Paul Geheeb – ein tierliebender Schulleiter
Leben braucht die Verbundenheit mit der Natur und ihren Geschöpfen. Dieses Credo und die mit ihm verbundene Lebensweise hat der evangelische Theologe und Reformpädagoge Paul Geheeb (1870 – 1961) seinen Schulen – Schulleiter der Odenwaldschule von 1910 bis 1934, der Ecole d’Humanité von 1934 bis 1961 – eingepflanzt. Der Schulgründer, den Else Lasker-Schüler als Rübezahl beschrieb, andere als Naturmenschen, Berggeist, Freund aller Tiere und Waldschrat, verbrachte täglich zwei Stunden mit der Fütterung und Pflege seiner Tiere: zahme Rehe, Vögel und allerhand Nutztiere bevölkerten das Schulgelände und sogar sein Büro. „Sein Lieblingsplatz war der umzäunte Teil des Gartens, der den Tieren gehörte, den lieben Rehen und schönen Vögeln, die der Alte mit so viel zärtlicher Gewissenhaftigkeit pflegte und fütterte. ‚In der Gesellschaft meiner Kinder‚ pflegte er zu sagen, ‚erhole ich mich von den Erwachsenen; bei meinen Tieren erhole ich mich von den Kindern.‘“ Geheeb verkörpert in unserer hochtechnisierten und nachindustriellen Welt den ursprünglichen Typus des Naturmenschen, eines ökologischen Humanisten. Hier hat sich ein Pädagoge seine – von Kindheit an gelebte und durch die Wandervogelbewegung noch verstärkte – Naturnähe erhalten, sie mit lebensreformerischen Impulsen verbunden und zum pädagogischen Programm seiner Schulen gemacht. Auch wenn die gegenwärtige Schulpraxis der Ecole d’Humanité nicht mehr viele Schnittmengen mit den ursprünglichen Geheebschulen aufweist, sind die mehrtägigen Wanderungen im Frühsommer (sechs Tage) und im Herbst (vier Tage) feste und wesentliche Bestandteile des Schullebens. 2012 habe ich als Schulleiterin der Ecole d’Humanité angefangen mit Schüler*innen und mit einer befreundeten Bergbäuerin, Stéphanie von Bergen, und ihrer Lamaherde zu wandern.
Warum Lamas?
Lamas sind kleine höckerlose Kamele und ursprünglich in den südamerikanischen Anden beheimatet. Sie gehören gemeinsam mit den Alpakas zu der Gattung der Neuweltkameliden, im Gegensatz zu den Altweltkameliden, den Trampeltieren und Dromedaren. Ihre Domestizierung begann schon ca. 3000 v. Chr., wobei Lamas vor allem als Lastentiere Verwendung fanden, Alpakas wurden zur Wollgewinnung gezüchtet. Lamas sind Herdentiere mit einem ausgeklügelten Sozialverhalten: Sie kommunizieren auch über mehrere Meter Entfernung non-verbal durch ihre Körpersprache und Mimik miteinander. „Die spucken doch“, ist meistens die erste Reaktion, die man zu hören bekommt, wenn man von Wanderungen mit Lamas erzählt. Ja, bei Rangordnungskämpfen oder Futterstreitigkeiten kommt es unter den Tieren zum Spucken. Diese Spucke ist weder ätzend noch gefährlich, sondern riecht lediglich unangenehm. Pech ist, wenn man zwischen zwei streitenden Tieren steht, großes Pech, wenn beide vorher Gras gefressen haben.
Lamas leben im Herdenverband und dürfen darum nicht alleine gehalten werden. Sie bewahren auch in der Herde einen natürlichen Abstand zu ihren Artgenossen. Lamas sind durch ihre Art besonders geeignet für eine tiergestützte Pädagogik, da sie sensible Distanztiere sind, die aber Nähe zulassen. Kommt ein Mensch ihnen zu nahe, weichen sie zurück. Hat er Geduld und bleibt stehen, redet mit ihnen, dann kommt ein Lama auf den Menschen zu, beäugt ihn neugierig oder schnuppert sogar an ihm. Ist ein Mensch sehr ängstlich und zurückhaltend, drängt es sich nicht auf. Reiten darf man auf Lamas nicht. Und das Gepäck einer ganzen Wandergruppe können sie – sehr zur Enttäuschung von Schüler*innen auch nicht transportieren. Ausgewachsene Lamas stemmen so um die 20 bis 30 Kilogramm. Lamas haben wunderschöne dunkle Augen, lange Wimpern und einen offenen Blick. Sie sind sanftmütig und friedlich, zurückhaltend und neugierig, individuell verschieden, sensibel und sozial, wachsam und aufmerksam, gelehrig und begabt, robust und genügsam, ausdauernd und zäh, und vor allem trittsicher. Sie sind aber auch eigenwillig oder stur, verfressen, dickköpfig und manchmal zu keinem Schritt zu bewegen. Unsere ‚tierischen Copädagog*innen‘ hatten in unserer Wandergruppe ab dem ersten Schritt den Stellenwert ebenbürtiger Mitgeschöpfe.
Wandern in tierischer Begleitung
Wie bekommt man unwillige, zeitweise sogar widerständige und laufungeübte Jugendliche aus aller Welt mit überraschender Leichtigkeit ans Wandern? Indem man je Zweien von ihnen ein mit Halfter und Seil versehenes Lama überantwortet. Eine Wanderung mit einem tierischen Begleiter ist um einiges attraktiver als eine herkömmliche Wanderung. Warum eigentlich?
Lamas sind eine Herausforderung. Jugendliche brauchen Kraft, Phantasie, Geduld und Achtsamkeit, um mit einem Lama an der Hand mehrere Tage durch die Berge zu laufen. Die menschlichen Duos müssen ihr Lama erst einmal kennenlernen, sich vertraut machen und vice versa. Auch die Lamas müssen sich an ‚ihre‘ Zweibeiner gewöhnen. Natürlich sind die Lamas verschieden und selbstverständlich haben sie auch einen Namen, auf den sie hören – meistens zumindest.
Die Ecole d’Humanité befindet sich in einem Bergdorf auf dem Hasliberg auf über 1.100 Meter über dem Meeresspiegel. Von dem Weidenzuhause der Lamas aus wird nach der ersten Phase des Kennenlernens weiter aufgestiegen. Erst Straße, dann schmale, verwurzelte Wege mit teils moderater, teils starker Steigung. Die Schüler*innen lernen, dass die Lamas nicht einfach überall anhalten und fressen dürfen. Freundlich und klar soll man sie weiterziehen. Theoretisch ist das klar, in der Praxis führt das zu manchen Zweikämpfen. Erste Wünsche werden laut. „Kann ich nicht lieber den braunen Archipel haben? Der ist viel freundlicher.“ „Stephi, mein Lama funktioniert einfach nicht!“ Vielleicht liegt in der Auseinandersetzung mit den tierischen Persönlichkeiten der erste Erfolgsschlüssel für die Leichtigkeit dieser Wanderform. So wie man in den Wald hineinruft, verhält sich auch das tierische Gegenüber. Geprägte Jugendliche treffen auf markante Lamacharaktere. Ziel ist, dass wir alle heil bleiben und gemeinsam an der Hütte ankommen. Gegenseitige Anerkennung und Akzeptanz bilden die Basis der entstehenden Beziehungen.
So lernen die Schüler*innen auf dem Weg und während der folgenden Tagestouren in den verschiedensten Situationen, was es bedeutet, sich zu kümmern, gebraucht zu werden, Verantwortung zu übernehmen, sich respektvoll und empathisch zu verhalten, die Regeln und Grenzen anderer anzunehmen, durchzuhalten. Dieses Lernen geschieht im wahrsten Sinne des Wortes ‚on the way‘, individuell und kollektiv. Die Einzelnen erleben sich im nahen Umgang mit dem Tier neu. Man kommt an die eigenen Grenzen, beim Laufen und verstärkt durch die Verantwortung für ein Tier. Zwischen den beiden Lamapaten muss immer wieder ausgehandelt werden, wer das Tier wann, wie und wie lange führt. Wir als Gruppe lernen dazu: Wie stoppt man ein Lama oben auf der Alp, dem es gelungen ist, sich loszureißen? Um uns herum viel an Berg, Weide und Weite, kein Zaun, keine Begrenzung in der Nähe. Das Lama ließ und ließ sich nicht wieder einfangen, egal mit welcher Strategie die Gruppe auch arbeitete. Und die Tiere können wirklich schnell laufen. Urs kam auf die Idee: Man stoppt ein Lama mit einem anderen Lama. Indem man ihm seinen Artgenossen quer in den Laufweg stellt. Es hat funktioniert.
Selbst mit einer Gruppe widerständigster Jugendlicher hätten wir am ersten Tag den Aufstieg zur Hütte wesentlich schneller bewältigt. Und auch für die täglichen Folgewanderungen von unserem Quartier aus mussten wir als Wanderleitungen wesentlich mehr an Zeit einplanen. Wandern mit Lamas bedeutet pure Entschleunigung: Die Tiere beobachten ihre Umgebung ganz genau, kleine Dinge an der Wegstrecke bekommen große Aufmerksamkeit. Sie scheinen die philosophische Haltung, dass der Weg das Ziel ist, verinnerlicht zu haben. Ihre Ruhe und Gelassenheit übertragen sich – allmählich – auf die Gruppe. Sind es sonst die erwachsenen Pädagog*innen, die zum Tempo anhalten bzw. auf ein gleichmäßiges in der ganzen Gruppe dringen, werden es jetzt die Jugendlichen, die die Lamas antreiben oder sich um sie sorgen.
1984 veröffentlichte der Soziobiologe Edward O. Wilson das Buch „Biophilia – The human bond with other species“. Ihm zufolge gibt es ein genetisch basiertes menschliches Bedürfnis, sich nichtmenschlichen Lebewesen und der Natur anzunähern. Diesen Kontakt mit der Natur brauche der Mensch im ausreichenden Maße, um gesund zu bleiben, um den Sinn seines Lebens zu finden und sich zu verwirklichen. Immer wieder war während der Wanderung zu beobachten, dass am Abend der eine oder die andere Schüler*in noch einmal zur Weide zu den Lamas verschwand. Die Lamas werden als Partner wahrgenommen, denen man mit Einfühlungsvermögen, Zuneigung und Zuwendung begegnet und der einem dafür seine Nähe und Wärme und in vielen Fällen auch Trost spendet. Nonverbal lässt sich so manches ausdrücken und aushandeln, was mit Menschen nicht oder noch nicht besprochen werden kann. Wenn erstmal eine Beziehung zu einem Tier entstanden ist, gibt es in seiner Nähe ein voraussetzungsloses Aufgehobensein, eine besondere soziale Resonanz.
Vielleicht ist es das, was die Lamawanderungen zu einem besonderen Erlebnis gemacht hat. Mit uns waren Wandergenossen unterwegs, die uns kommunikativ und empathisch herausgefordert haben. Diese Haltung gegenüber den Lamas hat sich auf unseren Umgang in der Gruppe ausgewirkt. Alle waren wir entspannter und achtsamer im Umgang miteinander. Darum würde ich trotz fehlender Dusche, Plumpsklo, Schlafen im Stroh und pädagogischem Einsatz rund um die Uhr jederzeit wieder mit Jugendlichen zur nächsten Lamawanderung aufbrechen. Leben braucht die Verbundenheit mit der Natur und ihren Geschöpfen, da stimme ich Geheeb zu und konkretisiere: Menschen brauchen Lamas und Berge.
Literatur
Hanusa, Barbara: Die religiöse Dimension der Reformpädagogik Paul Geheebs, Leipzig 2006
Mann, Klaus: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Hamburg 2006
Rasfeld, Margret: Verantwortungslernen an der Evangelischen Schule Berlin Zentrum; in: Hackl, Armin; Pauly, Claudia; Steenbuck, Olaf; Weigand, Gabriele (Hgg.): Begabung und Verantwortung, Frankfurt/M. 2013