Hart, aber … Von fairen Fouls, Statistiken und einer Leitidee

von Gert Liebenehm-Degenhard

Steilvorlage

Eine gewisse Härte gehört für mich einfach zum Fußball,“ unterstreicht Robert Andrich. Mit Bayer Leverkusen gewann der defensive Mittelfeldspieler in der letzten Saison das Double aus Meisterschaft und Pokalsieg. Mittlerweile gehört er zu einem viel beachteten Akteur in der DFB-Nationalmannschaft. Er gilt als einer der „Worker“, die der Bundestrainer fürs Nationalteam gefordert hatte. „Eine gewisse Härte gehört für mich einfach zum Fußball. Aber ich bin dabei nicht unfair.“1  Hart, aber fair! Ein fußballerisches Leitmotiv, immer wieder anerkennend zitiert und verknüpft mit den Tugenden Leidenschaft, Einsatzwille, Kampf und Biss. Und erwartet, vermisst oder vehement eingefordert durch die Trainer, Fans, Mitspieler und Medien.

Hart, aber fair! In jedem ‚aber‘ verbergen sich aufschlussreiche Kontroversen: In diesem ‚aber‘ stehen sich mehrere konkurrierende Normen gegenüber. Auf der einen Seite die erstrebte Härte, als Ausdruck des Siegeswillens und als vorausgesetzte Leistungsnorm – und auf der anderen Seite der Anspruch, fair zu spielen. Damit präsentiert jedes Fußballspiel, gleich in welcher Liga oder Altersgruppe, ein grundlegendes Dilemma: Fußball ist ein Spiel, bei dem Fairplay und Respekt einen so hohen Stellenwert innehaben, dass die Verbände immer neue Kampagnen starten und alle Kinder dies vom ersten Training an kennenlernen sollen – Fußball als „schönste Nebensache der Welt“. Ein Sport, der in Sommermärchen-Zeiten Fans unterschiedlicher Nationen zusammenführen kann. Zugleich geht es immer um Sieg oder Niederlage – auch die Kleinsten wollen und sollen gewinnen. Der Erfolg zählt. Und diese beiden Normen sind nicht (leicht) in Einklang zu bringen.


Abseits

Wie also mit diesem Dilemma umgehen? Eine Variante deutet Robert Andrich an. Fairness schließt auch die Möglichkeit ein, „eklig“ zu spielen. „Eklig sind Kleinigkeiten: Mal vorsichtig auf den Fuß treten oder im Zweikampf bleiben, wenn der Ball schon weg ist, um den Gegner ein bisschen aus dem Konzept zu bringen. Manchmal habe ich einen Gegner auch auf dem Kieker und nehme eine Gelbe Karte in Kauf, um es ihm zu zeigen. Viele Dinge auf dem Platz bekommt man auf der Tribüne ja gar nicht richtig mit.“ Ich gebe zu, Andrichs Fairness-Vorstellung entspricht nicht meiner Definition. Sie ist jedoch weit verbreitet. Studien mit Jugendlichen zeigten, dass die Bereitschaft der jungen Sportler, ein absichtliches Foul zu begehen, mit der Dauer der Vereinsmitgliedschaft zusammenhing. Je länger jemand im Verein spielt, desto eher war er bereit, unfair zu kicken. „Ich werde lieber unfair Meister als fair Letzter“, so ein C-Jugendspieler. Oder: „Fairness bedeutet nach Möglichkeit, fair zu spielen und wenn es sein muss, fair zu foulen.“ Ich verstehe schon, was gemeint ist. Fouls, die nicht darauf zielen, den Gegner zu verletzen, keine übertriebenen Unsportlichkeiten, also keine ‚brutalen Fouls‘. Foul ist nicht gleich Foul. Faire Fouls sind taktisch motiviert, um einen Angriff zu unterbrechen. Diese werden von Trainer*innen, Eltern, Mitspieler*innen, Fußballkommentator*innen sogar verlangt. Sie bleiben jedoch ein Widerspruch in sich und spiegeln das Dilemma, erfolgreich und fair gleichzeitig zu spielen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig (Erwartungen der Trainer, Eltern, Vereine, Verhalten der*des Schiedsrichter*in). Es bleibt dennoch eine Art Doppelmoral. Es entspricht zwar nicht der Regel, ein Foul zu begehen, aber es entspricht der Norm, erfolgreich zu sein. ‚Natürlich‘ habe auch in meiner aktiven Fußballzeit lieber gewonnen als verloren und natürlich sehe ich meine Lieblingsmannschaft immer noch lieber erfolgreich als scheitern. Mit den fairen Fouls bin ich aber immer noch nicht zufrieden. Darum hier ein


Einwurf

Die 69. Minute im Freitagabend-Spiel der Bayern in Frankfurt. Eintrachts Stefan Aigner hinterläuft den Bayern-Kapitän Philipp Lahm und wird steil Richtung Tor geschickt. Lahm ist hinten dran. Er weiß in diesem Moment: Das wird brenzlig. Die Entscheidung ist schnell gefällt: Gekonnt hakt sich Lahm bei seinem Gegenspieler ein. Dann lässt er sich fallen und zieht Aigner so mit runter. Der Schiedsrichter entscheidet völlig zu Recht auf Freistoß für Frankfurt, zeigt Lahm zudem wegen des taktischen Fouls die Gelbe Karte. Das nahezu Unglaubliche: Die Datenbank zeigt, es ist das erste Foul von Lahm seit über einem Jahr. Von September 2014 bis Oktober 2015 ist Philipp Lahm ohne Foul ausgekommen! Einer der weltbesten rechten Verteidiger und Mittelfeldspieler und einer der erfolgreichsten deutschen Fußballer überhaupt: Vielfacher Deutscher Meister, Champions-League-Sieger, Weltmeister. Von Pep Guardiola geadelt als der ‚intelligenteste Spieler‘, dem er begegnet sei. Die Statistiken offenbaren verblüffende Zahlen: Wenige Fouls, einige Gelbe Karten, ja – aber in 385 Bundesliga-Spielen war keine einzige Rote dabei. Es ist also möglich, erfolgreich zu spielen und in sehr vielen Situationen fair zu sein. Leistungswille und körperbetonten Einsatz2 zu zeigen, ohne eklig zu sein!

Naiv bin ich nicht. Dass es (un)beabsichtigte Fouls geben wird und Überreaktionen, weiß ich. Begeistert von Philipp Lahms Modell, das Dilemma aus Erfolgsorientierung und Fairplay zu balancieren, bin ich immer noch. Es zeigt, was an Fairness im erfolgsorientierten Gerangel spielbar ist.


Matchplan

Manchmal, in unbeobachteten Momenten, dribbelt sich darum eine Idee an den Wächtern der Sieg-oder-Niederlage-Mentalität vorbei. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn der Fußball einer neuen Leitidee folgte. Eigentlich einer alten pragmatischen Utopie. „Behandelt andere Menschen genauso, wie ihr selbst behandelt werden wollt“, Jesus – nach Matthäus.3 Diese Vorstellung eines Fairplay ist für mich unüberholt. Ich stelle mir vor, wie viele Tore in einem Fußballspiel fielen, wenn auf die taktischen Fouls verzichtet würde. Auch die eigene Mannschaft würde dadurch mehr Tore erzielen. Es gäbe immer noch Leidenschaft, Erfolgswille, Kampf, Sprints und Kopfbälle. Es gäbe jedoch weniger Spielunterbrechungen, weniger Verletzungen. Dafür mehr Jubel, mehr Spannung und mehr Respekt. Stimmt, es gäbe dann ebenso den Verzicht auf den eigenen Vorteil, sogar Nachteile würden in Kauf genommen. (Dazu könnte ein anderer Alt-Star, Miro Klose, eine Geschichte erzählen, als er sich traute, den Schiedsrichter auf ein von ihm regelwidrig erzieltes Tor hinzuweisen, das dann natürlich nicht zählte.)
Vermutlich, denkt es dann in mir, wenn die Kurzpasskombinationen der Gedanken sich der Torlinie nähern, vermutlich wäre dann auch nicht mehr der Sieg der alleinige Maßstab des Erfolgs. Das Spiel wäre es. Die geteilte Freude. Die Erschöpfung. Und der Respekt, den die Mitspieler*innen teilten.


Coaching Zone

„Behandelt andere Menschen genauso, wie ihr selbst behandelt werden wollt“: Für Jesus war dies ja die Zusammenfassung aller wesentlichen Lebensregeln. Ein erstaunlich unspektakulär, konsens- und leistungsfähiges Kriterium für ein menschengerechtes Miteinander. Auch neben dem Platz, mitten im Alltag.

 

Anmerkungen

  1. Vgl. 11 FREUNDE 271/2024.
  2. Für alle, die sich Fußball ohne Grätschen nicht vorstellen können, hier eine Lahmsche Variante: https://kurzlinks.de/inys
  3. Matthäus 7,12 (Übersetzung der BasisBibel).