Mit dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) in das Philosophieren über Ungerechtigkeit einsteigen
Stell dir vor, an deiner Schule gibt es zwei Leistungskurse im Fach Erdkunde. In dem einen stellt der Lehrer jedes Jahr die selben Klausuren. In dem anderen Erdkundekurs, den du selbst belegst, sind die Aufgaben vorher nicht bekannt. Für deinen Kurs ist es also schwerer, gute Noten zu schreiben. Ihr müsst mehr Zeit und Mühe für die Klausurvorbereitungen aufwenden und schreibt dennoch im Durchschnitt schlechtere Noten als der Parallelkurs. Eure Erdkundelehrerin stellt zwar anspruchsvolle, aber faire Klausuren.1
Wie würdest du das finden? Voll ungerecht?! Was würdest du tun? Dich bei der Schulleitung beschweren? Bedenke: Die Klausuren in deinem Kurs würden nicht leichter werden. Euer Arbeitsaufwand und die Ergebnisse blieben die gleichen.
Voll ungerecht, weil die anderen weniger geleistet haben, aber das gleiche bekommen
In dem Gedankenexperiment arbeiten die einen mehr als die anderen. Dennoch bekommen die, die mehr geleistet haben, am Ende nur gleich viel oder weniger, in diesem Fall schlechtere Noten. Diese Situation wird von den meisten Menschen intuitiv als ungerecht empfunden. Auch wenn eine Beschwerde bei der Schulleitung nicht zu einer Verbesserung der eigenen Situation führen würde, entsteht hier das Bedürfnis nach einer als gerecht empfundenen Anpassung des Verhältnisses zwischen Arbeitsaufwand und Lohn: Wer mehr leistet, soll auch mehr bekommen. Wer weniger leistet, soll weniger bekommen, auf keinen Fall das gleiche, erst recht nicht mehr!
Philosophieren über Ungerechtigkeit
Ob in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Familie oder in anderen sozialen Kontexten: Wenn Menschen sich ungerecht behandelt fühlen, steigt der Adrenalinspiegel. Sie regen sich auf, werden wütend. Konflikte entstehen. Wer hingegen das Gefühl hat, es gehe weitgehend gerecht zu, ist sich dessen häufig nicht einmal bewusst. Wozu auch, wenn alles im Lot zu sein scheint? Aus diesem Grund setzen die hier vorgestellten Ideen für einen Einstieg ins Philosophieren nicht bei Gerechtigkeit an, sondern bei der häufig intuitiv empfundenen Ungerechtigkeit.
Philosophie von Jugendlichen über empfundene Ungerechtigkeit
Beim didaktischen Ansatz des Philosophierens sind die Fragen und Vor-Urteile der Jugendlichen konstitutiv für den Verlauf des Diskurses. Daher werden Diskursräume für das Philosophieren in der Regel mit einem Impuls eröffnet, der es den Jugendlichen ermöglicht, eigene Fragen zum Thema zu formulieren ebenso wie eigene Vor-Urteile und Standpunkte zu klären. Zu Beginn geht es also um die Philosophie von Jugendlichen.2
Am Anfang steht das Ungerechtigkeitsempfinden der Jugendlichen: Was finden sie so ungerecht, dass sie sich darüber aufregen? Gegen welche empfundenen Ungerechtigkeiten möchten sie angehen? Warum finden sie Entscheidungen und Zustände ungerecht? Nach welchen Maßstäben urteilen sie?
Die Jugendlichen werden in den hier vorgestellten Ideen mit einem szenischen Spiel zum Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg sowie einer anschließenden Fragerunde (Mt 20,1-16) auf dem „Heißen Stuhl“ herausgefordert, diese Fragen für sich zu klären.
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) als Einstiegsimpuls
An diesem Gleichnis haben sich schon viele (Un-)Gerechtigkeitsgeister geschieden. Der darin entwickelte Begriff von Gerechtigkeit widerspricht nämlich häufig einem intuitiv marktwirtschaftlich geprägten Gerechtigkeitsdenken: Es ist voll ungerecht, wenn am Ende alle den gleichen Lohn erhalten, obwohl sie unterschiedlich viel geleistet haben!
Mit dem Gleichnis wird als Einstiegsimpuls gearbeitet. Ziel ist es, einen Reflexionsprozess über eigene Vor-Urteile und Maßstäbe für (Un)Gerechtigkeit in Gang zu setzen.
Das Gleichnis findet sich ohne synoptische Parallele im Matthäusevangelium. Es folgt unmittelbar auf die Frage der Jünger nach ihrem Lohn dafür, dass sie all ihren Besitz und ihre Familien zurückgelassen haben, um Jesus nachzufolgen. Bereits hier deutet die Antwort Jesu darauf hin, dass die Gerechtigkeit im Reich Gottes nach Maßstäben ausgerichtet ist, die viele Menschen intuitiv als ungerecht empfinden (vgl. Mt 19,30).
Die Parabel von den Arbeitern im Weinberg handelt von einem Gutsbesitzer, der auf dem Marktplatz Tagelöhner für die Arbeit in seinem Weinberg anwirbt. Er tut dies jedoch nicht nur am Morgen, sondern noch vier weitere Mal im Laufe des Tages. Sogar zwei Stunden vor Ende des Arbeitstages geht er noch einmal auf den Marktplatz, um Arbeiter anzuwerben. Auf der Ebene der Handlung könnte man daraus auf eine schlechte Einschätzung der anfallenden Arbeit durch den Weinbergbesitzer und seinen Verwalter schließen. Demnach kann er scheinbar nur stundenweise absehen, wie viel Arbeit anfällt und wie viele Arbeiter er benötigt. Denkbar wäre aber auch eine besonders effektive Betriebsführung, nach der auf jeden Fall verhindert werden soll, dass zu viele Arbeiter angestellt werden.3 Das nach menschlichen Maßstäben überraschende Verhalten des Weinbergbesitzers am Ende des Gleichnisses lässt aber vermuten, dass es sich hier zwar ohne Frage um einen Geschäftsmann handelt, zugleich aber um einen gütigen Menschen, der die Not der Tagelöhner und ihrer Familien sieht. Er möchte möglichst vielen Tagelöhnern Arbeit zu einem fairen Lohn geben, damit sie ihre Familien versorgen können. Deshalb geht er immer wieder zum Marktplatz.
Der Weinbergbesitzer hält sich an das Gesetz. Er handelt mit den zuerst angestellten Arbeitern einen Tageslohn aus und vereinbart einen mündlichen Arbeitsvertrag. Am Ende des Tages weist er seinen Verwalter an, die Löhne auszuzahlen (vgl. Lev 19,13; Dtn 24,14f). Besonders wird die Anstellung der letzten Arbeiter hervorgehoben. Zum einen wird hier die Regel durchbrochen, dass der Gutsbesitzer jede dritte Stunde zum Marktplatz geht. Er geht hier bereits nach zwei Stunden wieder auf den Marktplatz. Zum anderen wird der Dialog zwischen Weinbergbesitzer und Arbeitern genau beschrieben. Daraus geht hervor, dass die Arbeiter bisher keine Arbeit gefunden haben. Die Gründe jedoch bleiben offen. Überraschend ist am Ende die Auszahlung der Löhne: Alle Arbeiter erhalten den gleichen Lohn; und zwar in jener Höhe, die die ersten Arbeiter mit dem Weinbergbesitzer ausgehandelt haben. In dem Text ist von einem Denar (= ein Silberstück) die Rede. Das entsprach im 1. Jahrhundert n. Chr. im Gebiet Israels vermutlich dem Tageslohn, den ein Arbeiter benötigte, um eine Familie versorgen zu können.4
In dem Gleichnis geht es also um einen Gerechtigkeitsbegriff, der nicht dem Maßstab der erbrachten Leistung, sondern dem Maßstab des Bedarfes zum (Über-)Leben Vorrang gibt.5
Die Reaktion der ersten Arbeiter macht deutlich, dass dieser Gerechtigkeitsmaßstab intuitiv als ungerecht empfunden wird; und zwar von denen, die mehr geleistet haben. Sie beginnen, sich zu beschweren: voll ungerecht! Der Weinbergbesitzer lässt sie jedoch nicht einfach mit ihrem Ärger stehen, sondern versucht sie von der Richtigkeit seines Handelns zu überzeugen. Er wirbt um Verständnis, indem er ihnen zwei Fragen stellt: „Kann ich mit meinem Besitz nicht machen, was ich will? Oder seid ihr neidisch, weil ich so großzügig bin?“
Der Weinbergbesitzer gibt den ersten Arbeitern damit die Chance zur Einsicht, dass sie keinen Grund zum Ärger haben. Sie haben den gesetzeskonformen und fair ausgehandelten Lohn erhalten. Erst im Vergleich mit den später hinzugekommenen Arbeitern, die weniger geleistet haben, empfinden sie den Lohn als ungerecht.
Das eigene Ungerechtigkeitsempfinden hinter einem Schleier des Nichtwissens auf dem Prüfstand
Wer ist ganz frei davon, sich darüber zu ärgern, wenn andere das gleiche bekommen, obwohl sie (vermeintlich oder tatsächlich) weniger leisten? Wer ist frei davon, sich erst im Vergleich mit anderen ungerecht behandelt zu fühlen? So geht es den Schüler*innen des Erdkundekurses, die sich für gute Noten mehr anstrengen müssen als die anderen, genauso wie den Arbeitern des Weinberges, die für den gleichen Lohn mehr leisten müssen.
Doch wer kennt schon die Situation der Beschenkten? Wer kennt ihre Hintergründe, vielleicht ihre Not und ihren Bedarf? Sollen Situation, Hintergründe und Bedarfe denn keine Rolle spielen, wenn es um die Verteilung von Gütern geht? Außerdem stellt sich die Frage, ob die scheinbar Beschenkten wirklich im Vorteil waren und sind: Anders als die ersten Arbeiter*innen, konnten sie nicht sicher sein, ob sie ihre Familien am Abend versorgen können. Wer kann schon ihre Sorgen ermessen? Auch bei den Schüler*innen der beiden Erdkundekurse stellt sich diese Frage: Anders als die scheinbar beschenkten Schüler*innen des einen Erdkundekurses können sich die Schüler*innen des anderen Kurses sicher sein, dass sie von ihrer Lehrerin gut auf die Abiturprüfungen vorbereitet werden.
Mal angenommen: Kein Mensch weiß, ob er selbst oder andere Personen in einem Anfangszustand vor jeder Verteilung von Gütern arm oder reich, krank oder gesund, schwach oder stark, weniger oder mehr intelligent ist. Wie würden die Menschen dann über eine gerechte und ungerechte Güterverteilung entscheiden? Welche Regeln würden sich Menschen hinter einem Schleier des Nichtwissens für eine gerechte Gesellschaftsordnung geben?
Der amerikanische Philosoph John Rawls hat sich dieses Gedankenexperiment ausgedacht. Ihm ging es darum, dass Menschen hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ vernünftige Regeln für eine gerechte Gesellschaft finden, und zwar ohne von eigenen Interessen geleitet zu sein. Natürlich ist sich jeder Mensch seiner eigenen sozialen Stellung und Voraussetzungen in der Regel bewusst. Sie haben ihn in seinen Wertvorstellungen geprägt. Rundum neutrale Urteile über ungerechte und gerechte Verteilung sind daher unwahrscheinlich. Dennoch lohnt der Versuch, einmal in die Haut und Rolle anderer hineinzuschlüpfen und nichts zu wissen über die Situation, die Hintergründe, die Not, die Bedürfnisse der anderen Personen. Es lohnt der Versuch, Jugendliche dazu herauszufordern, hinter einem Schleier des Nichtwissens das eigene Ungerechtigkeitsempfinden auf den Prüfstand zu stellen.
Ein szenisches Rollenspiel hinter einem Schleier des Nichtwissens
Eingestiegen wird mit einem szenischen Rollenspiel zu dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Die Materialien zu diesem Praxisartikel enthalten in M 1 nach einer kurzen Hinführung Informationen zum sozialgeschichtlichen Hintergrund des Gleichnisses, die Spielregeln und Aufgabenstellungen für die jeweiligen Rollen in dem szenischen Spiel sowie das szenische Spiel mit der Erzählung6, den Regieanweisungen und Zwischenfragen des*der Erzähler*in bzw. Spielleiter*in. In M 2 finden sich die Rollenkarten mit detaillierten Informationen zu den Protagonisten in der Handlung des Gleichnisses, in M 3 die weiterführenden Aufgaben für die ans szenische Spiel anschließende Fragerunde auf dem „Heißen Stuhl“.
Der „Schleier des Nichtwissens“ betrifft in dem szenischen Spiel nicht die einzelnen Personen selbst. Die sieben Jugendlichen, die in die Rolle einer der Protagonisten des Gleichnisses schlüpfen, kennen den sozialen Status ihrer jeweiligen Personenrolle, deren Situation, deren Bedarf an Gütern zum Leben. Davon wissen jedoch weder die anderen Mitspieler*innen noch die beobachtenden Zuschauer*innen. Sie sehen lediglich, was die Personen im Gleichnis tun und sagen. Über ihre Hintergründe und Situation wissen sie zudem nur das, was sich aus der Erzählung des Gleichnisses erfahren lässt. Darüber hinaus kennen alle Beteiligten die Pointe des Gleichnisses nicht. Diejenigen, die das Gleichnis kennen, werden gebeten, sich zunächst mit Äußerungen zurückzuhalten.
Der*die Erzähler*in führt als Spielleiter*in durch das szenische Spiel. Es bietet sich an, dass die Lehrperson diese Rolle übernimmt. Er*sie spricht ihnen die Redeanteile jeweils vor. Die Darsteller*innen sind aufgefordert, diese Sätze mit eigenen Worten nachzusprechen, und zwar in einem Tonfall, einer Lautstärke und einer Haltung, die nach ihrer Auffassung die Situation der betreffenden Person widerspiegeln. Während und am Ende des szenischen Spiels werden einzelne Protagonist*innen ebenso wie die Zuschauer*innen wiederholt um ihre Eindrücke und ihr Zwischenurteile gebeten.
Die sieben Darsteller*innen bleiben nach dem szenischen Spiel vorerst in ihren Rollen. Sie befinden sich nach wie vor hinter einem Schleier des Nichtwissens, was den sozialen Status und die Situation der anderen Personen in dem Spiel betrifft. Ebenso wenig wissen die Zuschauer*innen etwas über die Hintergründe der Protagonist*innen.
Die Protagonist*innen dürfen einander Fragen stellen. Auch die Zuschauer*innen fühlen den Personen des Gleichnisses auf den Zahn: Findet es bspw. Arbeiter*in Nr. 5 gerecht, dass er*sie genauso viel bekommt wie Arbeiter*in Nr. 1? Oder umgekehrt: Warum kann sich Arbeiter*in Nr. 1 nicht einfach über den ausgehandelten, gerechten Lohn freuen? Warum fühlt er*sie sich ungerecht behandelt? Und der*die Weinbergbesitzer*in: Hätte er*sie Arbeiter*in Nr. 1 nicht wenigstens einen Bonus geben können?
Wird sich der Ärger des*der ersten Arbeiter*in über die gefühlte Ungerechtigkeit abmildern, wenn sie von der Situation, den Sorgen und den Bedürfnissen der anderen erfahren? Werden die Zuschauer*innen ihre Urteile nach dem szenischen Spiel noch einmal überdenken, wenn sich der Schleier des Nichtwissens allmählich hebt?
Philosophie für Jugendliche: Gerechtigkeitstheorien
In welche Richtungen sich der philosophische Diskurs über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit weiterbewegt, wird weitgehend von den Fragen und Standpunkten der Jugendlichen konstituiert.
Wichtig für einen anschließenden Diskurs ist allerdings, dass die Maßstäbe für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit festgehalten werden, die sich aus der Arbeit mit dem Gleichnis ergeben haben: Leistung sowie Bedarf / Bedürfnis. Möglicherweise sind auch bereits Maßstäbe ins Spiel gebracht worden wie: Gleichheit und Chancengleichheit. Sehr gute kostenlose Materialien zu den verschiedenen Maßstäben für Gerechtigkeit ebenso wie zu Gerechtigkeitstheorien in der Philosophiegeschichte finden sich auf der Internetseite „Jugend prägt“ des Landesjugendrings Thüringen e.V.7 Darüber hinaus finden sich hier weitere Praxismaterialien und Anregungen rundum das Thema Gerechtigkeit.
Interessant zum Weiterdenken könnte die Gerechtigkeitstheorie des US-amerikanischen Philosophen Robert Nozick sein. Nozick verfasste 1974 sein Buch „Anarchie, Staat, Utopia“ dezidiert als Gegenentwurf zu Rawls Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1971). Er verwarf Argumente zur Verteidigung einer sozialen Gerechtigkeit und eines regulierenden Sozialstaates. Zur Verteidigung eines freien Marktes ohne staatliche Eingriffe entwickelte er normative Argumente. Seiner Auffassung nach werden Güter auf einem freien Markt gerecht verteilt, wenn sie auf fairem Wege erworben werden. In diesem Fall erhielte der Maßstab der Leistung Vorrang vor einem sozialstaatlichen Gerechtigkeitsverständnis, das die Bedürfnisse der Schwächsten berücksichtigt, so wie es bei Rawls der Fall ist.
Kritik an Rawls Gerechtigkeitstheorie übt auch der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen. Er kritisiert, es handle sich bei Rawls Gerechtigkeitsansatz um eine Theorie, die den globalen Wertepluralismus außer Acht lasse und deshalb kaum weltweit zu verwirklichen sei. Sen gibt hingegen einem „auf Verwirklichung konzentrierten Vergleich“ den Vorzug. Er möchte konkrete Ungerechtigkeiten in der Welt in den Blick nehmen. Ziel müsse es sein, diese konkreten Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Das könne jedoch nicht mit theoretischen, universal gültigen, institutionalisierten Regeln für eine weltweite gerechte Gesellschaft erreicht werden, weil die Maßstäbe für (Un-)Gerechtigkeit weltweit zu verschieden seien. Aus diesem Grund setzt Sen nicht auf absolute, universale Maßstäbe für Gerechtigkeit, sondern auf verschiedene Möglichkeiten, mit denen alle beteiligten Seiten in Freiheit konkrete Ungerechtigkeiten beseitigen können.8
Philosophie mit Jugendlichen: Ungerechtigkeiten im 21. Jahrhundert
Vom Ansatz Amartya Sens aus könnten die Jugendlichen eine Brücke zu konkreten aktuellen Ungerechtigkeiten schlagen. Ausgangspunkt war ihr Empfinden für Ungerechtigkeit. Darauf zurückgreifend bietet sich eine Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeiten im 21. Jahrhundert an. Mit seinem Buch „Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert“ hat der Klimaforscher Mojib Latif einen Essay-Band herausgegeben, in dem renommierte Forschende aus Natur- und Geisteswissenschaften der Akademie der Wissenschaften in Hamburg Ungerechtigkeiten in verschiedenen Bereichen aufzeigen und Lösungsansätze anbieten: u.a. Klimaungerechtigkeit für kommende Generationen, Ungerechtigkeiten in der Pflege, Ungerechtigkeit als Grund und als Folge von Kriegen, Ungerechtigkeiten in der Energieversorgung usw.
Möglicherweise führt die Auseinandersetzung mit dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg aber auch direkt in eine Debatte über das Bürgergeld oder das bedingungslose Grundeinkommen. Auch hier stehen ein marktwirtschaftlicher Leistungs- und ein sozialstaatlicher Bedürftigkeitsgedanke einander gegenüber.
Zu guter Letzt: Gottes Gerechtigkeit
Am Ende bekommt jeder, was er verdient. Das wäre gerecht. Und wenn einer gerecht ist, dann doch wohl Gott, oder?
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg beginnt Jesus mit den Worten: „Das Himmelreich gleicht einem Gutsbesitzer …“ und es endet: „Die Ersten werden die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein.“ Gottes Gerechtigkeit stellt demnach alle menschlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auf den Kopf. Nach Leistung und Verdienst urteilt er dem Gleichnis zufolge nicht. Heißt das aber auch, dass gute Werke und Aufopferung gar nicht belohnt werden? Lohnt es sich dann überhaupt, Gutes zu tun, wenn am Ende sowieso alle das Gleiche bekommen?
Gott ist offenbar immer für Überraschungen gut. Aber, was ist, wenn mir diese Überraschungen gar nicht gefallen? Ein berechenbarer Gott, der nach eindeutigen Gerechtigkeitsmaßstäben belohnt oder bestraft, wäre irgendwie besser zu handhaben. Mensch, voll ungerecht!9
Anmerkungen
- Im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 1. Oktober 2004, 6, wurde dieses Problem eines Oberstufenschülers aus Berlin unter der Rubrik „Die Gewissensfrage“ behandelt. Der Artikel mit der Frage des Schülers und der interessanten Antwort von Rainer Erlinger findet sich im Archiv der SZ: SZ-Archiv-20240421_093221.
- Zum Einstieg mit der Philosophie von Jugendlichen und der zirkulären Struktur des philosophischen oder theologischen Gesprächs mit den drei Teilen Philosophie von, Philosophie für, Philosophie mit vgl. z.B. Harder, Hier geht’s um voll was Wichtiges, in: Loccumer Pelikan 1/2022, 51, https://www.rpi-loccum.de/material/pelikan/pel1_22/1_22_Harder2
- Vgl. Schottroff, Überkommene Betriebsführung?, 22.
- Vgl. a.a.O., 23; auch: Luz, Evangelium nach Mt, 335.
- Vgl. auch den Beitrag von Bernhard Grümme in diesem Heft, 7
- Nach der Übersetzung der Basisbibel.
- https://www.jugendpraegt.de (03.08.2024)
- Vgl. dazu Neuhäuser, 91-121.
- Weiterführende Literatur siehe unter Frauhammer, Assata/Töpperwien, Meike: Voll ungerecht! Über Fairness und Gerechtigkeit, Weinheim/Basel 2024; Sandel, Michael. J: Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun, Frankfurt a.M. 2024.
Literatur
- Landesjugendring Thüringen e.V.: Jugend prägt, www.jugendpraegt.de
- Latif, Mojib (Hg.): Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. Zwischen Klimawandel und Künstlicher Intelligenz, Freiburg i.B. 2023
- Luz, Ulrich: Das Evangelium nach Matthäus, 3. Teilbd., Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 1, Zürich/Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 1997
- Neuhäuser, Christian: Amartya Sen. Zur Einführung, Hamburg 2013
- Schottroff, Luise: Effektive Betriebsführung? Jesu Gerechtigkeit im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, in: Katechetische Blätter 1999/1, 22-27