Warum es beim Klima um mehr als nur um Eisbären geht

von Nele Alice Evers

Ich bin Klimaaktivistin. Seit mehr als fünf Jahren gehe ich mit Fridays for Future auf die Straße, organisiere Klimastreiks und arbeite gemeinsam mit vielen anderen Aktivist*innen daran, dass die Klimapolitik in Deutschland endlich besser wird. Damit zum Beispiel der Regenwald stehen bleibt und die Eisbären überleben. In den fünf Jahren, die ich mich mittlerweile mit der Klimakrise beschäftige, habe ich nicht nur viel organisiert, sondern auch viele Gespräche mit anderen Aktivist*innen geführt – oder ihre Instagram-Accounts verfolgt, wenn sie am anderen Ende der Welt, auf den Philippinen oder in Brasilien, wohnen und schon wieder ein Taifun oder ein Waldbrand ihr Zuhause gefährdet, vielleicht sogar zerstört.

Diese Folgeerscheinungen der Klimakrise (oft erstmal „Naturkatastrophen” genannt) ereignen immer häufiger. Nicht erst seit drei, vier Jahren verursachen sie immer wieder große Schäden und Katastrophen.


Klimafolgen sind schon Alltag

Hurrikan Katrina zum Beispiel traf im Herbst 2005 den Südosten der USA. Betroffen waren die Bundesstaaten Florida, Louisiana, Mississippi, Alabama und Georgia. Besonders stark traf Katrina den Großraum New Orleans. Weite Teile der Stadt standen mehrere Meter tief unter Wasser. Dabei waren die Auswirkungen ungleich spürbar: Die Bevölkerung von finanziell ärmeren, größtenteils von BIPoC1  bewohnten Vierteln war am stärksten betroffen, da ihre Wohngebiete am schlechtesten gegen Hochwasser geschützt waren. Viele von ihnen konnten sich auch nicht mit dem Auto in Sicherheit bringen – weil sie keines besaßen.

Immer häufiger werden auch heiße, trockene Sommer. Mittlerweile scheint jeder Sommer ein „Rekordsommer” mit neuen Hitzerekorden zu sein. Während wir uns vielleicht erstmal freuen, an ein paar Tagen mehr ins Freibad gehen zu können, bedeuten die steigenden Temperaturen dramatische Folgen für die Gesundheit älterer oder vorerkrankter Menschen. Außerdem führen die hohen Temperaturen und zunehmende Extremwetterereignisse zu Ernteausfällen. Während europäische und US-amerikanische Regierungen die Einkommensausfälle der Landwirt*innen meist finanziell abfedern und Nahrungsmittel aus anderen Ländern importieren können, sieht die Lage in Westafrika und in der Sahelzone anders aus. Dort führen Ernteausfälle, egal wo auf der Welt sie auftreten, etwa zu Hungersnöten, weil die Preise für Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt steigen, wenn andere Staaten mehr importieren müssen.

Ich habe es eben schon angeschnitten: Steigende Temperaturen führen auch zu mehr Extremwetterereignissen. In den vergangenen Jahren konnte immer mehr Starkregen beobachtet werden, der im schlimmsten Fall zu großen Überschwemmungen führt. So zum Beispiel im Juli 2021 im Ahrtal. Das Hochwasser zerstörte viele Orte und forderte mehr als 100 Menschenleben.

Bei Flutereignissen wie diesem und unzähligen anderen, ob aktuell in Brasilien, Anfang dieses Jahres in Ostafrika, 2023 in Indien oder anderswo, sterben in den meisten Fällen mehr weiblich sozialisierte als männlich sozialisierte Menschen. Von Erstgenannten wird oft erwartet, dass sie sich um weniger mobile Angehörige kümmern, sie haben schlechteren Zugang zu Informationen und Verkehrsmitteln und können weniger oft schwimmen. Auch Menschen mit Behinderung sind überdurchschnittlich oft stärker betroffen: Bei der Flut im Ahrtal 2021 etwa starben behinderte Menschen in einer Wohneinrichtung, weil sie nicht evakuiert wurden.

Solche Beispiele ließen sich noch viel mehr finden. Bei allen lässt sich beobachten, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen sind. Außerdem sind oft Länder und Regionen am stärksten von den Folgen der Klimakrise betroffen, die (historisch) weniger oder kaum für sie verantwortlich sind.2  Nicht nur das: An den Orten, wo die Klimakrise gemacht wird, kann man sich meist Anpassungsmaßnahmen leisten – dort, wo sie heute schon stark zu spüren ist weniger. Das klingt, objektiv betrachtet, ziemlich ungerecht.


Es geht um mehr als Klimaschutz

Muss unsere Klimapolitik also vielleicht nicht nur besser, sondern vor allem gerechter werden? Und sollte es vielleicht viel mehr um Klimagerechtigkeit als nur um Klimaschutz gehen? Ja.

Klimagerechtigkeit ist ein Konzept, das auf der Frage beruht, wer wie viel Verantwortung für die Klimakrise tragen sollte und wie mit dieser Verantwortung gerecht umgegangen werden kann. Klingt ziemlich simpel, aber: Was ist eigentlich gerecht? Und was ist ungerecht? Darüber machen sich Philosoph*innen seit Hunderten, ja Tausenden von Jahren Gedanken. Schon der griechische Philosoph Aristoteles hat Gerechtigkeit als ein ausgewogenes Verhältnis definiert, in dem jeder das erhält, was ihm zusteht. Was das ist, kann unterschiedlich interpretiert werden. Dafür dienen unter anderem die Konzepte der Bedarfsgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit und viele mehr. Daraus wiederum lässt sich die soziale Gerechtigkeit definieren, die erklären soll, wie Gesellschaften funktionieren und „gerecht” agieren können. Organisationale Gerechtigkeit wiederum soll erklären, wie in Organisationen auf zwischenmenschlicher oder informationeller Ebene oder mit Ressourcen gerecht umgegangen werden kann. Aber wo passt da jetzt die Klimagerechtigkeit hinein?

Das Besondere an Klimagerechtigkeit ist, dass sie viele dieser Konzepte und Definitionen zusammenführt. Sie ist ein Ideal, das beschrieben wurde, um zum Beispiel politische Maßnahmen oder Verhältnisse beurteilen zu können.

Um zu verstehen, was Klimagerechtigkeit wirklich bedeutet, müssen wir zuerst die Klimakrise verstehen. Dass sie diejenigen, die sie verursacht haben, weniger betrifft als diejenigen, die weniger beitragen, ist bereits klar. Das hängt damit zusammen, dass die Verursachenden der Klimakrise schon historisch betrachtet Machtsysteme etabliert und ihre Zugänge zu Ressourcen gesichert haben. Oft wurden dafür Regionen und Bevölkerungsgruppen unterdrückt und ausgebeutet. Während die Unterdrücker ihre Wirtschaften aufbauen konnten und Wachstum erlebten, das sie jetzt aufrecht erhalten wollen, erholen sich die ehemals kolonialisierten und unterdrückten Staaten erst langsam von den Folgen.

Wir müssen daher auch aufhören, die Klimakrise als rein ökologische Krise zu verstehen. Natürlich entsteht sie in ökologischen Systemen und wirkt sich auf diese aus – aber sie kann nur entstehen, weil es soziale Ungleichheiten gibt, Machtsysteme sich über Jahrhunderte entwickelt und etabliert haben und das zusammen für Teile der Weltbevölkerung so gut funktioniert, dass sie nichts ändern. Obwohl sie mit ihrem Handeln die Lebensgrundlagen aller zerstören. Die Klimakrise ist auch eine Gerechtigkeitskrise.

Wenn Klimaktivist*innen, Wissenschaftler*innen oder andere Menschen also von Klimagerechtigkeit sprechen, meinen sie Klimaschutzmaßnahmen, die nicht nur Symptome, sondern Ursachen bekämpfen, also das Problem an der Wurzel packen. Es geht also nicht nur darum, CO2-Emissionen zu verringern, sondern die Maßnahmen dazu zwischen und in Staaten gerecht zu verteilen und wenn notwendig Ausgleichsmaßnahmen zu schaffen. Ähnlich sieht es mit Kosten für Klimaschutzmaßnahmen wie Gebäudesanierungen, Energiewende etc., aber auch steigenden CO2-Preisen aus. Außerdem stellt sich die Frage, wie alle Menschen und besonders die, die heute oder in Zukunft am stärksten von den Folgen der Klimakrise betroffen sind, an klimapolitischen Entscheidungsprozessen teilhaben können.

Ein Ansatz dazu sind internationale Klimakonferenzen wie zum Beispiel die UN-Klimakonferenz COP. Auf diesen treffen sich Vertreter*innen aus fast 200 Staaten, um über internationale klimapolitische Maßnahmen und Abkommen zu diskutieren. Die Verhandlungen auf der jedes Jahr für zwei Wochen angesetzten COP dauern in der Regel lange, da im Konsens entschieden wird. Aber: Sie führen auch zu Durchbrüchen. 2015 wurde auf der COP das „Pariser Klimaabkommen” beschlossen, womit sich alle teilnehmenden Staaten dazu verpflichteten, die Erderhitzung auf „well below 2°C above pre-industrial levels” zu begrenzen und das Mögliche zu tun, um sie bei 1,5°C zu stoppen.3 

Außerdem wurden auf der COP27 und COP28 sogenannte „Loss and Damage Funds” beschlossen. Staaten, die die Klimakrise verursachen, zahlen in diese ein, um jetzt oder in Zukunft stark betroffenen Staaten mit geringeren finanziellen Mitteln das Auffangen der durch die Klimakrise entstehenden Schäden zu ermöglichen.4


Dem Klima ist egal, was wir machen

Klimagerechtigkeit ist also als Grundlage in der internationalen Klimapolitik unerlässlich, wenn auf Augenhöhe zusammengearbeitet werden soll. Denn nur so können notwendige Maßnahmen beschlossen und Emissionsreduktionen und der damit verbundene Temperaturanstieg begrenzt werden. Aber auch in einzelnen Staaten muss Klimaschutz gerecht sein.

Der Kohleausstieg konnte und kann zum Beispiel nur funktionieren, wenn in den Abbaugebieten in den notwendigen Strukturwandel, Um- und Weiterbildungsmaßnahmen der in der Kohle beschäftigten Menschen investiert wird. Anpassungsmaßnahmen an Hitze sind unter anderem in dicht besiedelten Stadtgebieten besonders wichtig – und diese werden oft von finanziell schwächeren Menschen bewohnt, die nicht „einfach so” in heißen Sommern an einen anderen Ort ziehen können. Hochwasserschutz muss ältere, behinderte, weniger mobile und mehr schutzbedürftige Menschen besonders mitdenken.

Keine Klimaschutzmaßnahme darf nur das Klima schützen, denn am Ende geht es immer um Menschen. Denn, let‘s face it: Dem Klima ist total egal, was wir machen. Klimaschutz bedeutet nicht nur, dass wir die Lebensgrundlagen der Eisbären retten, sondern es ist der Schutz von Menschenleben. Und: Klimapolitik bietet unendlich viele Möglichkeiten, nicht nur unsere Lebensgrundlagen zu retten, sondern unsere Gesellschaft lebenswerter zu gestalten. Auch wenn wir uns mitten in der größten Krise unserer Zeit befinden, haben wir so viele Wege, ein besseres Leben für alle zu ermöglichen. Realistisch gesehen können wir nicht mehr alles aufhalten; die 1,5°C-Grenze von Paris ist verdammt nahe und Klimakrisenfolgen sind schon heute Realität. Aber wir können und müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um noch Schlimmeres zu verhindern.

Das wird Regierungen Geld kosten, aber weniger als spätere Klimafolgen, wenn nichts getan wird.5  Das wird ein anstrengender Weg, weil aktuell der politische Wille immer noch fehlt. Aber wir haben, was wir brauchen: Demokratien, Wahlen, Proteste, die Entscheidungsprozesse mit Beteiligung möglich machen. Das Wissen über die Klimakrise und darüber, wie wenig Zeit uns bleibt. Und die people power, mit der wir seit fünf Jahren auf die Straße und in politische Debatten gehen, um gerechte Klimapolitik möglich zu machen.

Bin ich also Klimaaktivistin? Nein. Ich bin Klimagerechtigkeits-Aktivistin. Ich gehe seit fünf Jahren mit Fridays for Future auf die Straße, organisiere Klimastreiks und arbeite gemeinsam mit vielen anderen Aktivist*innen daran, dass die Klimapolitik in Deutschland und auf der ganzen Welt endlich gerechter wird. Damit wir und alle Menschen in Zukunft noch auf der Erde leben können – und auch, damit die Eisbären überleben.

Anmerkungen

  1. Black, Indigenous and People of Color.
  2. Zum Beispiel: https://kurzlinks.de/jupq (03.08.2024)
  3. https://kurzlinks.de/k4v2, Art. 2, Abs. 1a (03.08.2024)
  4. COP27: https://kurzlinks.de/ol0r (03.08.2024); COP28: https://kurzlinks.de/y4xq (03.08.2024)
  5. https://kurzlinks.de/i8r7 (03.08.2024)