Tatsächlich ist das niedersächsische Schulsystem vom Grundsatz her „ziemlich gerecht“. Es besteht wie in ganz Deutschland nicht nur ein umfassendes Recht auf Schule und Bildung, sondern eine Pflicht, sich bilden zu lassen. Verstöße dagegen werden in Niedersachsen konsequent geahndet.
Überall in unserem Flächenland gibt es in erreichbarer Nähe Schulen. Wir leisten uns auch „Zwergschulen“, um den Kleinen keine weiten Wege zumuten zu müssen.
Es gilt der Grundsatz in unserem Land, dass Bildung kostenlos sein muss. Die aktuelle Anregung des Bürgerrats, auch das Mittagessen in den deutschen Schulen kostenlos anzubieten, kann auch in Niedersachsen zu noch mehr Gerechtigkeit führen. Auch Privatschulen oder Freie Alternativschulen müssen in Niedersachsen ein gestaffeltes Schulgeld anbieten und so jedem Menschen einen Zugang ermöglichen, unabhängig von seinen finanziellen Möglichkeiten.
In Niedersachsen ist auf der Grundlage unseres Schulgesetzes jede Schule grundsätzlich eine „inklusive Schule“. Prinzipiell gilt die Wahlfreiheit. Schüler*innen bzw. Eltern können aus dem regional vorhandenen Schulangebot die Schule wählen, die sie besuchen möchten.
Das alles ist schon „ziemlich gerecht“. Und schauen Sie sich § 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes an, den für jede Schule in Niedersachsen verpflichtenden „Bildungsauftrag der Schule“, ein geniales Statement für Gerechtigkeit in Niedersachsens Schulen. Seit kurzem fordert das niedersächsische Kultusministerium seine Schulen dazu auf, „Freiräume“ zu nutzen, um u.a. sozioökonomisch bedingte Ungleichheiten durch passende Maßnahmen vor Ort auszugleichen. Das alles ist die theoretische Grundlage für „ziemlich gerecht“.
„Ziemlich“ ist eine Abstufung. „Ziemlich ungerecht“ ist bspw. in unserem Land die Tatsache, dass die infrastrukturelle Ausstattung der Schulen hinsichtlich Gebäude, Mobiliar, digitaler Ausstattung, Schulsekretariat, Sauberkeit, finanzieller Mittel für schulbezogene Projekte, Ganztagsausstattung u.a.m. abhängig ist von Vermögen und Schwerpunktsetzung des jeweiligen Schulträgers. Daraus resultieren gravierende Unterschiede hinsichtlich dieser Bedingungen. Die Plausibilität für „ziemlich“ ergibt sich auch aus der unterschiedlichen alltäglichen Umsetzung des Bildungs- und Erziehungsauftrags in den Schulen und Klassenzimmern, abhängig von der Lage der Schule, abhängig von der personellen Ausstattung der Schule, abhängig von Leitbild, Schulkultur, pädagogischer Ausrichtung der jeweiligen Schule und auch Haltung und Anspruch der einzelnen Lehrkraft.
Im Kontext von „Gerechtigkeit“ stellen sich weitere Fragen: Ist die Verteilung der „besonderen Herausforderungen“ über das Land gerecht? Können diese besonderen Herausforderungen aufgefangen werden durch die Zuweisung von „Zusatzbedarfen“, für die in den schlecht versorgten Regionen dann kein Personal zur Verfügung steht? Ist die stark ungleiche regionale Unterrichtsversorgung in unserem Flächenland und auch zwischen unseren Schulformen gerecht? Ist die Verteilung der aktuell stark begrenzten Personalressourcen auf der Grundlage der gültigen Erlasse noch gerecht? Muss die Verteilung der kostbaren Ressourcen auf Grundlage ganz neuer, sozialdatenbasierender Faktoren erfolgen? Müssen wir uns von überholten Traditionen im Schulsystem endlich trennen, sind bspw. „Hausaufgaben“, die tatsächlich zuhause und somit unter unterschiedlichsten Rahmenbedingungen mit keiner bis überbordender Unterstützung erledigt werden, zeitgemäß und gerecht? Kann mehr Mut zu mehr Innovation und zu noch mehr „Freiräumen“ zu gerechteren Lösungen für jedes einzelne Kind führen?
Für manche dieser Fragen sind Lösungen in Sicht, z.B. über das bundesweite Startchancenprogramm1, das über einen Sozialindex ausgewählten Schulen zusätzliche Ressourcen und zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen zukommen lässt. Das Programm ist langfristig angelegt. Zehn Jahre lang sollen die ausgewählten Schulen besonders unterstützt werden. Sehr gut!
Unser System ist in weiten Teilen tatsächlich „ziemlich gerecht“. Aber im Hinblick auf die jeweilige individuelle Unterstützung jeder Schülerin, jedes Schülers geht ganz sicher mehr. Noch gerechter ist möglich.
Unsere Gesetze, Verordnungen, Erlasse und Handreichungen bilden einen wirksamen und zielführenden Rahmen für eine ziemlich gerechte Schule. Den Rahmen mit Leben füllen die Menschen, die tagtäglich in den Schulen und Klassenzimmern alles geben für eine gerechte Schule. Mit Mut zu neuen Lösungen im „Großen“ und im „Kleinen“, mit den an aktuelle gesellschaftliche Bedingungen angepassten Sichtweisen von Schule und Lernen vor Ort kann aus „ziemlich gerecht“ „gerecht“ werden. Die Grundbedingung dafür ist noch immer auch der „pädagogische Optimismus“ jedes und jeder Einzelnen in unserem Bildungssystem.
Anmerkungen
- Zur Erläuterung siehe den Beitrag „Das Startchancen-Programm (SCP) – ein Weg zu mehr Chancengerechtigkeit in der Schule?“ von Sabine Schroeder-Zobel, in diesem Heft, 62.