Leistung ist Teil des Systems Schule

von Christine Bendrath

In Deutschland kann jedes Kind zur Schule gehen. – Das finde ich gerecht! In Deutschland verpflichtet sich der Staat, jedem Kind eine grundlegende allgemeinbildende Schulbildung zukommen zu lassen. – Das finde ich gerecht! In Deutschland besteht freie Schulwahl. – Das finde ich gerecht!

Die allgemeine Schulpflicht in Deutschland ist in ihrer Grundidee zutiefst gerecht, weil damit der Staat jedem Kind, gleich welcher Herkunft, welcher persönlicher Begabung und unabhängig individueller finanzieller Möglichkeiten, eine grundlegende Bildung zugänglich macht.

Eine solche grundlegende Schulbildung zu bekommen, ist in Niedersachsen durch ein vielfältiges Angebot an Schulen in freier oder staatlicher Trägerschaft möglich. So werden grundlegende Kenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen in Niedersachsen (wie in den meisten anderen Bundesländern) in vier Jahren Grundschule vermittelt – die ja genau deswegen diesen Namen trägt: Grund-Schule. Vier Jahre lernen hier alle Kinder zusammen und erwerben Grundkenntnisse, um danach – ihren Fähigkeiten entsprechend – auf einer weiterführenden Schule individuell passend an diese grundlegenden Fertigkeiten anzuknüpfen und darauf aufzubauen. Um in diesen vier Jahren allerdings lernen zu können, ist es notwendig, dass alle Kinder Deutsch als Bildungssprache beherrschen. In einer veränderten Gesellschaft, in der wir inzwischen viele Kinder im Schulsystem haben, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist, müsste es jedoch viel mehr Sprachförderung geben – sei es durch Sprachlernklassen oder durch DaZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache). Nur so bekommen alle Kinder eine Chance, am Bildungswesen teilzuhaben – das wäre gerecht. Diesem wird die niedersächsische Landesregierung aber leider nicht gerecht. Im Gegenteil, es sind bereits im vergangenen Jahr die DaZ-Stunden gekürzt worden und sie werden im kommenden Schuljahr noch einmal drastisch reduziert. Und so sitzen in den Klassen der Grundschulen sowie auch der weiterführenden Schulen viel zu viele Schüler*innen, die Deutsch nicht auf einem angemessenen Niveau beherrschen. Dieser Umstand bremst den Lernfortschritt der gesamten Lerngruppe und belastet zudem die unterrichtenden Lehrkräfte, die gern mehr für die Betroffenen tun würden, dafür aber keine Kapazitäten frei haben.

Systembedingt nicht allen Schüler*innen gerecht werden zu können – das finde ich nicht gerecht.
Für gerecht halte ich dagegen, dass Kinder nach vier Jahren gemeinsamen Lernens auf verschiedenen Leistungsniveaus weiterlernen dürfen. Jede*r nach je eigenen Neigungen und Fähigkeiten. Denn nur so kann den Kindern in ihrer individuellen Lernpersönlichkeit gerecht geworden werden, nur so können sie „weitergeführt“ werden in ihren individuellen Lernprozessen.

Wichtig ist, zwischen leistungsgerechter Förderung der Lernenden und Persönlichkeitsbildung zu unterscheiden. Letztere ist unabhängig von auf Leistung bezogenen Lerngruppen Teil der Schulbildung an jeder Schulform. Förderung und Weiterentwicklung der individuellen Lernpersönlichkeiten und Interessen von Schüler*innen sind jedoch angewiesen auf ein mehrgliedriges und vielfältiges Schulsystem, wie es in Niedersachsen (noch) existiert und breit aufgestellt ist. In sechs verschiedenen weiterführenden staatlichen Schulformen (Hauptschule, Realschule, Oberschule, Integrierte Gesamtschule, Kooperative Gesamtschule und Gymnasium) bietet es neben privaten Schulformen ein breit gefächertes Angebot, das für alle eine große Wahlfreiheit und vielseitige Fördermöglichkeiten zugleich bereitstellt. Innerhalb der einzelnen Schulformen werden zudem zahlreiche Wahlfächer – Sprachen, Naturwissenschaften, Sport, musische Fächer – angeboten, die der einzelnen Begabung oder dem individuellen Interesse entsprechend zusätzlich belegt werden können. Auch Fördermaßnahmen für Schüler*innen mit individuellem Förderbedarf gibt es an allen Schulformen. Somit wird das niedersächsische Schulsystem einer Vielzahl unterschiedlicher Lernpersönlichkeiten und Lerntypen auf vielfältige Weise gerecht. Das halte ich für gerecht. Dass hierbei Leistung eine Rolle spielt, ist Teil des Systems Schule, denn Lernen ist eine Leistung. Und je nachdem, wie leistungsfähig oder leistungswillig eine Schülerin oder ein Schüler ist, kann sie oder er an den unterschiedlichen Schulformen individuell passend gefördert werden. Auch das halte ich für gerecht.

Eine Einschränkung gibt es allerdings für Schüler*innen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf, für die noch vor wenigen Jahren verschiedene Formen von Förderschulen zur Verfügung standen. Wenn diese Kinder nicht inklusiv beschult werden wollen oder deren Eltern dies nicht wünschen, so haben sie oft leider keine Möglichkeit mehr, eine Förderschule zu besuchen. Sie können nicht mehr die hochspezialisierte Betreuung und Förderung dieser Schulform in Anspruch nehmen, wenn sie dies für sich für gut und richtig empfinden, sondern müssen eine Regelschule besuchen. Gerade diese Familien von der Wahlfreiheit der Schulform auszuschließen, halte ich nicht für gerecht.

Für ungerecht halte ich es auch, dass die Lerngruppen an vielen weiterführenden Schulen viel zu groß sind und so eine individuelle Lernförderung durch die Lehrkräfte nur schwer möglich ist. So kann weder eine adäquate Sprachförderung bei den einen noch eine intensive inklusive Betreuung bei den anderen, weder eine Unterstützung bei individuellen Schwächen einzelner noch „normaler“ Unterricht für die Mehrheit der Lerngruppe geleistet werden – geschweige denn eine Förderung der Begabten. Letztlich kommen alle Schüler*innen zu kurz und die Lehrkräfte fühlen sich vom System allein gelassen und sind überlastet. Die Folge sind oft Stundenreduzierungen oder gar Ausfall durch Krankheit. Dabei sind die meisten Lehrkräfte, das belegen Umfragen, hochmotiviert – sie brennen für ihre Fächer und leisten über die Maße viel für ihre Schüler*innen.

Wie ist Schule bzw. ein Schulsystem also gerecht? Gerecht ist ein Schulsystem m. E. dann, wenn es möglichst vielen Schüler*innen gerecht wird: in ihren je unterschiedlichen individuellen Lernpersönlichkeiten mit je unterschiedlichen Leistungsanforderungen und Lernförderungen in einem vielfältigen Schulsystem durch fachlich und pädagogisch gut ausgebildete, gesunde und motivierte Lehrkräfte in kleinen Lerngruppen, in denen jede*r Schüler*in individuell gefördert und gefordert werden kann.