„Jugendliche haben ein sehr feines Gefühl für Gerechtigkeit“

Linda Frey im Gespräch mit der Schirmherrin des Landeswettbewerbs "Gerechtigkeit", der Präsidentin von Brot für die Welt, Pfarrerin Dr. Dagmar Pruin

Linda Frey: Brot für die Welt, Landeswettbewerb Evangelische Religion zu Gerechtigkeit. Was verbindet diese zwei Themen?
Dr. Dagmar Pruin: Brot für die Welt bedeutet Einsatz für Gerechtigkeit weltweit in mehr als 80 Ländern, aber auch an vielen Orten hier bei uns. In jeder Kirchengemeinde in Deutschland wird in der Weihnachtszeit mindestens einmal für Brot für die Welt gesammelt und in jeder Landeskirche haben wir hauptamtliche Brot für die Welt-Beauftragte, die unsere Themen in Schulen, Gemeinden und in die Zivilgesellschaft tragen. In Niedersachsen sind sie in Hannover, Oldenburg, Leer und Braunschweig ansässig. Als Präsidentin von Brot für die Welt gibt mir dies ein Gefühl einer großen Zusammengehörigkeit innerhalb der „evangelischen Familie“. Deshalb freut es mich sehr, dass ich Schirmherrin des Landeswettbewerbs sein darf.
Gerechtigkeit spielt in der Arbeit und den Slogans unserer Kampagnen immer eine zentrale Rolle. So haben wir beispielsweise seit den 80er-Jahren bei unserem Slogan „Den Armen Gerechtigkeit“ den Begriff der Gerechtigkeit und nicht der Solidarität bewusst vorangestellt. Es geht um globale Gerechtigkeit. Alle Menschen sind gleich an Rechten geboren. Jeder Mensch hat das Recht auf gleiche Lebenschancen – egal wo er oder sie lebt. Unsere Partnerorganisationen tragen seit Jahrzehnten in tausenden Projekten auf unterschiedliche Art und Weise dazu bei.
Es ist wichtig, dass sich junge Menschen in Deutschland zur Frage der globalen Gerechtigkeit austauschen, sich aber auch aktiv einbringen können. Dies geschieht durch Angebote von „Brot für die Welt“, aber auch durch Ihren Landeswettbewerb, der Jugendliche dazu anleitet, sich mit dem Thema Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. Gerade der Religionsunterricht bietet hierfür Raum. Uns alle bringt der christliche Anspruch zusammen, über die Würde des Menschen und die Gleichheit der Menschen ins Gespräch zu kommen und dafür einzustehen!
Daher finde ich es sehr schön, dass Sie das Thema Gerechtigkeit für den Landeswettbewerb gewählt haben.
Ich selbst komme aus Niedersachsen und bin da auch zur Schule gegangen, daher freue ich mich auch persönlich, Schirmherrin dieses niedersächsischen evangelischen Landeswettbewerbes zu sein.

Frey: Gerechtigkeit ist ein großes Wort in vielen Zusammenhängen: weltpolitisch, historisch, juristisch und auch theologisch. Sie sind in Ihrer Biografie auf einigen dieser Ebenen geografisch sowie beruflich von Ostfriesland über Jerusalem, Washington und Stellenbosch unterwegs (gewesen). Gibt es aufgrund Ihrer Lebens- und Berufserfahrung so etwas wie ein globales Gefühl von Gerechtigkeit?
Pruin: Ein globales Gefühl gibt es sicherlich nicht einfach so – ich sehe es eher als einen Prozess des Aushandelns. Auf der einen Seite gibt es ein starkes Gefühl dafür, wenn Verhältnisse ungerecht sind oder werden. Das hat etwas Universelles, eine Ungerechtigkeit zu fühlen und sich nach Gerechtigkeit zu sehnen. Auf der anderen Seite ist das Empfinden, was gerecht und ungerecht ist, in vielen Situationen auch immer neu auszuhandeln.
Ein globales Gefühl von Gerechtigkeit – oder Gerechtigkeit in einer globalisierten Gesellschaft beinhaltet die Verpflichtung, die gesellschaftliche Ordnung und das Zusammenleben so zu regeln, dass sie allen daran Beteiligten, insbesondere aber den Benachteiligten, zugutekommen. Dafür stehe ich in meiner aktuellen Aufgabe als Präsidentin von Brot für die Welt und der Diakonie Katastrophenhilfe, aber auch auf der Basis meiner kirchlichen Prägung und Sozialisation und weiteren beruflichen Erfahrungen, die immer an der Schnittstelle von Politik, Zivilgesellschaft und Kirche oder Religion waren. Da kann frau etwas bewegen – national und international.
Ich komme aus einem kleinen ostfriesischen Dorf und einem kirchlich engagierten Elternhaus. Kirche war in meiner Jugend in den 1980er-Jahren ein Ort der Bildung und der politischen Aktion. Friedensbewegung, Umweltbewegung – in meinem Fall auch stark die Frage der Erinnerungspolitik, die in den Kirchen auf dem Land eine starke Bedeutung hatte.
In Südafrika habe ich viel erfahren über die Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit durch die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission unter dem Vorsitz von Desmond Tutu. Es wurde auf eine gewisse Form von Gerechtigkeit verzichtet, weil es erst einmal darum ging, die Wahrheit aufzudecken. Während ich in den USA war, ging es stark um das Themenfeld Politik und Religion. Wie gerecht ist es aus Sicht der Amerikaner*innen, dass in Deutschland eine bestimmte Religion einen anderen Status hat als eine andere? Wieso kann – so der damalige Stand – eine Nonne im Habit unterrichten, aber eine Muslima mit Kopftuch in einigen Bundesländern nicht? Es gibt immer wieder Punkte, die neu ausgehandelt werden müssen.
Als Geschäftsführerin von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste hatte ich den Fokus auf Friedens- und Versöhnungsarbeit gesetzt – immer in einem politischen Kontext gemeinsam mit Partner*innen. Gerechtigkeitsfragen waren immer ein Thema für mich und sind es jetzt bei Brot für die Welt ganz zentral: Klimagerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, Ernährungsgerechtigkeit, Gendergerechtigkeit. Die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals) kann man als politische Umsetzung für die Erreichung einer globalen Gerechtigkeit ansehen: „Leave no one behind – Niemanden zurücklassen“ ist das Motto. Und „Niemanden zurücklassen“ ist auch das Ziel von Brot für die Welt. Niemand soll in der globalen Entwicklung zurückgelassen werden; Menschen, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind, müssen ihren gerechten Anteil an wirtschaftlicher Entwicklung, politischer Teilhabe und natürlichen Ressourcen erhalten. Daran arbeiten wir Tag für Tag mit unseren Partnern in aller Welt.

Frey: Die Begriffe „ungerecht“ und „gerecht“ finden sich in der Sprache der Jugendlichen eher selten. Hashtags mit diesem Bezug tauchen in den Sozialen Netzwerken kaum auf, die aktuelle Top Ten wird da von #cannabis und #love angeführt. Wie begegnen Ihrer Erfahrung nach Schüler*innen dem Thema Gerechtigkeit?
Pruin: Ich erlebe Schüler*innen hauptsächlich, wenn sie sich für unsere Themen interessieren. Wir haben unterschiedliche Materialien1 , die wir zur Verfügung stellen. Zum Beispiel das Material „Global lernen“2  zum Thema Gerechtigkeit wird stark nachgefragt, aber auch das Bildungsmaterial zum Thema „Handabdruck“3  erfährt große Beliebtheit. Daran zeigt sich, dass Schüler*innen sich für diese Themen interessieren. Sie erfassen Gerechtigkeit meines Erachtens anders. Zum Beispiel unter den Fragestellungen: „Wie willst du leben? Willst du auf Kosten anderer leben? Was gehört für dich dazu, zu einem Leben, das dich glücklich macht?“ In diesen Themen findet man Gerechtigkeit implizit wieder. Mir fällt auf, dass viele Jugendliche ein sehr bewusstes Gefühl dafür haben, dass sie nicht auf Kosten anderer leben wollen. Dies sieht man auch daran, dass sich viele Jugendliche vegetarisch ernähren, weil sie es dem Planeten nicht zumuten möchten, Fleisch zu essen. Jugendliche haben ein sehr feines Gefühl für Gerechtigkeit, auch wenn sie es nicht immer konkret so benennen.

Frey: „Gemeinsam für Gerechtigkeit!“ war der Titel eines Brot für die Welt-Blogs von 2019. Dieser Satz gilt als eines der Hauptanliegen des Hilfswerkes.
Wenn Sie dieses in die Lebenswelt der Jugendlichen übersetzen, die nicht mehr mit „Brot für die Welt“, mit den orangenen Spendendosen im Gemeindesaal, aufgewachsen sind: Was ist Ihnen dabei für Jugendliche, was für die Schule wichtig?
Pruin: „Brot für die Welt“ ist heute auf Sozialen Medien viel stärker vertreten und spricht junge Menschen direkter an. Besonders wichtig ist es mir, dass die Jugendlichen mitwirken können. So haben wir einen Schwerpunkt auf die Frage gelegt: „Was können wir von den jungen Menschen lernen?“ Zu meiner Amtseinführung haben wir das „Futureboard“ für junge Menschen eingerichtet. Junge Menschen aus Deutschland und der Welt, die zum Teil Aktivist*innen und Influencer*innen sind, beraten mich zu unterschiedlichen Themen, teilen ihren Blick auf unsere Arbeit und fordern uns durch ihre Fragen und Anregungen auch heraus. Es geht darum, den Anliegen der jüngeren Generation noch mehr Gehör zu verschaffen. Seit 2017 gibt es außerdem die Brot für die Welt-Jugend – ein Netzwerk junger Leute, das von Jugendlichen initiiert wurde und bundesweit engagierte Jugendliche zusammenbringt, zu globalen Gerechtigkeitsfragen arbeitet, praktische Aktionen initiiert und einmal im Jahr das „Youthtopia“-Treffen organisiert, zu dem alle interessierten Jugendlichen eingeladen sind. Vielleicht ist das für die Teilnehmer*innen am Landeswettbewerb ja auch interessant. (www.brot-fuer-die-welt.de/jugend/dabei-sein)
Wir haben Aktionen wie den vorhin schon erwähnten „Handabdruck“. Dort können sich die jungen Menschen selbst gestaltend einbringen, sich aktiv für Gerechtigkeit einsetzen und wirksam werden.
Extrem wichtig ist auch, dass gute Nachrichten geteilt werden. Durch die Arbeit von „Brot für die Welt“ und unserer Projektpartner*innen werden viele Menschen darin unterstützt, sich selbst zu helfen. Als Teil einer weltweiten Bewegung für Globale Gerechtigkeit will Brot für die Welt Menschen einladen, sich gemeinsam zu engagieren. Dafür können die Beispiele unserer Partnerorganisationen sehr motivierend wirken. Mit unseren virtuellen Projektbesuchen können auch junge Menschen spielerisch erfahren, wie durch gemeinsames Handeln Gerechtigkeit hergestellt werden kann und lassen sich davon motivieren und begeistern.
Es ist ganz wichtig, dass Jugendliche hier wieder miteinstimmen in den Einsatz für Gerechtigkeit, dass sie den Glauben an eine gute Zukunft haben, aktiv werden und etwas bewegen können. Junge Menschen können der Gerechtigkeit auf die Füße helfen – und der Hoffnung.

Frey: Es gibt kein genuines Verb zu Gerechtigkeit; dabei impliziert Gerechtigkeit doch auch einen Prozess. Was wäre Ihr persönliches Verb, das sich mit Gerechtigkeit verbindet?
Pruin: Ein Verb, das für mich passen würde ist „aufstehen, sich aufrichten“. Gerechtigkeit ist ein Zustand, in dem wir mit geradem Rücken stehen und uns in die Augen sehen. Gerechtigkeit ist das Gegenteil von gebeugt sein. Und ich verbinde damit, dass viele Menschen oft einen hohen Einsatz leisten und ein großes Risiko eingehen, wenn sie aufstehen, um ihre Rechte einzufordern.

Frey: Welche Rolle kann das Christentum zur Gerechtigkeitsfrage übernehmen?
Pruin: Ich denke gerade an das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der eine Sohn lässt sich sein Geld auszahlen und lebt in Saus und Braus, der andere Bruder bleibt bei seinem Vater und arbeitet. Am Ende lässt der Vater trotzdem ein Fest für den zurückgekehrten Sohn organisieren, obwohl dieser sein gesamtes Erbe verprasst hat. Oder ich denke an die Geschichte von Maria und Martha. Martha ist sehr bemüht und arbeitet emsig und Maria wäscht Jesus die Füße.
Die Bibel gibt keine einfache Antwort auf die Frage nach Gerechtigkeit, auch hier muss man ins Tun und ins Aushandeln kommen.
Eine andere biblische, christliche Botschaft ist aber auch, dass Gerechtigkeit immer nur global gedacht werden kann. Es gibt keine Gerechtigkeit für eine einzelne Gruppe, die gleichzeitig andere ausgrenzt und sich abschirmt. Die Menschenwürde ist unteilbar. Es kann nur funktionieren, wenn sich alle daran beteiligen und nicht auf Kosten anderer leben.
Auch die Vision, die sich im Ersten und Zweiten Testament wiederfindet: Gott will die Gerechtigkeit, Gott unterstützt die Gerechtigkeit und sie ist auch seine Angelegenheit. Es ist ein Anspruch, der an uns gestellt wird – Gerechtigkeit zu leben. Die Zehn Gebote zum Beispiel leiten dazu an, gerecht in der Welt zu leben. Nach der Befreiung aus Ägypten gibt er den Menschen diese Gebote, im Sinne von: Gestaltet euer Leben in meinem Sinne mit der Verheißung. So dass es möglich ist, dies auch zu tun. Ich glaube auch, dass Menschen dies wirklich wollen. Das Christentum kann die Wunde offenhalten – es herrscht erst Gerechtigkeit, wenn sie für alle gilt, und gleichzeitig gilt die Verheißung, dass dies auch geht und gelingen kann.

  1. https://kurzlinks.de/qq6u - Die Brot für die Welt-Jugend hat ein Planspiel mit dem Ziel entwickelt, Jugendliche für ihr Engagement für eine nachhaltige und gerechte Schulspeisung zu befähigen. Hier gehen sie aktiv in Rollen und probieren verschiedene konstruktive Lösungen aus.
  2. https://kurzlinks.de/13tv
  3. https://kurzlinks.de/bv77