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Rutger Bregman: Im Grunde gut

von Gert Liebenehm-Degenhard

Wie ist der Mensch? „Im Grunde gut“, antwortet der niederländische Historiker Rutger Bregman. Die Formulierung des deutschen Titels ist klug gewählt. Bregman behauptet nämlich nicht, „dass wir alle uneingeschränkt gut sind. Menschen sind keine Engel.“ Sondern: „Wir haben eine gute und eine schlechte Seite, die Frage ist, welche Seite wir stärken wollen.“

Fundiert und vehement kritisiert er ein Menschenbild, das den Menschen vor allem als egoistisch, selbstbezogen und gewaltbereit, also im Kern böse, kennzeichnet. Damit wendet er sich auf der einen Seite gegen eine lange und einflussreiche philosophische (und theologische) Denktradition. Energisch widerspricht er der Idee, dass „der Mensch des Menschen Wolf“ ist (Thomas Hobbes) und ein zivilisiertes Zusammenleben nur möglich sei, wenn Kontrolle, Regeln und Institutionen die egoistische Natur des Menschen eindämmen. Auf der anderen Seite macht er auf die Konstruktion der Wirklichkeit durch die Medien aufmerksam. Die Wirkmächtigkeit einer Berichterstattung über Gewalt, Kriminalität und Katastrophen führt zur einer negativ verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung. Der Mensch täuscht sich über sich selbst. Die Vielzahl an Situationen, in denen sich Menschen alltäglich hilfsbereit, anständig oder vertrauenswürdig verhalten, fällt aus dem Fokus. Die Kraft zum Guten zeigt sich z.B. in Notsituationen. Anders als von den meisten vermutet, reagieren Menschen in Katastrophen nicht ohnmächtig, egoistisch und panisch, sondern – wie viele Studien demonstrieren – zupackend, verantwortlich und selbstlos. Bregman zieht eine umfangreiche Auswahl an archäologischen, anthropologischen, soziologischen und psychologischen Untersuchungen heran. Sie belegen, dass sich der Mensch vor allem durch seine Fähigkeiten zur Kooperation, Solidarität und Empathie auszeichnet. Sie sind evolutionären Ursprungs. In der Frühzeit des Homo sapiens, als die Menschen als nomadische Jäger und Sammler unterwegs – und aufeinander angewiesen – waren, haben gerade diejenigen überlebt, die sich durch Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und wechselseitige Unterstützung ausgezeichnet haben. Evolutionsbiolog*innen sprechen inzwischen vom „Survival of the Friendliest“. Archäologische Funde, die auf kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Gruppen hinweisen, stammen fast ausschließlich aus der Zeit, als die Menschen schon sesshaft waren und Landbesitz und Machtverhältnisse eine Rolle spielten. „Von Natur aus“ ist der Menschen nicht gewalttätig.

Natürlich stellt sich auch Bregman die Frage, warum Menschen, die im Grunde gut sind, sich schädlich, egoistisch oder grausam verhalten. Mehrere Aspekte spielen bei der Erklärung eine Rolle. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Menschen Böses tun, ist die (manipulierte) Überzeugung, damit etwas Gutes zu erreichen. Ein weiterer Faktor hängt gerade mit den Fähigkeiten zusammen, die den Menschen auszeichnen: Die Empathie zu unseren nächsten Mitmenschen, die ‚Kameradschaft‘, der Wunsch dazuzugehören, Loyalität können blind dafür machen, welches Leid oder Unrecht Menschen anderen zufügen. Und: Macht korrumpiert. Macht geht häufig einher mit Egoismus und rücksichtsloserem Verhalten. In Hierarchien besteht nicht mehr das wechselseitige Aufeinander-angewiesen-Sein. Menschen können dazu gebracht werden, anderen Schaden zuzufügen.

Die Annahme eines „im Grunde guten“ Menschen zielt nicht auf einen naiven Optimismus. Bregman betont, dass es überhaupt keine Selbstverständlichkeit sei, die gute Seite im Menschen und in der Gesellschaft zu stärken. Es braucht Einsatz, Mut und Widerstandsfähigkeit. Beeindruckend und herausfordernd finde ich vor allem seine These, dass unser Bild vom Menschen unser Verhalten im Kern bestimmt. Ein negatives Menschenbild, das davon ausgeht, Menschen brauchen Kontrolle und Hierarchien, um Chaos und Konflikte oder Egoismus und Faulheit zu vermeiden, führt genau dazu, dass Menschen sich entsprechend verhalten. „Was wir voneinander annehmen, ist das, was wir hervorrufen.“ Das gilt auch für die – so Bregman – realistischere Annahme, dass der Mensch im Grunde gut ist. Eindrucksvoll schildert Bregman Beispiele aus einem niederländischen Pflegeunternehmen, das mit flachen Hierarchien, Vertrauen und weitgehendem Verzicht auf Management erfolgreich und für Klient*innen und Mitarbeitende zufriedenstellend arbeitet. Oder von norwegischen Gefängnissen, die ausgehend von einem positiven Menschenbild weniger gewaltförmige Verhältnisse und niedrigere Rückfallquoten erzielen. Oder von Schulen, die den Kindern und Jugendlichen mehr Freiraum beim Lernen ermöglichen und positive Effekte erzielen.

Während die deutsche Ausgabe im Untertitel von einer „neuen Geschichte“ spricht, heißt es in der englischen Ausgabe passender: „a hopeful history“. Hoffnung stiftend ist diese Sicht. Und im besten Sinne provozierend: Welche Grundannahmen über den Menschen leiten uns in Kirche, Kita und Schule?