Wir leben in einer Zeit, in der sich das Alltagsleben „mehr und mehr in der Abarbeitung von explodierenden To-do-Listen“ erschöpft und in der es „keine Nischen oder Plateaus mehr [gibt], die es uns erlaubten, innezuhalten.“1 Wir leben in einer Zeit, in der den meisten Jugendlichen der Spaß am Leben abhandengekommen ist, weil sie besorgt und ängstlich auf die Probleme der Welt schauen und sich ohnmächtig fühlen, da sie diese Probleme nicht lösen können.2 Und wir leben in einer Zeit, die von einer Moralisierung aller Lebensbereiche geprägt ist. Jedes unbedeutende Gespräch über Speisepläne, Karnevalskostüme oder Urlaubsreisen wird für die Beteiligten plötzlich zur Bewährungsprobe der eigenen moralischen Identität sowie zur Aufforderung moralischer Selbsterhöhung durch die moralische Abwertung der Gesprächspartner. Das führt zu Kompromisslosigkeit, Abgrenzung, Radikalisierung und Heuchelei. Und das ist auf Dauer sehr anstrengend. Was wir in unserer Zeit also offensichtlich brauchen, ist die entlastende Botschaft, dass das eigene Handeln weder den Ausgangspunkt noch das letzte Ziel unserer Existenz darstellt, dass wir unser Lebensrecht und unsere Würde nicht erst durch irgendwelche Aktivitäten verdienen müssen, dass wir weder uns selbst noch die Welt durch unser ethisches Handeln erlösen können und dass die Ethik bzw. Moral nicht das letzte Wort hat, sondern Gottes Liebe zum unvollkommenen Menschen, der mit leeren Händen vor ihm steht. Und genau dies ist der Kern der Evangeliumsbotschaft, den die Reformatoren in der Rechtfertigungslehre entdeckten, als sie über die Frage nachdachten, was der Ausdruck „Gerechtigkeit Gottes“ bedeutet.
Aktive und passive Gerechtigkeit Gottes
Die meisten Menschen, die in den letzten zwanzig Jahren den evangelischen Religionsunterricht oder Konfirmand*innenarbeit besucht haben, haben über den bekannten Luther-Film eine Vorstellung von den inneren Kämpfen des jungen Reformators im Kloster erhalten. Der Mönch Martin Luther war verzweifelt, weil er sich zwar an alle ethischen Regeln halten, aber nicht Gottes höchstes Gebot erfüllen konnte, nämlich Gott von ganzem Herzen zu lieben. Auf unsere tiefsten Gefühle haben wir keinen direkten Einfluss durch rationale Entscheidungen. Noch dazu geschahen alle Versuche dazu nicht aus Liebe, sondern aus Angst vor dem göttlichen Gericht. Luther fühlte sich gefangen in einem Teufelskreis und begann, diesen Gott immer mehr zu hassen, der vermeintlich gerecht im Himmel thronte, auf die ungerechten Menschen hinabsah, unerfüllbare Forderungen stellte – und so gar nicht liebenswert erschien. Doch einmal, als er in seinem Turmzimmer wieder über den verhassten Ausdruck „Gerechtigkeit Gottes“ in Römer 1,17 nachgrübelte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte den Begriff immer falsch interpretiert. „Gerechtigkeit Gottes“ ist gar nicht so zu verstehen, dass es eine Gerechtigkeit gebe, die Gottes Wesen beschreibt, d.h. Gott sei gerecht, also ein gerechter Richter, der die ungerechten Menschen bestraft (dieses Verständnis nennt Luther „aktive Gerechtigkeit Gottes“). Sondern „Gerechtigkeit Gottes“ ist so zu verstehen, dass es eine Gerechtigkeit gibt, die von Gott kommt, die er uns schenkt (dieses Verständnis nennt Luther „passive Gerechtigkeit Gottes“). Es handelte sich auf den ersten Blick nur um eine kleine grammatikalische Einsicht, aber sie hatte enorme Auswirkungen auf Luthers Gottesbild. Ihm fiel eine schwere Last vom Herzen.3 Nun erkannte Luther, dass Gott immer schon barmherzig und solidarisch mit uns Menschen ist und uns annimmt. So und nicht anders hat sich uns Gott ja auch in Jesus Christus selbst offenbart. Diese Barmherzigkeit und Solidarität müssen wir uns nicht erst durch gutes ethisches Verhalten verdienen („allein aus Gnade“). Indem Gott uns das innere Vertrauen auf diese seine Barmherzigkeit und Solidarität schenkt („allein im Glauben“), wird die gute Botschaft für unser Leben relevant, wird unsere Beziehung zu Gott in Ordnung gebracht, werden wir in Gottes Augen „gerecht“ gemacht, da Christus mit seiner Gerechtigkeit in unserem Vertrauen anwesend ist („allein durch Christus“).
Äußere und innere Gerechtigkeit des Menschen
Wenn die paulinisch-reformatorische Lehre von der Rechtfertigung sagt, dass wir Menschen in Gottes Augen „gerecht“ gemacht werden, dann ist damit eine andere Art von Gerechtigkeit gemeint als die, die wir normalerweise meinen, wenn wir diesen Begriff im Alltag verwenden. Wenn wir sagen, dass ein Lehrer, eine Schiedsrichterin oder ein Mitarbeiter im Sozialamt „gerecht“ ist, dann meinen wir, dass die betreffende Person gerecht handelt, indem sie sich an die Gesetze hält, sich an ethischen Regeln orientiert, eine professionelle Haltung pflegt, sich unbestechlich, fair, mitfühlend und selbstbeherrscht verhält. Mit einem Wort: Sie hat es sich durch ihr Handeln verdient, gerecht genannt zu werden. Diese Form von Gerechtigkeit wird in der reformatorischen Terminologie „äußere Gerechtigkeit des Menschen“ genannt. Diese äußere Gerechtigkeit ist durchaus etwas Positives. Alle Menschen sollen und können sich an Gesetze und ethische Regeln halten, damit ein gutes Zusammenleben möglich ist. Insofern handelt es sich um eine durch ethisches Verhalten selbsterworbene Gerechtigkeit, die im Blick auf die Beziehung zu anderen Menschen relevant ist. Aber diese äußere Gerechtigkeit gehört nicht zu den wichtigsten Dingen im Leben. Sie reicht nicht in unser Innerstes hinein. Sie hat keinerlei Relevanz im Blick auf unsere Beziehung zu Gott oder auf Gottes Beziehung zu uns. Sie hat kein Erlösungspotenzial. Die Gerechtigkeit, um die es demgegenüber in der Rechtfertigungslehre geht, wird in der reformatorischen Terminologie „innere Gerechtigkeit des Menschen“ genannt. Hier geht es nicht um Ethik, sondern um die wichtigsten Dinge im Leben, um unsere ganze Person, unsere Gottesbeziehung und unsere Erlösung. Diese innere Gerechtigkeit können wir nicht durch ethisches Handeln verdienen, sondern sie kann uns nur von Gott geschenkt werden. Gott schenkt uns die innere Gerechtigkeit, d.h. er bringt unsere Beziehung zu ihm in Ordnung, indem er barmherzig Ja zu uns sagt, obwohl wir „total verkorkste Existenzen“4 sind und bleiben, und indem er uns dabei hilft, auf diese seine Barmherzigkeit von Herzen zu vertrauen – wie er es bei Luther getan hat.
Diese innere Gerechtigkeit – d.h. unsere Erlösung – hat nichts mit unserem Handeln zu tun. Das ist ein Gedanke, den viele wahrscheinlich gar nicht sympathisch finden. Steht dahinter nicht ein problematisches Menschenbild? Das Bild eines Menschen, der kein vollkommen freies und über sich selbst verfügendes Subjekt ist, der begrenzt und abhängig ist, der weniger in einer aktiven als in einer empfangenden Rolle gesehen wird, der erlösungsbedürftig ist, aber in sich selbst nichts hat, womit er an seiner Erlösung mitarbeiten kann? Wird der Mensch hier nicht zu negativ betrachtet, wenn nicht sogar abgewertet? Zunächst einmal haben diejenigen, die solche kritischen Fragen stellen, vollkommen richtig erkannt, dass ein christliches Menschenbild, das von der Rechtfertigungslehre ausgeht, ein anderes Menschenbild ist als das heute vorherrschende. Aber deshalb muss es nicht als negativ oder abwertend interpretiert werden, es kann auch als realistisch, entlastend und menschenfreundlich betrachtet werden. Sind es nicht wichtige Selbsterkenntnisse für einen Menschen, dass er sein Leben nicht sich selbst verdankt, dass er sein Leben lang auch auf Gemeinschaft und Unterstützung angewiesen ist und dass er an dem Anspruch, perfekt sein zu müssen sowie sich selbst und die Welt zu erlösen, notwendig scheitert? Und ist es für ihn kein Grund aufzuatmen, wenn er darauf vertrauen darf, dass sein Lebensrecht und seine Würde nicht von seinem momentanen Grad an Unabhängigkeit, Leistungsfähigkeit und moralischer Vollkommenheit abhängen, weil sein Schöpfer Ja zu ihm sagt, so wie er ist – obwohl er so ist, wie er ist: unvollkommen und mit leeren Händen vor Gott stehend? Wer sich auf diese Perspektive einlässt, kann nicht nur sich selbst, sondern auch andere Menschen besser akzeptieren, wie sie sind. Er kann sich selbst und anderen verzeihen. Er kann sich auf seine Mitmenschen einlassen, weil er nicht ständig damit beschäftigt ist, sich selbst zu rechtfertigen, indem er sich selbst aufwertet und andere abwertet.
Die innere Gerechtigkeit – d.h. unsere Erlösung – hat nichts mit unserem Handeln zu tun. Nicht nur wegen des dahinterstehenden Menschenbildes finden viele wahrscheinlich diesen Gedanken nicht sympathisch, sondern auch wegen der Relativierung der Bedeutung von Moral und Ethik, die sich daraus ergibt. Wie eingangs erwähnt, leben wir in Zeiten einer Moralisierung aller Lebensbereiche. Wir haben uns daran gewöhnt, alles durch eine gnadenlos gesetzliche Brille zu betrachten, unsere Argumente durch moralische Schlagworte unangreifbar zu machen und uns in moralischer Selbstgerechtigkeit zu suhlen.5 Also fragen wir unwillkürlich: Wenn die Rechtfertigung von Gott unabhängig vom Handeln des Menschen geschenkt wird, warum sollte dann noch irgendein Mensch die Motivation haben, etwas Gutes zu tun? Ist es nicht ungerecht, wenn die Guten (natürlich wir) für ihr Handeln nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft werden? Beim näheren Hinsehen erscheint diese Argumentation jedoch immer weniger überzeugend. Nach dieser Logik dürften Menschen, die keine Angst vor dem Gericht Gottes haben (also fast alle Menschen in unserer Gesellschaft), nichts Gutes tun. Wir dürften unseren Kindern auch nicht mehr sagen, dass wir sie bedingungslos lieben, da sie das zu schlechten Menschen macht. Und ja: Für alle, die glauben, sich durch ihr vermeintlich gutes Leben das Heil verdient zu haben, oder die eine innere Befriedigung bei dem Gedanken empfinden, dass andere, die ihrer Meinung nach kein so gutes Leben führen wie sie, das Heil nicht erlangen, stellt die christliche Rechtfertigungslehre eine heilsame Provokation dar. Denn danach sitzen wir vor Gott alle im gleichen Boot, stehen alle vor Gott mit leeren Händen da, sind alle auf seine Barmherzigkeit und bedingungslose Liebe angewiesen – diejenigen, die sich moralisch vermeintlich oder tatsächlich mehr Mühe geben, und diejenigen, die sich moralisch vermeintlich oder tatsächlich weniger Mühe geben. Bei der inneren Gerechtigkeit des Menschen vor Gott geht es um etwas anderes als um Moral. Moral ist gottseidank nicht alles im Leben, sie hat nicht das letzte Wort.
Gesetz und Evangelium
Aber was ist mit den ethischen Lehren und dem ethischen Vorbild Jesu? Man kann den ethischen Anspruch doch nicht einfach aus der christlichen Botschaft herausnehmen, oder? Wenn wir jetzt darüber nachdenken, welchen berechtigten Stellenwert die Frage nach gutem menschlichem Handeln bzw. Moral und Ethik im christlichen Wirklichkeitsverständnis haben, so soll damit nichts des vorher Gesagten relativiert werden. Nach reformatorischem Verständnis spricht Gott den Menschen gleichzeitig mit zwei Botschaften an: „Du wirst bedingungslos geliebt“ (diese Botschaft Gottes nennt Luther „Evangelium“) und „Du sollst lieben“ (diese Botschaft Gottes bzw. diesen ethischen Anspruch nennt Luther „Gesetz“). Es sind beides gute und lebensdienliche Botschaften Gottes. Aber es kommt alles darauf an, das genau richtige Verhältnis dieser beiden Botschaften zueinander zu finden. Daran erkennt man nach Luther, ob jemand ein guter oder ein schlechter Theologe ist. Wenn man die beiden Botschaften vermischt, dann werden sie zerstört, denn dann wird daraus: „Du musst erst lieben, damit Gott dich lieben kann“ bzw. „Du musst nicht lieben, denn du bist ja bedingungslos geliebt“. Man darf die Botschaften also nicht vermischen, sondern muss sie säuberlich unterschieden nebeneinanderstehen lassen. Außerdem muss die Reihenfolge stimmen: Zuerst werde ich bedingungslos geliebt. Und indem ich das verstehe, kann Vertrauen auf die Liebe als neue Grundlage meines Lebens entstehen. Und wenn ich auf die Liebe als Grundlage meines Lebens vertraue, dann wird auch etwas von dieser Liebe in meinem Leben und meinem Handeln sichtbar werden. Werke der Liebe bzw. ethisches Handeln sind aus reformatorischer Sicht niemals die Voraussetzung für unsere Rechtfertigung, unseren Glauben bzw. unser Heil, sondern die Folge. Wenn in Gottesdienst, Religionsunterricht, Konfirmand*innenarbeit oder kirchlichen Denkschriften die ethische Aufforderung im Vordergrund steht, dann entsteht der Eindruck, dass es beim Christsein in erster Linie um unsere guten Werke ginge. Dadurch wird die Evangeliumsbotschaft in ihr Gegenteil verkehrt, das Gesetz wird zum Evangelium gemacht, Ethik bekommt eine Heilsbedeutung, die sie nach reformatorischem Verständnis gerade nicht hat.
Weil „das Evangelium insofern transmoralisch ist, als es den Menschen neu in die Beziehung zu Gott versetzt, so dass er aus der Erfahrung und Gewissheit lebt, dass die eigene Existenz nicht im eigenen Handeln gründet und nicht in diesem ihren letzten Sinn findet“,6 darf die christliche Botschaft nicht moralisch verkürzt werden. Kirche müsste lautstark Kritik üben an der kompromisslosen Moralisierung aller Lebensbereiche und an der allgegenwärtigen Forderung, sich selbst und die Welt durch moralische Anstrengungen zu erlösen. Stattdessen setzt sie sich oft selbst an die Spitze des Moralisierungstrends und macht sich zur „Moralagentur“7 . Wieder einmal erweist sich Dietrich Bonhoeffer als überraschend aktuell, als er theologisch forderte, das Moralische auf seine bestimmte Zeit und seinen bestimmten Ort zu begrenzen, damit es nicht zu einer Fanatisierung, einer gänzlichen Moralisierung des Lebens, komme, welche uns zu Heuchlern, Quälgeistern […] mache und sowohl die tatsächliche unbedingte ethische Forderung als auch das Evangelium vernebele.8 Wenn Moral zur religiösen Übung wird, um sich Anerkennung zu verschaffen, sich selbstgerecht zu inszenieren und seine Rechtfertigung selbst in die Hand zu nehmen, verdunkelt sie die Evangeliumsbotschaft. Demgegenüber kann uns eine Wiederentdeckung der alten reformatorischen Unterscheidungen von Gesetz und Evangelium, von äußerer und innerer Gerechtigkeit des Menschen sowie von aktiver und passiver Gerechtigkeit Gottes immer wieder notwendige theologische Orientierung geben.
Anmerkungen
- Rosa, Unverfügbarkeit, 13 und 16.
- Vgl. Calmbach u.a., Wie ticken Jugendliche?, 566.
- Vgl. Härle, Vertrauenssache, 223ff.
- Bach, Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein, 131.
- Vgl. Roth, Über kirchliche Propheten mit Tarifvertrag, 13 und 30ff.
- Körtner, Moralisierung und Entmoralisierung des christlichen Glaubens, 105.
- Joas, Kirche als Moralagentur?
- Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 29f. und 281ff.
Literatur
- Bach, Ulrich: Dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein. Auf dem Wege zu einer diakonischen Kirche, Neukirchen-Vluyn 1986
- Bonhoeffer, Dietrich: Ethik, München 1985
- Calmbach, Marc u.a.: Wie ticken Jugendliche? SINUS-Jugendstudie 2020. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Bonn 2020
- Härle, Wilfried: Vertrauenssache. Vom Sinn des Glaubens an Gott, Leipzig 2022
- Joas, Hans: Kirche als Moralagentur?, München 2016
- Körtner, Ulrich: Moralisierung und Entmoralisierung des christlichen Glaubens, in: Sautermeister, Jochen (Hg.), Kirche – nur eine Moralagentur? Eine Selbstverortung, Freiburg 2019, 97-116
- Rosa, Hartmut: Unverfügbarkeit, 3. Aufl., Wien 2019
- Roth, Michael: Über kirchliche Propheten mit Tarifvertrag. Plädoyer für eine moralische Abrüstung, Stuttgart 2022