Ähnlich wie das Themenfeld Frieden wirkt auch das Thema Gerechtigkeit häufig sehr groß, allumfassend und schwer greifbar. Um dem Ganzen noch mehr Komplexität zu geben, spricht man von einem „positiven Frieden“1, wenn die Gerechtigkeit in einer Gesellschaft steigt und die Gewalt abnimmt. Nach einem gewaltsamen Konflikt schweigen zwar die Waffen, doch so richtig friedlich wird es erst, wenn Gerechtigkeit herrscht. „Transitional Justice“ beispielsweise beschreibt den Prozess von einer von Gewalt geprägten Gesellschaft nach einem Konflikt, zurück zur Verständigung und schließlich Versöhnung zu gelangen2. Dabei spielt die Zivilgesellschaft, zu der ich die Kirche mitzählen würde, eine zentrale Rolle. Denn sie trägt diesen Prozess aus, definiert die Gerechtigkeit und wendet sie an.
Wie kann man sich dem Begriff also annähern? Wenn wir Gerechtigkeit nicht in der engen Definition einer wiederherstellenden Gerechtigkeit der Rechtsprechung begreifen, bekommt man den Eindruck, dass sie sich wie ein Netz in die gesellschaftlichen Sphären webt. Gerechtigkeit kann ein Auffangnetz der sozialen Gerechtigkeit, ein Sicherheitsnetz der Verteilungsgerechtigkeit oder eines, an dem man in Form der Chancengerechtigkeit zu klettern vermag, sein. Diese Begriffe sind nicht exkludierend und haben Überschneidungen. Ein Netz eben. Es berührt die Menschen in ihrem Alltag und bietet gleichzeitig die Grundlage für ebendiesen. Als Kirche müssen wir uns dafür einsetzen, diese Gerechtigkeit zu erhalten, sie sogar zu fördern. Nicht nur innerhalb unserer eigenen Gemeinden und Umfelder, sondern idealerweise mit einem erkennbaren Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes. Das inkludiert caritative, diakonische Arbeit sowie Bildungsangebote zur Sicherung der Chancengerechtigkeit.
Die theoretische Ebene ist damit zumindest angedeutet. Wie sieht es aber in der Praxis aus? Wir feiern schließlich 75 Jahre Grundgesetz, beziehungsweise 34.
Was wir können
Unsere Kirche stellt ihre Friedensarbeit in den Dreiklang von Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Dabei ist vor allem die innergesellschaftliche Gerechtigkeit auf dem Weg zu einem gerechten Frieden maßgeblich. Dazu gibt es einiges, was die Kirche in ihrer Funktion für die Zivilgesellschaft leisten kann. Allein das Engagement der vielen Ehrenamtlichen und auch der Hauptamtlichen trägt tagtäglich dazu bei, dass unsere Gemeinschaft gerechter, klüger und resilienter wird.
Gerechtigkeit lässt sich wie oben bereits benannt unterschiedlich interpretieren. Mit den Angeboten der Friedensorte, der religionspädagogischen Institute und Arbeitsstellen, der Erwachsenenbildung, der Konföderation und der einzelnen Referate für inhaltliche Begleitungen wie sie im Haus kirchlicher Dienste zu finden sind, wird viel Potenzial geschaffen.
Über gerechte Demokratie, die Gefahr von Populismus und Polarisierung lässt sich im Antikriegshaus Sievershausen viel Kompetenz finden. Historisch-politische Bildung als Grundlage für respektvolles, inkludierendes Miteinander findet sich gleich bei mehreren Friedensorten3 wie z. B. in der Gedenkstätte Lager Sandbostel und im Anne-Frank Haus Oldau. Mit dem Schwerpunkt Flucht und Migration in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld wird ein Beitrag zum Verständnis von Integration geleistet und die Menschheitsgeschichte als Migrationsgeschichte verstanden. Internationale Verständigung in gerechtem und fairem Miteinander wird in Hermannsburg vermittelt. Friedensethische und -theologische Reflexion wie zum Thema Gerechtigkeit und Frieden finden sich in der Woltersburger Mühle. Klimagerechtigkeit in einer Form, mit der in täglicher Überlegung ein Beitrag zur Nachhaltigkeit geschaffen werden kann, findet sich in der Arbeit des Friedensortes „Lernen eine Welt zu sein“ in Hildesheim – geübtes Miteinander im Sinne ziviler Konfliktbearbeitung wiederum im Friedensort Osnabrück.
Es gibt viele weitere, zielgruppenspezifische Angebote, um mit dem Thema Gerechtigkeit in Kontakt zu kommen.Initiativen wie „Kirche für Demokratie – gegen Rechtsextremismus Niedersachsen“ stellen ein Sammelbecken von Einzelpersonen, Gruppen, Gemeinden, Landeskirchen und Institutionen dar, welche die Gerechtigkeit in den Blick und in die Mitte nehmen.4 Kirchliche Netzwerke wie der Arbeitskreis „Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung“ sind Elemente der Auseinandersetzung im ökumenischen Miteinander. Durch die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Bildungseinrichtung ergibt sich ein breites Netzwerk, welches zum Teil sogar bundesweit aufspannt, wie reliGlobal.5
Für wen wir wirken
Die lange Beschreibung unterschiedlicher Aspekte und Angebote lässt bereits darauf schließen, dass die Zielgruppen für diese Arbeit sehr breit aufgestellt sein können. Von klein auf lässt sich eine gerechte Gesellschaft üben. Ich erinnere mich daran, wie auf unserem Kirchparkplatz mal das Projekt „Stormini“ des Kreisjugendringes Stormarn gastierte. Eine Kleinstadt in der Stadt, geführt von Kindern und Jugendlichen mit eigenen Wirtschaftsabläufen, Entscheidungsgremien und Konfliktlösungen. Die dort erfahrene Selbstwirksamkeit und das Gerechtigkeitsempfinden beeindrucken mich bis heute. Im Kleinen lässt sich das auch durch Aktions- und Projekttage gestalten, wie mit dem Planspiel „Civil Powker“6 oder einer Friedensfachkraft der Friedensbildung Niedersachsen.7
Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass wir Gerechtigkeit durchaus als festes Element einer friedlichen Gesellschaft definieren können. Die Verantwortung dafür liegt bei uns und in unserer Ausgestaltung des Zusammenlebens. Um die Wirklichkeit zu gestalten, die es ermöglicht, dass Gerechtigkeit und Frieden herrschen.
Anmerkungen
- Galtung, Theories of peace, 12.
- Vgl. Fischer, Transitional Justice, Theory and Practice.
- https://www.friedensorte.de
- https://www.ikdr-niedersachsen.de
- https://religlobal.org
- Vgl. z.B. Bittl, Karlheinz: Civil Powker – ein Lernspiel zu zivilem Engagement in internationalen Konflikten, in Loccumer Pelikan 4/2018, https://kurzlinks.de/y9fk
- https://kurzlinks.de/411l. Siehe im RPI auch www.rpi-loccum.de/Arbeitsbereiche/Themen/Frieden.
Literatur
- Fischer, Martina: Transitional justice and reconciliation: Theory and practice, https://kurzlinks.de/q94t
- Galtung, Johan: Theories of peace. A synthetic approach to peace thinking. Oslo: International Peace Research Institute 1967