ausgeprägt. Von einer Spieltätigkeit sollte nur dann ge-sprochen werden, wenn Fantasie, Selbstkontrolle und intrinsische Motivation überwiegen. Kinder nehmen Spieltätigkeiten aus eigenem Antrieb auf und entscheiden sich selbst für das Spiel. Die Alltagswelt wird im kindlichen Spiel außer Kraft gesetzt, aber sie bleibt weiter wirksam. Fantasievolle Spieltätigkeiten über-nehmen eine wichtige Funktion bei der Entwicklung des Denkens. Spieltätigkeiten sind für Kinder deshalb so interessant, weil sie eine Kontrolle über die Wirklichkeit erlauben, die ihnen in alltäglichen Zusammen-hängen meist noch nicht gelingt.
Wie entwickeln sich die Spielformen bei Kindern?
Die Spielentwicklung verläuft nun ausgehend vom eigenen Körper sowie dessen Exploration und Erprobung als zunehmende Erschließung der sozialen bzw. materiellen Umwelt. Kinder weiten in den Jahren vor dem Schuleintritt ihren Aktionsradius im buchstäblichen Sinne durch das Spiel immer weiter aus. Dabei lassen sich mehrere Spielformen unterscheiden, die sich nach und nach herausbilden: Explorationsspiel (bzw. Funktions- oder Übungsspiel), Phantasiespiel (bzw. Symbolspiel), Rollenspiel, Konstruktionsspiel, Regelspiel. Diese Spielformen lösen einander jedoch nicht wie jeweils neue Phasen ab. Vielmehr müssen wir uns die Spielentwicklung als zunehmende Erweiterung der Spielfähigkeit vorstellen. Dabei wechseln sich allerdings die dominanten Entwicklungsschwerpunkte, also die Themen der kindlichen Entwicklung, ab. Diese werden in der heutigen Spielforschung mit den Prinzipien Exploration, Phantasie, Konstruktion, Rollenübernahme und Umgang mit Regeln in Verbindung gebracht.6 In welcher Intensität Kinder allerdings die verschiedenen Spielmöglichkeiten erleben, das hängt auch von den vorhandenen Anregungen in ihrer unmittelbaren Umgebung ab.
Welche Bedeutung hat das Spiel für die kindliche Entwicklung?
Von Beginn der Entstehung einer eigenständigen Kinderpsychologie an haben sich Entwicklungspsychologen immer wieder dem Verständnis des kindlichen Spiels gewidmet. Aber jahrzehntelanges Nachdenken über Spiel hat bis heute keine einheitliche Spieltheorie hervorgebracht. Es konnten sich nur einige wichtige Betrachtungsweisen herausbilden, die zur Erklärung der Entwicklungsbedeutung kindlicher Spieltätigkeiten von zentraler Bedeutung sind. Diese Betrachtungsweisen stehen als sich gegenseitig ergänzende nebeneinander und betonen jeweils die biologischen, die sensomotorischen, die emotionalen, die kognitiven und die sozialen Aspekte des Spiels.7
Wollen wir kindliche Spieltätigkeiten in einem umfassenden Sinne verstehen, so müssen wir eine Vielzahl von zugrundeliegenden Entwicklungstheorien des Spiels kennen. Eine konkrete Spieltätigkeit kann also durchaus unterschiedliche Entwicklungsaspekte berühren. Von daher sind für die Durchdringung des Sinns einer kindlichen Spieltätigkeit stets eine Vielzahl von Erklärungshypothesen nötig. Die Multidimensionalität könnte auf diesem Weg möglicherweise als ein weiteres zentrales Kennzeichen von Spieltätigkeiten angesehen werden.
Spiel als Inklusion – Inklusion als Spiel
Spiel hat nun deshalb inklusives Potenzial, weil es aus eigenem Antrieb entsteht (intrinsische Motivation), eigene Ideen verwirklicht werden können (Fantasie), es selbst gesteuert werden kann (Selbstkontrolle) und Spielende mit vielen Sinnen teilhaben und beitragen können (Multidimensionalität). Zugleich machen diese drei Merkmale von Spieltätigkeit deutlich, dass es nicht so einfach ist, Kinder und Jugendliche dabei pädagogisch zu begleiten. Schnell gerät dabei aus dem Blick, dass im Spiel vor allem das im Mittelpunkt steht, was Kinder und Jugendliche selbst entwickeln wollen. Die Bedeutung von Spieltätigkeiten für die Inklusion ergibt sich aber daraus, dass Spiel und Entwicklung eng zusammenhängen.8 Das Spiel wirkt sich im Bereich des Denkens ebenso positiv wie in der sozialen, der emotionalen und der sensomotorischen Entwicklung aus. Spiel und Entwicklung und auch Spielen und Lernen können in den ersten Lebensjahren vielfach gleichgesetzt werden. Bezogen auf das Leitbild Inklusion gilt es nun, in unterschiedlichen Settings solche Situationen zu gestalten, in denen alle Kinder und Jugendlichen teilhaben und etwas beitragen kön-nen. Spielmittel, Spielräume und Spielzeiten sind so zu gestalten, dass inklusive Spielsituationen entstehen können.
Entscheidend ist jedoch die Qualität der Interaktionen mit der Umwelt und mit den Spielpart-ner*innen. Die Erwachsenen nehmen hier eine Rolle am Rande der Spielsituation ein. Sie können das gemeinsame Spiel von Kindern unterstützen, indem sie sich aktiv beteiligen oder auch eher in einer beobach-tenden, begleitenden Haltung bleiben. Pädagogische Fachkräfte in unterschiedlichen Settings haben hier die Aufgabe, sich sensibel auf die jeweilige Situation einzustellen. Vieles klappt auf Anhieb im gemeinsamen Spiel zwischen unterschiedlichen Kindern. Aber Erwachsene können auch zur Intensivierung des Spiels beitragen.
Inklusive Spielsituationen (s. Grafik) bieten Kindern die Möglichkeit, im Spiel voneinander zu lernen (peer-group), gemeinsam kreativ zu werden (Ko-Kreativität) und die Spielinhalte sowie die Spielregeln miteinander auszuhandeln (Ko-Konstruktion). Die neuere Spielforschung hat sich zur Aufgabe gemacht, noch näher an Spielprozesse heranzurücken, um das besser zu verstehen, was zwischen Kindern im Spiel ausgehandelt und vereinbart wird. Dabei ist eine regelrechte „Kinderkultur“ (peer culture) entdeckt worden9, die Erwachsenen teilweise gar nicht bekannt ist, weil die Kinder und Jugendlichen selbst Routinen und Werte in der unmittelbaren Interaktion untereinander hervorbringen (Ko-Konstruktion). Dazu gehört auch die Entwicklung von Rollen, Regieanweisungen und ganzen Drehbüchern für das gemeinsame Spiel. Während in der internationalen Spielforschung zur Inklusion zunächst besonders die Spielpartner*innen, die Spielmittel und die Spielräume im Mittelpunkt standen, sind in den letzten 20 Jahren international eher die Kinder mit Behinderung bzw. mit Unterstützungsbedarf in den Mittelpunkt gerückt. Viele Studien beschäftigen sich z.B. mit dem Phänomen der „Autismus-Spektrum-Störungen“, für die in den USA das Konzept von inklusiven Spielgruppen entwickelt worden ist.10 Es handelt sich um Kleingruppen von ca. fünf Kindern mit und ohne Unterstützungsbedarf, die von einer frühpädagogischen Fachkraft gezielt zum gemeinsamen Spiel angeleitet werden (guided participation). Die Maßnahme erweist sich, gerade bezogen auf die sozialen Spieltätigkeiten, als erfolgreich mit stabilen Effekten auch über einen längeren Zeitraum.
Inklusive Spielförderung – Förderung der Inklusion im Spiel?
Die Bedeutung des Spiels in der kindlichen Entwicklung wird sich zukünftig in noch viel stärkerem Maße als bislang aus den gemeinsamen Spieltätigkeiten von Kindern mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten ergeben.11 Sowohl für Kinder als auch für Jugendliche und immer häufiger ebenso für Er-wachsene avanciert das Spiel in modernen Gesellschaften zu einem bedeutenden Medium der Inklusion – das gilt für Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, aber sicher auch für den Freizeitbereich. Im Spiel be-gegnen wir uns auf der Basis unserer Fähigkeiten, jeder bringt seine spezifischen Ressourcen in das ge-meinsame Spiel ein und ist mit seinen persönlichen Ideen gefragt. Hierin lässt sich ein demokratischer Aspekt des Spiels im Sinne von Gleichberechtigung erkennen. Das Spiel wäre somit in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen eine gute Vorübung für den Ernstfall der gesellschaftlichen Inklusion. Inklusive Spielförderung enthält vor diesem Hintergrund Anregungen für Spielmittel und Spielräume, die unter-schiedliche Bedürfnisse in heterogenen Spiel- und Lerngruppen berücksichtigen. Dazu zählen multisenso-risch ausgerichtete Materialien und Materialien, die soziale Spieltätigkeiten anregen, z.B. großformatige Bauklötze aus Schaumstoff. Dies ist ein sozialer und multisensorischer Aspekt des Spiels. Aber auch in-klusive Spielgruppen, in denen pädagogische Fachkräfte im Sinne des Modells der guided participation das gemeinsame Spiel von Kindern mit unterschiedlichen Fähigkeiten anregen, sind in der Lage, die Inklu-sion im Spiel zu fördern. Voraussetzung dafür sind allerdings entsprechende Qualifikationsprozesse für inklusive Spielförderung, in denen pädagogische Fachkräfte auf die aufmerksame Beobachtung und Dokumentation von inklusiven Spielprozessen und deren behutsame Anregung und Unterstützung im Sinne des scaffolding vorbereitet werden.12 Darüber hinaus sollte auch der öffentliche Raum für inklusive Spielprojekte erschlossen werden, wie sie Theresa Casey vorgestellt hat.13 Als besondere Herausforderung hat sich dabei für Erwachsene die Aufgabe gestellt, das gemeinsame Spiel von Kindern mit und ohne Behinderung nicht vorschnell zu bewerten, sondern sich in die kindlichen Spielwelten hineinzudenken.
Anmerkungen
- Vereinte Nationen, Übereinkommen über die Rechte des Kindes.
- Vereinte Nationen, Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
- Vgl. Heimlich, Inklusive Pädagogik.
- Vgl. Huizinga (1872-1945), Homo ludens, 37.
- Vgl. Levy, Play behaviour.
- Vgl. ausführlich dazu: Heimlich, Einführung in die Spielpädagogik, 32ff.
- Vgl. a.a.O.; Kooij, Pädagogik und Spiel.
- Vgl. Heimlich, Das Spiel mit Gleichaltrigen in Kindertageseinrichtungen.
- Vgl. Corsaro, The Sociology of Childhood.
- Vgl. ebd.
- Vgl. Heimlich, Das Spiel mit Gleichaltrigen in Kindertageseinrichtungen.
- Vgl. Heimlich, Einführung in die Spielpädagogik.
- Casey, Inclusive play.
Literatur
- Casey, Theresa: Inclusive Play. Practical Strategies for Working with Children aged 3 to 8, London 2005
- Corsaro, William: The Sociology of Childhood, 4. Aufl., London 2015
- Heimlich, Ulrich: Behinderte und nichtbehinderte Kinder spielen gemeinsam. Konzept und Praxis integrativer Spielförderung, Bad Heilbrunn 1995
- Heimlich, Ulrich: Einführung in die Spielpädagogik, 3. Aufl., Bad Heilbrunn 2015
- Heimlich, Ulrich: Das Spiel mit Gleichaltrigen in Kindertageseinrichtungen. Teilhabechancen für Kinder mit Behinderung. WiFF-Expertise Nr. 49, München 2017; www.weiterbildungsinitiative.de/publikationen/details/data/das-spiel-mit-gleichaltrigen-in-kindertageseinrichtungen (abgerufen am 06.10.2020)
- Heimlich, Ulrich: Inklusive Pädagogik. Eine Einführung, Stuttgart 2019
- Huizinga, Johan: Homo Ludens (niederländ. Original 1938). Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 1991
- Levy, Joseph: Play behaviour (1978). New York 1983
- van der Kooij, Rimmert: Pädagogik und Spiel, in: Roth, Leo (Hg.): Handbuch Pädagogik, Donauwörth 1991, 241-253
- Vereinte Nationen (UN) (1989): Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child, CRC) (Übersetzung; www.kinderrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-370 (abgerufen am 06.10.2020)
- Vereinte Nationen (UN) (2009): Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmte Übersetzung); www.behindertenrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinderungen-3101 (abgerufen am 06.10.2020)