Philosoph*innen in der Tierethik
Es gibt kaum einen Bereich des menschlichen Lebens, der ohne die Nutzung von Tieren auskommt. Tiere sind Grundlage von Nahrungsmitteln, Familienmitglieder und Gefährten, Rohstofflieferanten (z. B. Wolle, Seide, Leder), Probanden zur Verträglichkeitsprüfung von Inhaltsstoffen (Medizin), Schauobjekte zu Vergnügungszwecken (z. B. Zoos, Shows, Filme) und Einkommensquellen (Landwirtschaft, Tierzucht). Der Tatsache, dass Tiere das menschliche Leben auf vielfältige Weise bereichern, steht aber die Frage gegenüber, ob wir auch alles mit ihnen tun dürfen. Die Tierethik ist eine akademische Disziplin, die sich dieser gesellschaftlich hochrelevanten Frage annimmt und dabei zwei Aufgaben hat: Zum einen beschreibt und reflektiert sie, was Menschen mit Tieren tun (deskriptiv). Zum anderen begründet sie, was Menschen mit Tieren tun sollen (normativ). In dieser Hinsicht lautet die zentrale Frage der Tierethik: „Was dürfen wir mit Tieren tun und was nicht?“ Philosophische Tierethiker*innen begründen ihre Antworten auf diese Frage mit Argumenten, die auf ethischen Theorien aufbauen und nicht auf der Vermittlung bloßer Meinungen beruhen.
Die Arbeit von Tierethiker*innen soll an einem Beispiel aus der Nutztierhaltung veranschaulicht werden. In der Schweinezucht ist es üblich, Muttersauen in einem Kastenstand unterzubringen, solange sie ihren Nachwuchs säugen. Das Haltungssystem ist so gestaltet, dass die Sau nur einen geringen Bewegungsspielraum hat. Sie kann nur einen kleinen Schritt in alle Richtungen machen und kann sich nicht umdrehen. Die Sau leidet unter der Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit und wird so am Ausleben natürlicher Verhaltensweisen gehindert. Durch die Fixierung der Mutter soll verhindert werden, dass sie ihre Ferkel erdrückt (und damit tötet), wenn sie sich auf den Boden legt. Denn der Tod jedes Ferkels bedeutet einen ökonomischen Verlust für den*die Landwirt*in. Im Kastenstand können die Ferkel ungehindert Milch trinken und leichter entkommen, wenn sich die Mutter hinlegt. Trotzdem kann auch der Kastenstand Erdrückverluste nicht gänzlich unterbinden. An den*die Tierethiker*in ergeht daher folgende Frage: Dürfen wir Muttersauen im Kastenstand halten, um das Leben ihrer Ferkel zu schützen und / oder den ökonomischen Gewinn der Landwirt*in zu sichern?
Das Werkzeug philosophischer Tierethiker*innen: Ethische Theorien
Ethische Theorien bilden die Grundlage für die Reflexion über tierethische Probleme. Bei der Begründung unserer moralischen Verpflichtungen gegenüber Tieren kann zwischen zwei großen Theoriesträngen unterschieden werden: Erstens dem Differentialismus, der die Unterschiede zwischen Mensch und Tier betont und Tieren auf dieser Grundlage jegliche direkte moralische Berücksichtigung abspricht. Der zweite Theorieansatz ist der Assimilationismus, der den Fokus auf die Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier richtet und sich darauf aufbauend für die moralische Berücksichtigung von Tieren einsetzt.
Zu den bekanntesten differentialistischen Positionen gehört Immanuel Kants Verrohungsargument. Nach Kant unterscheidet sich der Mensch durch seine Vernunftbegabung vom Tier. Die Vernunft ist das wesentliche Kriterium seiner Argumentation, weil nur vernunftbegabte Wesen auf moralisch relevante Weise geschädigt werden können. Aufgrund dieses Mangels sind Tiere in moralischen Belangen nicht um ihrer selbst willen zu berücksichtigen, sondern nur, insofern diese Rücksichtnahme den Menschen selbst dient. Menschen dürfen Tiere daher nicht grausam behandeln, weil Tierquälerei dazu beiträgt, dass Menschen in ihrem Verhalten verrohen und folglich dazu neigen, auch andere Menschen schlecht zu behandeln. Kants ethischem Ansatz zufolge dürfen wir Zuchtsauen im Kastenstand halten: Da sie nicht vernünftig sind, werden sie durch die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit nicht auf moralisch relevante Weise geschädigt. Wir dürfen die eingesperrten Tiere aber nicht mutwillig quälen, weil wir durch dieses Verhalten abstumpfen und dann auch Menschen quälen könnten.
In Bezug auf den Assimilationismus lassen sich verschiedene theoretische Ansätze unterscheiden. Den verbreitetsten Theorierahmen bildet der moralische Individualismus. Moralische Individualisten verknüpfen die moralische Berücksichtigung von tierlichen Individuen mit dem Besitz bestimmter Eigenschaften, über die auch Menschen verfügen. Ihrer Position liegt zunächst die Annahme zugrunde, dass die moralische Schutzwürdigkeit von Menschen auf den Besitz einer bestimmten Eigenschaft X zurückzuführen ist. Weist nun ein Tier ebenfalls diese Eigenschaft X auf, dann muss es ebenso moralisch berücksichtigt werden. Denn es gibt in diesem Fall keine Rechtfertigung, das Tier anders als einen Menschen zu behandeln. Besitzt ein Wesen Eigenschaft X hingegen nicht, dann gibt es keine Pflicht, es moralisch zu berücksichtigen. Ein bekannter Vertreter des moralischen Individualismus in der Tierethik ist Peter Singer, der die besagte Eigenschaft X in der Empfindungsfähigkeit gegeben sieht: Ist ein Lebewesen empfindungsfähig, dann hat es positive und negative Zustände und auch ein Interesse daran, nicht zu leiden. Dieses muss folglich – wie menschliche Interessen – moralisch berücksichtigt werden.
Singers Argumentation beruht auf einem Gleichheitsgrundsatz, der besagt, dass gleiche Interessen gleich berücksichtigt werden müssen und ungleiche Interessen ungleich. Das ist bereits im zwischenmenschlichen Bereich relevant: Wir fügen anderen Menschen in der Regel nicht mutwillig Schmerz zu, weil wir aus eigener Erfahrung wissen, wie unangenehm Schmerz ist. Unter der begründeten Annahme, dass auch Tiere das Interesse besitzen, nicht zu leiden, weitet sich unsere moralische Verantwortung auf Tiere aus. Da Singers Ansatz utilitaristisch ist, wird die Güte einer Handlung an ihren Konsequenzen bemessen. In der Praxis soll man daher das tun, was es der größten Anzahl an empfindungsfähigen Wesen ermöglicht, ihre Interessen zu erfüllen (z. B. nicht zu leiden).
Wenden wir diese Theorie nun auf den Kastenstand an: Das Leid der Muttersau, das durch die Bewegungseinschränkung verursacht wird, macht deutlich, dass diese Haltungsform moralisch problematisch ist. Zu bedenken ist, dass in anderen Haltungssystemen Ferkel leiden, wenn sie von der Mutter erdrückt werden. Es steht also Leid gegen Leid. Um Handlungsfolgen auch qualitativ gewichten zu können, wiegen vitale Interessen schwerer als triviale Interesse: Denn vitale Interessen sind lebensnotwendig, triviale Interessen spielen für das Überleben hingegen keine Rolle. So könnte man argumentieren, dass das Interesse der Ferkel, nicht erdrückt zu werden, vital ist, während das Interesse der Sau, sich frei bewegen zu können, vergleichsweise trivial ist. In der Folge wäre den Interessen der Ferkel der Vorzug zu geben. Auf diese Weise könnte die Haltung der Sau im Kastenstand zum Schutz der Ferkel mit Singers Theorie gerechtfertigt werden.
Mit der gleichen Berechtigung könnte man allerdings eine Tierrechtsposition wie der moralische Individualist Tom Regan vertreten: Er argumentiert, dass jegliche Nutzung die Rechte von Tieren verletzt und daher abzuschaffen sei, weil sie Tieren unnötiges Leid für triviale Zwecke zufügt. Regan kritisiert, dass Singer lediglich Interessen schützen würde, aber nicht diejenigen, die diese Interessen haben. Aus diesem Grund haben alle Lebewesen, die Subjekte-eines-Lebens sind, inhärenten Wert und verdienen Schutz. Unter keinen Umständen dürfen sie geopfert werden, um die Interessen anderer zu befriedigen. Eine solche Opferung würde bei Singer zum Beispiel im Fall der Sau zugunsten der Ferkel stattfinden.
Relationale Ansätze bieten eine weitere Möglichkeit, um für die Schutzwürdigkeit von Tieren zu argumentieren. Sie versuchen aufzuzeigen, dass unsere moralischen Pflichten gegenüber Tieren in den Beziehungen zwischen Menschen bzw. zwischen Menschen und Tieren gründen. Diese Pflichten können – wie die Beziehungen selbst – vielfältig sein und sind daher nicht nur auf ein einzelnes Prinzip (z.B. den Gleichheitsgrundsatz) reduzierbar. Mary Midgley meint etwa, dass unser Handeln gegenüber einem Tier je nach Beziehung zu ihm beispielsweise durch Dankbarkeit, Bewunderung oder eine spezielle Verantwortung bestimmt sein kann. Da vertraute Heimtiere in einer anderen Beziehung zu uns stehen als etwa frei lebende Wildtiere, fühlen sich Menschen auch nicht für alle Tiere auf die gleiche Weise verantwortlich. Cora Diamond betont, dass zwischenmenschliche Beziehungen und die Vorstellung vom Menschen der Bezugspunkt für moralische Pflichten gegenüber Tieren sind. Wir lernen in unserer Beziehung zu anderen Menschen, dass man Mitmenschen nicht tötet und isst, wohl aber bestimmte Tiere wie Hühner oder Kühe. Doch solche Praktiken sind historisch und kulturell verschieden und offen für Wandel. Ausgehend von unserer Vorstellung davon, was es heißt ein Mensch zu sein, können auch Tiere zum Gegenstand unseres Mitgefühls werden. So kann beispielsweise die Erkenntnis ausreichen, dass eine Kuh mit uns Menschen das Leben teilt, um manche Menschen zum Verzicht auf Fleisch zu bewegen. Da Diamond annimmt, dass es mehrere Möglichkeiten moralischen Denkens gibt, kann sie keine klare Handlungsanweisung für den Fall des Kastenstandes geben. Die Annahme, dass die Muttersau wie wir Menschen leiden kann, bietet zwar guten Grund, um sie nicht im Kastenstand zu halten. Doch auch die Reflexion über das Sterben der Ferkel, die zum Zweck des Gegessen-Werdens aufgezogen werden, kann dazu dienen, die gesamte Praktik des Fleischessens in Frage zu stellen.
Wir wissen nun, wie das moralische Problem des Kastenstandes vom Standpunkt verschiedener ethischer Theorien aus beurteilt werden kann. Jede ethische Theorie hat dabei Stärken und Schwachpunkte, die in der Philosophie vielfach diskutiert werden. Häufig herrscht bei der Beantwortung wichtiger Fragen keine Einigkeit. Es ist daher berechtigt zu hinterfragen, welchen Wert die Theoriearbeit von Tierethiker*innen für das praktische Leben hat.
Gesellschaftliche Relevanz
Die Tierethik wird der angewandten Ethik zugeordnet. Kurt Bayertz charakterisiert die angewandte Ethik als praxisbezogenen Teilbereich der philosophischen Ethik, der sich der Lösung gesellschaftlicher Probleme verschrieben hat. Da zur Lösung dieser komplexen Probleme Expertenwissen aus unterschiedlichen Bereichen erforderlich ist, ist die angewandte Ethik ein interdisziplinäres Feld. Darüber hinaus gilt sie als „transakademisches Unternehmen“, weil sie in ihrem Anspruch, etwas Praktisches für die Gesellschaft zu leisten, über den akademischen Bereich der Forschung und Lehre hinauswächst. Somit arbeiten Tierethiker*innen nicht nur im stillen Kämmerlein vor sich hin, sondern gestalten aktiv Lösungsfindungsprozesse für gesellschaftlich drängende Fragen mit. Als angewandte Ethiker*innen arbeiten sie beispielsweise im Zuge der Kommissionsarbeit mit anderen Expert*innen zusammen und greifen dabei auf ihre „ethische Expertise“ zurück. Wichtig ist, dass die Tierethiker*in so wie jede andere involvierte Expert*in kein „Monopol auf ‚Lösungen‘“ hat: Durch die Anwendung ethischer Theorien und das Formulieren von Argumenten liefert sie lediglich „Beiträge“ zur interdisziplinären Lösungsfindung. Dennoch sind diese Beiträge unerlässlich und von unschätzbarem Wert.
Der Erfolg der angewandten Ethik drückt sich darin aus, dass sie in vielen Bereichen tatsächlich Einfluss auf das praktische Leben nimmt. So haben interdisziplinäre Anstrengungen im Fall des Kastenstandes in manchen europäischen Ländern bereits eine Änderung der Gesetzeslage bewirkt: Nach dem Ablauf einer Übergangsfrist ist dieses Haltungssystem beispielsweise in Österreich ab dem Jahr 2033 verboten. Dass der Kastenstand erst 2033 vollständig abgeschafft wird, gibt Aufschluss über zwei Dinge: Zum einen darüber, dass die Arbeit von Tierethiker*innen reale und nachhaltige Verbesserungen in der Praxis erzielt. Zum anderen wird deutlich, dass die Erarbeitung und Umsetzung tragfähiger Lösungen für moralische Probleme ein komplexer Prozess ist, der Zeit braucht.
Literatur
Bayertz, Kurt: Praktische Philosophie als angewandte Ethik, in: Ders. (Hg.): Praktische Philosophie. Grundorientierungen angewandter Ethik, Reinbek bei Hamburg 1991, 7-47
Bayertz, Kurt: Was ist angewandte Ethik?, in: Ach, Johann S. / Ders. / Siep, Ludwig (Hg.): Grundkurs Ethik. Band 1: Grundlagen, 2. unver. Aufl., Paderborn 2011, 165-179
Diamond, Cora: Eating Meat and Eating People, in: Philosophy 53 (206), 1978, 465-479
Grimm, Herwig: Das Tier an sich? Auf der Suche nach dem Menschen in der Tierethik, in: Rippe, Klaus Peter / Thurnherr, Urs (Hg.): Tierisch menschlich, Erlangen 2013, 51-95
Grimm, Herwig: Ethik in der Nutztierhaltung: Der Schritt in die Praxis, in: Ders. / Otterstedt, Carola (Hg.): Das Tier an sich. Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, Göttingen 2012, 276-296
Grimm, Herwig / Wild, Markus: Tierethik zur Einführung, Hamburg 2016
Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Bd. 8, hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 2009
Kant, Immanuel: Vorlesung über allgemeine praktische Philosophie und Ethik, in: Stark, Werner (Hg.): Immanuel Kant. Vorlesung zur Moralphilosophie, Berlin (2004 [1774/75]), 105-368
Midgley, Mary: Animals and Why They Matter, Athens 1998 [1983]
Palmer, Clare: Animal Ethics in Context, New York und Chichester 2010
Regan, Tom: The Case for Animal Rights, Berkeley und Los Angeles 2004 [1983]
Singer, Peter: Animal Liberation. The Definitive Classic of the Animal Movement, updated ed., New York 2009 [1975]
Wild, Markus: Tierphilosophie zur Einführung, 2. erg. Aufl., Hamburg 2010