Die aktuelle populäre Kultur ist voll von Ungeheuern. Sie werden immer mehr und immer mächtiger. Die Dinosaurier, der Tyrannosaurus Rex im Angriffsmodus (der Chaos-Theoretiker, der dem ganzen Saurier-Park-Projekt skeptisch gegenübersteht, meint dazu: „Ich hasse es, Recht zu behalten“), diese schrecklich fies tödlichen Velociraptoren in den verschiedenen Versionen von „Jurassic Park“ und „Jurassic World“. Die Aliens in den unterschiedlichsten Mutationen – vom süß-harmlosen ET („nach Hause telefonieren!“) über die hoch ambivalenten, die Menschen herausfordernden und zerstörenden Wesen der „Alien“-Filmreihe bis hin zu den der menschlichen Spezies total überlegenen Wesen in „Independence Day“, die ihre Invasion auf der Erde nutzen wollen, um alle Ressourcen auszubeuten, die Menschen zu vernichten und wie Wanderheuschrecken zum nächsten auszuplündernden Planeten weiterzuziehen. King Kong. Godzilla in den von Film zu Film gewaltigeren und schrecklicheren Versionen. Aus dem Ruder gelaufene Maschinen- und Computerwesen wie in den Terminator-Filmen.
Ungeheuer können übermächtige tierische Gestalt haben oder auch eine menschliche, oft entstellte und auf gefährlich-zerstörerische Weise mutierte Körperlichkeit: die Untoten in „Walking Dead“, die Vampire (auch wenn sie nach der Erfindung von synthetischem Blut nicht mehr unbedingt Menschen morden müssen, um sich zu ernähren, wie in der HBO-Serie „True Blood“: „God Hates Fangs“), die „weißen Wanderer“ in „Game Of Thrones“, die in eisiger Kälte im Jenseits, von der Großen Mauer ausgeschlossen, existieren und trotzdem – und gerade deshalb – die ganze menschliche Zivilisation bedrohen, die in heillose Intrigen und Machtkämpfe der Königs- und Fürstentümer verstrickt ist. Und viele andere.
Ungeheuer.
Ungeheuer haben Macht. Sie sind mächtiger als Menschen und als alle bekannten Tiere. Ungeheuer der populärkulturellen Inszenierungen sind fast immer das Andere der Ordnung, und zwar einer jeden Ordnung. Aus Sicht der Menschen sind sie das zugleich Faszinierende und Schreckliche (und damit in der Nähe der Ambivalenz des „Heiligen“, wie sie Rudolf Otto beschrieben hat).
Sind sie auch böse?
Die Werke der populären Kultur, die Ungeheuer im Zentrum haben, diskutieren diese Frage immer wieder, implizit oder ausdrücklich. King Kong beispielsweise ist eine tragische, aus seiner natürlichen Lebenswelt herausgerissene Gestalt, die zu menschenähnlichen Gefühlen in der Lage ist und selbst Mitleid nicht nur empfindet, sondern bei den Zuschauer*innen auch Mitleid und Empathie provoziert. Oder: In Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ heißt es: „Wer einen Drachen überwinden kann, ohne ihn umzubringen, der hilft ihm, sich zu verwandeln. Niemand, der böse ist, ist dabei besonders glücklich, müsst ihr wissen. Und wir Drachen sind eigentlich nur so böse, damit jemand kommt und uns besiegt. Leider werden wir allerdings dabei meistens umgebracht. Aber wenn das nicht der Fall ist, so wie bei euch und mir, dann geschieht etwas sehr Wunderbares1 .“
„I am Legend“ (Francis Lawrence, USA 2007)
Sehen wir uns ein Beispiel für die populärkulturelle Erzählung des „Ungeheuers“ genauer an – unter der Perspektive, wie hier die Ambivalenz von Ordnung und Chaos, von Gut und Böse, Heilsam und Zerstörerisch inszeniert wird. Francis Lawrence‘ Blockbuster „I am Legend“ (USA 2007) folgt dem Erzählmuster, wie wir es in weiteren amerikanischen Apokalypse-Blockbustern seit den neunziger Jahren immer neu vorgeführt bekommen: Die Welt ist bereits untergegangen, als absolut zerstörerischen Folge größenwahnsinniger technologischer Naturbeherrschungsprojekte. Es sind nur noch wenige Menschen übrig. Sie sind selbst absolut bedroht und versuchen, die Erde noch zu retten – oder das, was davon übrig ist. Neu und bemerkenswert an „I am Legend“ ist nicht dieses Erzählmuster, sondern die Weise, wie es inszeniert wird. Der von Will Smith dargestellte Protagonist, der Ex-Militärarzt Dr. Robert Neville durchkämmt auf einem bürgerkriegsmäßig ausgestatteten Geländefahrzeug gemeinsam mit seinem Hund Samantha Tag für Tag die vollständig menschenleeren Straßen New Yorks – solange die Sonne scheint. Nahezu alles Leben ist ausgelöscht, nachdem ein angebliches Wunder-Heilmittel gegen Krebs zu einem tödlichen Virus mutiert ist. Der größte Teil der Erdbevölkerung ist vernichtet. Ein kleinerer Teil ist ebenfalls mutiert, zu enthaarten, grenzenlos hungrigen, grenzenlos aggressionsbereiten, vollkommen schmerzunempfindlichen und der Einfühlung in menschliches Erleben unfähigen menschenähnlichen Wesen, die nur nachts auf Jagd gehen können, weil sie kein Licht vertragen.
Ungeheuer.
Das traditionelle Motiv der blutsüchtigen Vampire ist hier totalisiert in grenzenlosen suchtartigen Hunger auf alles Fleisch, was die wenigen noch existierenden, gegen den Virus immunen Menschen auf den Knochen tragen.
Dr. Nevilles Haltung gegenüber diesen Untoten ist vielschichtig. Nachts muss er sein Zuhause völlig geheim halten und abschirmen, um nicht selbst gejagt und gefressen zu werden. Tagsüber tötet er gnadenlos jedes Exemplar der Untoten, das halb paralysiert trotz Sonnenlicht draußen rumhängt. Eigentlich aber ist er als Forscher aktiv: Er versucht, ein Serum zu entwickeln und an von ihm eingefangenen Exemplaren der Untoten zu testen, das den Untoten ins menschliche Leben zurückverhilft. Er findet schließlich das rettende Gegenmittel, aber im selben Moment wird seine Bleibe von den Untoten gefunden. In einem letzten Kampf gibt er sein Leben dahin, um das rettende Serum an eine bei ihm untergetauchte Mutter-Kind-Familie und damit perspektivisch an alle übrig gebliebenen Menschen weiterzugeben.
Interessant und neu ist, dass der Film in kurzen Augenblicken den Blick des Forschers Dr. Neville auf die Untoten übernimmt – nicht nur im Interesse, ein Gegenmittel zu finden. Ganz knapp, wie nebenbei gelingt immer wieder ein Einblick in die sozialen Lebensformen der Untoten. Sie sind nicht bloß degenerierte Menschen. Sie entwickeln Intimität, wenn sie sich wie Trauben im Dunklen zusammendrängen und schlafen. Sie kooperieren präzise bei der Jagd. Und sie sind liebesfähig auf eine totale Weise – der Anführer der Angreifer auf das Haus von Dr. Neville will seine Partnerin wiederfinden und befreien, die von Dr. Neville zu medizinischen Experimenten aus der schlafenden Gruppe der Untoten entführt wurde.
Dieser gebrochene Blick auf das überlebensgefährliche und zu vernichtende Andere, das die Untoten gegenüber der menschlichen Zivilisation repräsentieren, zeichnet „I am Legend“ gegenüber anderen Filmen des Genres aus. In Richard Mathesons Romanvorlage von 1963 liegt hier das eigentliche Interesse: Das Andere der menschlichen Zivilisation, das alles menschliches Leben gefährdende Fremde ist nicht nur böse. Das Andere kann in seiner Andersheit wahrgenommen und respektiert werden.
Johan Amos Comenius: orbis sensualium pictus
Ungeheuer finden einen zentralen Ort auch in einem didaktischen Arrangement, das seit der frühen Neuzeit zu großem Einfluss kommt: Nämlich im „orbis sensualium pictus“ des Johan Amos Comenius – Erstausgabe 1658.
Comenius entwickelt in diesem Buch die didaktische Dimension des Re-Präsentierens: als die Vorstellung der „Welt noch einmal“ durch Auswahl, Konzentration, Ausgrenzung von bestimmten kulturellen Inhalten, die durch Bildung tradiert werden sollen. Amos Comenius will dabei erreichen, dass Lernen selber Spaß bereitet:
„Dieses Büchlein ist auf diese Art eingerichtet / wird dienen, wie ich hoffe: Erstlich / die Gemueter herbey zu locken / dass sie ihnen in der Schul keine Marter / sondern eitel Wollust / einbilden … Der aber zuwegen bringt / dass von den Wuerzgärtlein der Weißheit / die Schrecksachen hinweg bleiben / der hat ewas großes geleistet.“
In diesem didaktischen Programm des Re-Präsentierens der „Welt noch einmal“ greift alles ineinander: Die Dinge – übrigens auch die Ideen, also die geistigen Gegenstände – werden durch Bilder sinnlich wahrnehmbar gemacht. Sie werden mit Namen versehen und erhalten so ihren Ort im System der Sprache, als der Ordnung, die vor und außerhalb der sinnlichen Wahrnehmung des lernenden Subjektes da ist. Durch die Verknüpfung zwischen den sinnlichen Eindrücken der Gegenstände und den Namen wird zugleich ihr Ort im System überindividueller gesellschaftlicher Regelhaftigkeit angegeben. Die Beschreibungen bestimmen, in welcher Weise die benannten Dinge zueinander in Beziehung stehen, zudem von den Menschen benutzt werden können.
Die Entgegensetzung zwischen den „Würzgärtlein der Weißheit“ und den „Schrecksachen“ im letzten zitierten Satz gibt einen recht genauen Hinweis auf die historische Situation, in der dieses didaktische Programm notwendig erscheint. Der Dreißigjährige Krieg ist soeben zu Ende gegangen. Die Welt ist aus den Fugen. Für Elend und Pest, Unglück und Not werden allenthalben Sündenböcke gesucht. Die Zeit der großen Hexenverfolgungen findet ihre Blüte. Comenius weiß genau, wovon er spricht, wenn er die durch Bildung geordnete Welt gegen die „Schrecksachen“ setzt: Die gesellschaftliche Ordnung selbst ist zerstörerisch geworden. Der ungebremste Zusammenprall der lernenden Individuen mit der gesellschaftlichen Realität müsste diese zerbrechen. Die didaktisch repräsentierte „Welt noch einmal“ soll nicht nur die Zöglinge in eine bessere, klarere, geordnetere Welt einführen, als sie sie „draußen“ erleben könnten, sondern soll diese Welt selbst heilbar machen.
Das Buch beginnt nicht mit den Menschen und ihrer Lebenswelt. Gott und die Welt, die Fülle der Lebewesen, die Ordnung der Dinge werden vorgestellt; und erst auf Seite 74 des Buches kommt der Mensch in den Blick. Die Anordnung des Büchleins könnte auf eine – modern formuliert – ökologische Orientierung dieser Erziehungslehre schließen lassen. Der Mensch wird seiner Lebensumwelt nicht gegenübergestellt, um sie zu unterwerfen, sondern wird in sie eingeordnet. Es folgen zahlreiche Bilder zur biologischen Konstitution des Menschen; sodann – in direkter Gegenüberstellung – das, was den Menschen in seinem Innersten ausmacht.
Und dann kommen Ungeheuer. Dann kommt, was als Ungeheuer, als Gegenbild, als das schreckliche „Andere“ gelungenen Menschseins aus der Ordnung ausgeschlossen wird. (Bild 90, die Monstrosi). In Comenius‘ Didaktik kommen die monstrosi, die Ungeheuer vor allem als menschliche Lebewesen in den Blick, deren körperliche und/oder seelische Gestalt aus der als „Ordnung“ konzipierten Welt herauszufallen scheinen.
Comenius’ Modell einer durch richtige Pädagogik herzustellenden heilen Ordnung teilt eine Eigentümlichkeit, die einer jeden Ordnungs-Konzeption eignet. Ordnung wird dadurch begründet, dass der Bereich, für den sie Geltung beansprucht, von ihrem „Anderen“ abgegrenzt wird. Dieses „Andere“ der Ordnung ist das Un-Geordnete, das Chaotische, das für die Ordnung selbst Zerstörerische. Es ist das Un-Geheure. Die Schöpfungsmythen der alten Kulturen erzählen von der Begründung der Ordnung durch ihre Ausgrenzung aus ihrem Anderen, durch die Unterwerfung des Chaotisch-Ungeordnet-Zerstörerischen des Lebens. Ordnung wird begründet durch Ausgrenzung der Ordnung gegenüber anderen. Dies scheint gar nicht anders möglich. Doch zugleich kann dies zerstörerische Formen annehmen – und nimmt gerade heute in vieler Hinsicht zerstörerische Formen an.
Wir erleben heute in Hassdiskursen von Rechtspopulisten und Fremdenfeinden in sozialen Netzwerken, wir erleben in den Morddrohungen und Mordhandlungen von Rechtsterroristen, wie Ausgrenzung aus einem als harmonisch und gut phantasierten Innenbereich des Eigenen – als Volk, Ethnie, Kultur, Religion oder wie auch immer konzipiert – zerstörerisch wird. In der Nazidiktatur 1933 bis 1945 waren die ausgegrenzten, verfemten, zu „Ungeheuern“ verzeichneten Menschen Juden, Kommunisten, Homosexuelle, Sozialdemokraten und Christen. Die entartete Kunst und vieles andere mehr wurde vernichtet, um die Ordnung Nazi-Deutschlands durchzusetzen.
Ich möchte keine gedanklichen Kurzschlüsse provozieren. Altorientalische Schöpfungserzählungen, reaktionäre bis faschistische moderne Ideologien und eben im Falle von Comenius: das Programm einer Verbesserung der Ordnung der Welt durch eine gute Didaktik in der frühen Moderne, das ist keineswegs alles dasselbe. Aber all dies hat in unterschiedlicher, mal lebensfördernder und mal zerstörerischer Weise an der grundlegenden Ambivalenz von Ordnungs-Konzeptionen Anteil: ihr Anderes bezeichnen, ausgrenzen, tendenziell überwinden und zerstören zu müssen, um „Ordnung“ überhaupt bilden zu können. Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass Ordnungs-Konzeptionen zerstörerisch werden – auch pädagogische Ordnungs-Konzeptionen wie die von Comenius – liegt darin, dass ihre Macht begrenzt wird – nicht zuletzt auch durch theologische Einsichten.
Behemoth und Leviathan (Hiob 40,15-41,26)
Anders als in der historisch umgebenden altorientalischen Umwelt sind in den Texten der Hebräischen Bibel, des christlichen Alten Testaments, die „Ungeheuer“ nicht das Andere von Gottes Schöpfung². Sie gehören zu ihr. Während im babylonischen Mythos beispielsweise der Gott Marduk die Ordnung begründet, indem er die Urschlange Tiamat (symbolisch verbunden mit dem Meer) zerschlägt, erschafft Gott nach dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (1 Mose 1,21) das „große Seeungeheuer“ (tanninim) gemeinsam mit allem Getier, das im Wasser lebt, webt und wimmelt. Das Ungeheuer gehört zu Gottes guter Schöpfung.
Dies gilt auch für Behemoth und Leviathan, die Ungeheuer in Hiobs Streitreden mit Gott (Hiob 40,15-41,26): Sie sind furchtbar, entsetzlich, machtvoll („aus seinem Rachen fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. Aus seinen Nüstern fährt Rauch wie von einem siedenden Kessel und Binsenfeuer. Sein Odem ist wie lichte Lohe, und aus seinem Rachen schlagen Flammen …“, Hiob 41, 11ff.) – und sie sind doch und gerade darin zugleich Gottes Schöpfung. Gott kann die Meeresungeheuer benutzen, um nach seinem Willen das Gute durchzusetzen, wie in der Geschichte, in der der ertrinkende Jona von einem Seeungeheuer gefressen, gerettet und an Land ausgespien wird. Und der Schöpfungspsalm 104 beantwortet die Frage, wozu die Ungeheuer da sind, ganz eindeutig: „… da ist das Meer, das so groß und weit ist, da wimmelt’s ohne Zahl, große und kleine Tiere, dort ziehen Schiffe dahin, da ist der Leviathan, den du gemacht hast, damit zu spielen.“
Im Raum der biblischen Erzähltradition sind die Ungeheuer nicht das Andere der Ordnung. Sie gehören zu Gottes guter Schöpfung. Sie sind furchtbar, mächtig, sie gehören von ihrer Größe her eher zu den Schiffen als zu den Tieren – und doch sind sie dazu da, dass Gott mit ihnen spielt.
Welch ein ent-ängstigendes Bild! Es befreit dazu, die ganze Wirklichkeit in ihrer Ambivalenz wahrzunehmen. Das Gefährlich-gefährdende gehört dazu genauso wie all das, was Leben ermöglicht und Leben schön macht. All das, was als Ungeheuer Angst macht, muss nicht verleugnet, nicht ausgegrenzt, nicht gehasst, nicht verbannt werden. Es gehört „zu uns“ genauso wie die Schönheit des Lebens. Dadurch wird das Leben nicht unbedingt leichter. Aber es wird realistischer. Und liebevoller.
Literatur
- Ebach, Jürgen: Leviathan und Behemoth. Eine biblische Erinnerung wider die Kolonisierung der Lebenswelt durch das Prinzip der Zweckrationalität, Paderborn u.a. 1984
- Ende, Michael: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Stuttgart 4. Auflage 1980
Anmerkungen
- Ende: Jim Knopf, 213.
- Vgl. zum Folgenden Ebach, J.: Leviathan und Behemoth.
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