Die Selma-Lagerlöf-Schule (SLS) ist eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Die Namensgeberin unserer Schule, Selma Lagerlöf, war eine bekannte schwedische Schriftstellerin, die bereits 1906 in ihrem Roman „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ eine der ersten tiergestützten Erfolgsgeschichten beschreibt. In diesem wird ein Junge zur Strafe für sein bösartiges Verhalten in einen Däumling verwandelt und reist nun mit den Wildgänsen und einer Hausgans durch Schweden. Er erlebt dort „mancherlei gefährliches Abenteuer, muss sich oft in moralischen Fragen entscheiden und bewährt sich dabei“. Durch diese Persönlichkeitsentwicklung, die er durch das Leben mit der Natur und den Tieren erlebt, wird er geläutert und schließlich zur Belohnung wieder zurückverwandelt. Diese märchenhafte Erzählung ist reine Fiktion, doch beinhaltet sie nicht auch reale pädagogisch relevante Ansätze?
Dass Tiere bei der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen einen positiven Einfluss haben können, zeigen viele Untersuchungen und ist etwas, das wir jeden Tag an unserer Schule erfahren dürfen.
Die SLS verfügt über den Primarbereich und die Sekundarbereiche I und II, außerdem werden auch Schüler*innen inklusiv an Regelschulen von uns beschult. Ca. einhundert Schüler*innen besuchen von der ersten bis zur zwölften Klasse unsere Schule. Die Schülerschaft ist in vielerlei Hinsicht heterogen, viele Kinder haben einen Migrationshintergrund. Der Grad der Beeinträchtigung ist sehr unterschiedlich und reicht von der schwersten mehrfachen Behinderung bis zu leichteren Entwicklungsverzögerungen. Große kulturelle, religiöse und soziale Vielfalt zeichnet unsere Schule aus.
Einen Beitrag zur gelingenden Integration leistet unseres Erachtens auch die Tiergestützte Pädagogik (TGP). Sie existiert an unserer Schule seit fast 20 Jahren und entwickelte sich über die Jahre stetig weiter. Begann sie damals mit der Einrichtung eines kleinen Schulzoos mit Kaninchen, Meerschweinchen und Fischen, so umfasst sie heute die Arbeit mit drei Hunden, Kaninchen, Meerschweinchen, Wüstenrennmäusen, Hühnern und einem Pony. In der Vielfalt der Tiere sehen wir zum einen die Möglichkeit, dass die Schüler*innen die Tierart und das individuelle Tier auswählen, mit dem sie gern ihre Zeit verbringen und so die Förderung erhalten, die auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Denn jedes Tier spricht die Kinder anders an. Zum anderen ergibt sich die Chance, verschiedene Bedürfnisse, Individuen und Interessen der Tiere kennen zu lernen, sich darauf einzustellen und zu beachten – ganz so wie die Schüler*innen dies bei Menschen auch tun müssen und selbst erleben wollen.
Die Schüler*innen lassen sich im Umgang mit den Tieren besonders gut motivieren und arbeiten ausdauernder mit. Sie trauen sich mehr zu und probieren mehr aus. Diese Motivation mit und für die Tiere zu arbeiten geht so weit, dass ein Thema auch behandelt werden kann, wenn ein Tier nicht permanent anwesend ist, sondern etwas für die Tiere gestaltet wird, während die Tiere sich woanders aufhalten. Dies wurde z. B. deutlich, als wir in Naturwissenschaften im Bereich „Botanik“ Pflanzen bestimmen wollten. Wir recherchierten, welche Pflanzen von Kaninchen gefressen werden dürfen, wie diese Pflanzen aussehen, suchten sie in der Umgebung der Schule und bestimmten sie. Wir kennzeichneten die Pflanzen mit einem Kaninchenbild, brachten versuchsweise Kostproben mit und beobachteten, ob die Kaninchen diese fraßen. Zudem gestalteten wir ein Herbarium für die Pflanzen, welche die Kleintiere fressen dürfen. Auch hier wurde die große Heterogenität der Schülerschaft deutlich: Während manche nicht gegenständlich und sehr großflächig den Hintergrund anmalten, verzierten andere detailliert ihr Blatt und beschrifteten es. Anwesend waren die Kaninchen lediglich zu Beginn der Einheit, wie immer voller Appetit, und zum Ende der Einheit – begeistert fressend. Die Schüler*innen wollten unbedingt die richtigen Pflanzen für die Kaninchen finden. Daher erarbeiteten sie den Aufbau von Bäumen und Büschen, verschiedene Blattformen und Rindenbeschaffenheit mit einer Ausdauer und Akribie, die wir sonst selten erleben.
Die Ziele der tiergestützten Förderung können, wie das Beispiel zeigt, entsprechend dem Kerncurriculum den inhaltsbezogenen Kompetenzbereichen einzelner Fächer zugeordnet werden, gehören jedoch bei unserem Konzept schwerpunktmäßig dem Bereich der Personalen Bildung des Kerncurriculums für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung an. Dieser umfasst Kompetenzen in den Bereichen Identität, Kommunikation und Interaktion, Wahrnehmung, Bewegung und Mobilität, Selbstversorgung sowie Lernen.
Diese „Kenntnisse und Fertigkeiten ermöglichen eine größtmögliche Selbstbestimmung und Selbstständigkeit in der Alltags- und Lebensbewältigung“ . Der Kompetenzerwerb im Bereich der Personalen Bildung ist bei der Unterrichtsplanung in allen Fächern und Fachbereichen zu berücksichtigen. Ihm kann auch eine eigens dafür vorgesehene Unterrichtszeit eingeräumt werden. So ermöglicht es unser Konzept, dass wir Tiere im Fachunterricht einsetzen. Auch ist es gut begründbar, dass unser Konzept es vorsieht, dass dienstags nacheinander zwei Schulklassen und eine AG zu uns in die Räumlichkeiten der Tiergestützten Pädagogik kommen, um tiergestützt zu arbeiten. Diese Klassen und die AG-Teilnehmenden werden in eine Kleintier-, Hunde- und Pferdegruppe eingeteilt und arbeiten in diesen Kleingruppen eine Doppelstunde lang mit den entsprechenden Tieren. Betrachtet man die verschiedenen Kompetenzbereiche der Personalen Bildung, wird deutlich, wie gut der Umgang mit den Tieren die Entwicklung unterstützen kann:
So ist es im Sekundarbereich I im Bereich der Identitätsbildung wichtig, dass sich die Schüler*innen mit ihrer eigenen Persönlichkeit beschäftigen. Es geht um die Ausdifferenzierung des Ich-Bewusstseins. Sie sollen sich mit ihren Emotionen auseinandersetzen, sich in Zusammenhang und Abgrenzung zu anderen wahrnehmen. Die Schüler*innen lernen, Entscheidungen zu treffen auf der Grundlage ihrer Vorlieben und Abneigungen. Hier kann der Umgang mit den Tieren eine besonders bedeutsame Rolle spielen, indem der Mensch als soziales Wesen „am Du zum Ich“ wird. In der Beobachtung, der Spiegelung im anderen – der Vergleich mit sich und dem anderen, hier dem Tier, erfahren die Schüler*innen zudem viel über sich selber. Sie lernen sich zu vergleichen, abzugrenzen, Wünsche und Bedürfnisse des Tieres wahrzunehmen und anzuerkennen. Dies übertragen sie schließlich auf eigene Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche, welche die Schüler*innen dann zu verbalisieren üben. Das erfolgt mitunter sehr basal, durch Fühlen, Wahrnehmen, mitunter aber auch bei einigen Schüler*innen auf abstrakter und reflektierter Ebene.
Alle Schüler*innen nehmen ihren individuellen Möglichkeiten und Vorerfahrungen entsprechend Kontakt zu den Tieren auf. Manche beobachten lieber auf Distanz und werfen „Leckerchen“ zu, andere suchen die direkte Nähe des Tieres und nehmen mit fast allen Sinnen sehr basalen Kontakt auf: Sie schauen, haben intensiven Körperkontakt nicht nur mit den Händen, sondern auch mit dem Gesicht oder anderen Körperteilen (erweitert die Tiefensensibilität), riechen, lauschen. Manche Begegnungen werden länger angebahnt, andere ergeben sich spontan und ungeplant, wie z. B. wenn die Schulhündin Uschi in ihrer Box in einem Klassenraum ihre Pause verbringt und die Schüler*innen nach der Pause hereinkommen und alle erst Uschi begrüßen wollen, bevor sie etwas anderes machen. Uschi begegnet den Kindern freudig, offen und zugewandt, so dass alle Schüler*innen das Gefühl haben, dass Uschi sie persönlich willkommen heiße und von ihr gesehen werden.
Bei den Kompetenzen Kommunikation und Interaktion arbeiten wir auf zwei verschiedenen Ebenen: Kommunikation als wechselseitiger Prozess wird im Umgang mit dem Tier unmittelbar deutlich. Ein entsprechender Transfer auf die Kommunikation mit Menschen kann oftmals über die Interaktion mit einem Tier angebahnt werden. Denn im Umgang mit Tieren können nichtsprachliche Ausdrucksformen emotionaler Befindlichkeiten erlernt und angewandt werden, die im Umgang mit Menschen nützlich und mitunter konfliktreduzierend wirken können. Auch hier arbeiten wir auf verschiedenen Niveaus. Geht es bei manchen Schüler*innen darum, Regeln der Kommunikation und Interaktion zu etablieren und um Wortschatzerweiterung, so gibt es an unserer Schule auch viele Schüler*innen, die nicht oder wenig sprechen. Diese sollen mit Hilfe von alternativen Kommunikationsmöglichkeiten miteinander kommunizieren und interagieren können. Hier arbeiten wir mitunter auf einer sehr basalen Ebene. Denn der Beginn der Kommunikation liegt in der beginnenden Interaktion, wenn sich zwei Individuen aufeinander ausrichten und aufeinander reagieren. Hier setzen wir an mit Basaler Stimulation, Triangulation des Blickes, wenn sowohl die Schülerin oder der Schüler als auch die Lehrkraft den Blick auf das Tier richtet oder wenn das Tier und das Kind die Aufmerksamkeit auf einen gemeinsamen Gegenstand richten, wie z. B. ein „Leckerchen“.
Besonders wichtig ist dabei auch, dass die Kinder Ursache und Wirkungszusammenhänge erfahren. Ein schwer mehrfachbehinderter Schüler, der auf seinen Rollstuhl angewiesen war und unter Spasmen litt, lag gerne auf dem Pferderücken. Das Pferd und er entwickelten eine eigene Form der Kommunikation, denn der Junge, dem der Körper nur selten gehorchte, der nicht verbal sprechen konnte, schaffte es mit einem gewaltigen Kraftaufwand auf dem Pferd seinen Kopf zu heben, wenn er losgehen wollte. Das Pferd spürte diese Veränderung der Körperlage und -anspannung des Jungen, interpretierte dies richtig und lief los. So schaffte es dieser Junge, dass so ein großes Tier auf ihn hörte.
Die Arbeit mit den Tieren basiert auf Beziehungsaufnahme – sowohl von Seiten der Tiere als auch der Schüler*innen und uns Erwachsenen. Dazu sind lediglich ein Grundinteresse und ein Mindestmaß an Offenheit von Seiten der Kinder für die Tiere von Nöten. Wenn die Schüler*innen eine Beziehung zu den einzelnen Tieren aufgenommen haben, bleibt eine langanhaltende Bindung zu ihnen bestehen. Dies zeigte sich besonders deutlich, als der langjährige Schulhund Oskar überraschend starb. Wir organisierten eine Trauerfeier und rechneten mit etwa zehn Trauergästen, bei denen wir einen besonders intensiven Kontakt zu dem Hund erlebt hatten. Stattdessen kamen die gesamte Schülerschaft sowie viele Kolleginnen und Kollegen. Die Klassen hatten sich kreativ mit ihren Erinnerungen an Oskar auseinandergesetzt und brachten diese zur Trauerfeier mit. Manche erzählten von ihren besonderen Begegnungen mit ihm. In diesem Moment erlebte die Schule ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl.
Wir erleben TGP als Bereicherung für unser Schulleben auf vielen Ebenen. Allerdings müssen für ein solches Konzept die Rahmenbedingungen geschaffen werden, denn auch die Finanzierung muss gesichert sein. Die SLS hat zum Glück einen aktiven Förderverein, der beispielsweise die monatlichen Kosten für das Pferd trägt. Für größere Projekte wie den Bau des Reitplatzes bedarf es der Unterstützung von Sponsoren. Außerdem setzt dies ein funktionierendes und harmonisches Team sowie Engagement der Lehrenden auch in der Freizeit voraus (Besuche beim Tierarzt, Versorgung der Kleintiere am Wochenende und in den Ferien). Daher: Vielen Dank an Anke Wagner, Ulla Reineke, Birgit Steier und Alena Fischer, denn ohne Euch würde TGP an unserer Schule nicht funktionieren!
Literatur
Beetz, Andrea / Riedel, Meike / Wohlfarth, Rainer (Hg.): Tiergestützte Interventionen. Handbuch für die Aus- und Weiterbildung, München 2018
Buber, Martin: Ich und Du, Stuttgart 1995
Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.): Kerncurriculum für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Sekundarbereich I Schuljahrgänge 5 -9, Hannover 2019
Wikipedia, Die freie Enzyklopädie (Hg.): „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“. Bearbeitungsstand: 28. August 2019, 06:17 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Die_wunderbare_Reise_des_kleinen_Nils_Holgersson_mit_den_Wildg%C3%A4nsen&oldid=191748786 (Abgerufen: 12. September 2019, 09:57 UTC)