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Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen und anderen Tieren

von Kurt Kotrschal

Glaube versus (kalte?) Wissenschaft?

 

Nimmt man die Bibel wörtlich, dann hat Gott den Menschen so erschaffen, wie er heute ist. Tatsächlich sind aber Menschen und alle anderen Lebewesen über etwa vier Milliarden Jahre in der biologischen Evolution entstanden. Natürlich darf man hinter den Naturgesetzen Gottes Schöpfungsplan sehen, zumal das Bedürfnis nach Spiritualität und der eigenen Verortung typisch menschlich ist.1  Mit der Selbstüberhöhung zur „Krone der Schöpfung” und mit dem biblischen Gebot, uns die Erde untertan zu machen, haben wir allerdings maßlos übertrieben.


Ein evolutionäres Welt- und Menschenbild wird oft als „kalt” abgelehnt. Dieser Hang zur faktenskeptischen Romantik erscheint ebenfalls als typische menschliche Eigenschaft, die immer dann epidemisch ausbricht, wenn Aufklärung und Evidenz in der Gesellschaft dominieren.2  Aber liegt objektivierbares Wissen zwangsläufig auf Kollisionskurs mit dem mythischen Geheimnis? Um mit Klima- und Biodiversitätskrise zurechtzukommen, braucht es Fakten und Wissen, auch über uns selber. Wie ticken Menschen, wie kann es gelingen, die positiven Eigenschaften zu aktivieren und zu bündeln? Auskunft darüber gibt vor allem der Blick auf unsere evolutionäre Geschichte im Vergleich mit anderen Lebewesen. Und dieser Blick ist alles andere als kalt. Vielmehr führt er zu einem neuen, wissensbasierten Bewusstsein der Verbundenheit mit den anderen Lebewesen.


Menschen haben mit den anderen Tieren sehr viel gemeinsam

Ein naturwissenschaftliches Menschenbild fußt auf der Erkenntnis, dass wir fast alle unsere anatomischen, physiologischen und sogar mentalen Eigenschaften mit den anderen Lebewesen teilen. Als Individuen haben wir mit allen Menschen auf der Welt viel mehr gemeinsam, als uns kulturell zu unterscheiden vermag3 ; ebenso teilen wir als biologische Art Homo sapiens mit den anderen Lebewesen auf dieser Erde viel mehr, als uns trennt. Dies widerspricht der vom Menschen selbst arrogierten „Sonderstellung des Menschen”, in die uns 3.000 Jahre abendländische Geistesgeschichte manövrierte, indem sie die Menschen von der Natur emanzipierte und zum reinen Geisteswesen transzendierte. Höhepunkte dieser Fehlentwicklung sehen wir bei Philosoph*innen, wie etwa René Descartes, der annahm, dass nur Menschen denken und Schmerz empfinden können, weil nur sie Bewusstsein hätten. Heute wissen wir es besser.


Ausgerechnet die modernen Naturwissenschaften führen aus der Sackgasse menschlicher Selbstüberschätzung. Das rasch zunehmende Wissen um die genetische Verwandtschaft mit den anderen Tieren, ja sogar mit den Pflanzen und den Pilzen, schafft ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit mit allem Lebendigen. Damit schließt sich auch der Kreis zur Naturbeziehung unserer animistischen Jäger-und-Sammler-Vorfahren, die sich aufgrund ihres Glaubens an die Beseeltheit der Natur eng mit ihr verwandt wähnten. Bereitet dieses neue Bewusstsein den Boden für eine respektvollere Beziehung der Menschen zu den anderen Lebewesen? Das alles mag ziemlich romantisch klingen, ist aber wissensbasiert und daher so weit Fakt, wie es Erkenntnisse im Rahmen von Wissenschaftstheorie nur sein können.


Wo beginnen mit der Skizze eines evolutionären Menschenbilds auf der Basis neuer Erkenntnisse? Vielleicht sollte man zuallererst die alte, weder besonders kluge und schon gar nicht erkenntnisfördernde Frage vergessen, was „den Menschen vom Tier” unterscheidet. Den modernen Wissensstand verdanken wir der Suche nach dem gemeinsamen stammesgeschichtlichen Wurzeln. Daraus ergeben sich dann quasi von selber die Alleinstellungsmerkmale der Art Homo sapiens.


Das Gehirn als Träger des „typisch Menschlichen”

Sie finden sich im leistungsfähigen menschlichen Gehirn – vor allem in jenen Eigenschaften der Großhirnrinde, die mit sozialer Komplexität und Sprache zu tun haben. Der aufrechte Gang, die feinmotorische Hand, das Herstellen von Werkzeugen, Jagdtechniken und die Zubereitung von Nahrung – all das hängt ursächlich mit diesem Gehirn zusammen. Aber sogar in seinen Alleinstellungsmerkmalen unterscheidet sich das menschliche Gehirn eher quantitativ als qualitativ von dem anderer Tiere – weil in der Evolution neue Strukturen und Funktionen niemals einfach aus dem Nichts entstehen, sondern durch Um- und Ausbau von bereits Vorhandenem. Aus diesem Grund teilen Menschen aufgrund der stammesgeschichtlichen Verwandtschaft die meisten ihrer Merkmale mit den anderen Lebewesen.


Weil sich das Menschentypische im Gehirn findet, werde ich in Folge zumindest die wichtigsten evolutionären Innovationen benennen4 , beginnend mit den Reizleitungssystemen der ersten Vielzeller bis zu den Gehirnen der Säugetiere. Darauf aufbauend machen uns ein paar Neuerungen der letzten paar Millionen Jahre Primatenevolution zum Homo sapiens. Nach diesem historischen Abriss über 600 Millionen Jahre werde ich jene oft ambivalenten mentalen Eigenschaften skizzieren, welche den Kern der menschlichen Natur ausmachen.


Das Gehirn des Homo sapiens

Menschen entwickelten mit 1.200 bis 1.500 Kubikzentimeter das relativ größte Gehirn der Wirbeltiere. Unsere engsten stammesgeschichtlichen Verwandten, die Schimpansen, kommen dagegen mit 400 Kubikzentimeter aus. Unser Gehirn macht etwa 2,5 Prozent der Körpermasse aus, beansprucht aber beachtliche 20 Prozent des Grundumsatzes. Im Vergleich zum Gehirn der Schimpansen ist es nicht nur groß, sondern auch hochgetunt; aus dem soliden Boxermotor der Menschenaffen wurde ein Formel 1-Aggregat. Auch deswegen benötigt dieses Gehirn ein anspruchsvolles ökologisches und soziales Umfeld, um störungsarm zu funktionieren, vor allem während des Heranwachsens: Tatsächlich verfügen Menschen neben diesem Spezialgehirn über die extremste soziale Orientierung; auch das menschliche Gehirn ist in Herkunft und Funktion vor allem ein soziales Organ. All das macht es störungsanfällig, was sich in epidemischen mentalen Problemen vor allem urbaner Populationen äußert. Menschen werden meist fälschlicherweise als ökologische Generalisten beschrieben – tatsächlich sind sie kognitive Spezialisten. Daher ist gegenüber optimistischen Fantasien zur Lösung der Probleme der Welt durch eine weitere Evolution des menschlichen Gehirns Skepsis angebracht. Vieles deutet darauf hin, dass die Spitze der Fahnenstange erreicht ist.5  Im Sinne des Grenzwerttheorems sind weitere evolutionäre, aber auch technische Optimierungen dieses Gehirns nur noch unter unverhältnismäßig großen Kosten zu erreichen.


Alles begann mit einem Gehirn, das durch Raum und Zeit steuert

Bereits vor 700 Millionen Jahren verfügten Seeanemonen und Quallen über auf Reizleitung spezialisierte Nervenzellen. Sie funktionier(t)en nicht wesentlich anders als die 100 Milliarden in unseren Gehirnen. Aber erst vor etwa 560 Millionen Jahren begann mit den ersten bilateral-symmetrischen Tieren die gerichtete Fortbewegung. Dazu brauchte es am Vorderpol konzentrierte Sinne und Nervenzellen, womit die ersten Gehirne entstanden. Sie konnten bereits zwischen günstigen und ungünstigen Reizen unterscheiden und in orientierte Bewegung umsetzen, um in einer positiven Umgebung zu verharren und negativen Reizen auszuweichen. Für diese Steuerentscheidungen braucht es auch ein einfaches Affektsystem für positive oder negative Gestimmtheit, um mittelfristig – unabhängig von der aktuellen Reizsituation – zu entscheiden, ob man bleibt oder sich wegbewegt. Zudem braucht das Gehirn der Ur-Bilaterier ein einfaches Stresssystem, um die nötige Energie für die Bewegung bereitzustellen, sowie einen assoziativen Lernmechanismus, der Individuen erlaubt, flexibel auf eine variable Umwelt zu reagieren. Alle diese Systeme müssen entsprechend neuronal miteinander verschaltet sein, um angepasstes Verhalten zu ermöglichen; sie finden sich immer noch im menschlichen Hirnstamm und Zwischenhirn.


Weil aber in der Evolution das Bessere der Feind des Guten ist, wurden im Rüstungswettlauf zwischen Räuber und Beute die Gehirne der ersten Wirbeltiere (Fische) vor 500 Millionen Jahren komplexer. Im Vergleich zu den Ur-Bilateriern wurden sie um Versuch-und-Irrtum-Lernen ergänzt. Dieser Lernmechanismus brauchte aber zusätzliche Hardware, um in einer wirklichen Welt im Sinne angepassten Verhaltens zu funktionieren: Es entstanden der Thalamus, die Vorläufer des Kortex, das Mittelhirndach und das Kleinhirn. Sie ermöglichen das ständige Abwägen von Kosten und Nutzen, das Erkennen von Mustern, eine mentale Repräsentation von Raum und Zeit und auch die Neugierde, die bis heute unser Verhalten antreibt. All diese bereits recht komplexen Systeme zwischen Reizumgebung, Entscheidungen und Verhaltensoutput sind immer noch zentrale Komponenten des menschlichen Gehirns.


Vom Verhalten zur Vorstellung

Ein entscheidender Durchbruch am Weg zum menschlichen Gehirn geschah bei den frühen Säugetieren vor etwa 150 Millionen Jahren. Im Dach des Vorderhirns entstand der Neokortex als vielseitig verwendbare und nahezu beliebig erweiterbare Recheneinheit. Damit konnten sich die Säugetiere die Welt viel besser vorstellen und vorhersagen als ihre reptilienartigen Vorfahren. Die Vorteile liegen auf der Hand: Anstatt es in der Realität in kritischen Situationen darauf ankommen lassen zu müssen, konnte man diese nun antizipieren, imaginieren und mental simulieren. Der beim Menschen und anderen großhirnigen Saugetieren enorm ausgedehnte, gefaltete Neokortex speichert zudem die relevanten Informationen einer artspezifischen Umwelt in Form mentaler Repräsentationen und bewerten diese durch affektiven Abgleich immer wieder neu. Die Welt wurde vorhersagbar.


Die soziale Revolution braucht das entsprechende Gehirn

Diese bereits sehr leistungsfähigen Säugetiergehirne ermöglichten innerhalb der letzten paar Millionen Jahre eine soziale Revolution bei den Primaten (einschließlich Homo sapiens). Substrat dafür war vor allem der frontale Neokortex (das Stirnhirn), der neue Schlüsselfähigkeiten entwickelte: Sich in andere einfühlen und eindenken, durch Beobachten lernen und für die Zukunft planen. Zum besonderen Gehirn des Primaten Homo sapiens fehlte nun nur noch ein kleiner Schritt, mit allerdings großen Folgen: die Entwicklung einer komplexen Symbolsprache mit einer universellen menschlichen Grammatik, mit der Babys bereits zur Welt kommen. Die typisch menschliche Sprachfähigkeit entstand, und zwar als soziales Instrument – angelegt ganz offensichtlich, um als Band innerhalb, aber als Barriere zwischen Gruppen zu wirken. Es entstanden die spezifisch menschlichen Sprachzentren im seitlichen Neokortex – das Broca-Areal für aktives Sprechen und das Wernicke-Areal für Sprachverständnis.


Alle diese Mechanismen und Strukturen, entwickelt von den Ur-Bilateriern bis zum Homo sapiens, sind Teil unseres Gehirns. Seine Leistungen ergeben sich allerdings nicht durch ihr bloßes Aufsummieren, denn das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Aus der Verschaltung der im Verlauf der Evolution zunehmenden Zahl von Elementen und durch Mutationen in den letzten Hunderttausenden von Jahren, welche Feinmotorik, inklusive Artikulation begünstigten, entstanden neue, komplexe Eigenschaften in einem Gehirn, mit einer Billion (1014) Verbindungen zwischen seinen Nervenzellen – viel mehr, als es Sterne im Universum gibt. In seinen spezifischen Leistungen schlägt unser Gehirn mühelos jeden Supercomputer und selbst die beste künstliche Intelligenz – mit einem Energieverbrauch von bloß etwa 20 Watt.


Zur Natur des Menschen: eingebaute Ambivalenz

Angesichts des in einer Art „Bastlermanier” entstandenen menschlichen Hochleistungsgehirns erahnt man bereits, dass es kein Substrat für glattes, maschinenartiges Funktionieren sein kann. Schließlich integrierte es auch über 600 Millionen Jahre die wichtigsten Treiber der Evolution, die auch heute noch das menschliche Verhalten prägen. Dies sind seit Urzeiten der zwischenartliche Räuber-Beute-Rüstungswettlauf sowie die innerartliche Konkurrenz um den Reproduktionserfolg. Erst in den letzten 150 Millionen Jahren kam bei den Säugetieren und manchen Vögeln die „Liebe” als neuro-humoraler und mentaler Bindungsmechanismus zwischen Müttern bzw. Eltern und ihren Nachkommen in die Welt. Daraus entstand eine generelle Bindungsfähigkeit zwischen Lebenspartner*innen und Freund*innen, die in Integration mit der sozialen Kognition spezifische, langzeitlich wechselseitige Beziehungen, Freundschaften, Allianzen und komplexe Kooperationen ermöglicht.


So wurden die Menschen zu den nettesten und kooperativsten Wesen überhaupt. Gleichzeitig aber quälen und töten sie unter bestimmten Bedingungen grausam andere Menschen und Tiere. Menschen sind zweifellos die rationalsten aller Lebewesen, dennoch handeln sie sehr oft irrational und widersprüchlich, getrieben von den alten Überlebens- und Reproduktionsinstinkten, oft im Konflikt mit den stammesgeschichtlich eher jungen sozialen Antrieben. So liegt eine der menschlichen Hauptkonfliktzonen zwischen dem Wahren der eigenen Interessen versus Gemeinwohl. Im sozialen Zusammenhang entwickelten Menschen – im Stirnhirn angesiedelt – Moral, Gewissen und sozial verantwortliches Handeln, die sich freilich nur dann optimal entwickeln, wenn Kinder zuverlässig und sensitiv betreut, mit impliziten sozialen Vorbildern heranwachsen, und/oder früh lernen, soziale Verantwortung zu übernehmen. Eine andere Konfliktzone zeigt sich in der meist männlichen sozio-sexuellen Gewalt gegen Frauen und Kinder. Sie tritt als unerfreulicher Teil der menschlichen Natur in allen Gesellschaften auf – als Ausdruck des evolutionären Konflikts zwischen männlichen Reproduktionsinteressen und Partnerschaft. Ihre Frequenz hängt von den sozio-ökonomischen Bedingungen ab, besonders vom Grad der patriarchalen Ausrichtung einer Gesellschaft.


Sämtliches menschliches Verhalten beruht auf den heterogenen Anlagen aus der Evolution. Dennoch ist es nahezu unendlich – wenn auch nicht zufällig – vielfältig; zum einen, weil individuelle Persönlichkeitsstrukturen regelhaft zwischen genetischem und epigenetischem Erbe sowie sozialem und gesellschaftlichem Umfeld entstehen6  und zum anderen, weil vor allem unsere sozialen Anlagen kontextspezifisch angelegt sind. Das erklärt, warum Menschen nicht entweder gut oder böse sind, sondern immer beides; was davon zum Ausdruck kommt, bestimmen neben Genetik und Epigenetik die Art des Aufwachsens und das sozial-gesellschaftliche Umfeld. Biophilie, also das fast instinktive Interesse an Tieren und Natur, gehört übrigens ebenso zur menschlichen Natur wie die Fähigkeit, in echten sozialen Beziehungen mit anderen Tieren zu leben. Das ermöglichen die Gemeinsamkeiten aus der Evolution7 , das ist aber eigentlich wieder eine andere Geschichte.

Anmerkungen

  1.      Vgl. Kotschral, Mensch.
  2.      Vgl. Berlin, The Roots of Romanticism.
  3.      Vgl. Christakis, Blueprint; Kotrschal, Mensch.
  4.      Nach Bennet, A Brief History of Brains.
  5.      Vgl. Kotschral, Mensch.
  6.      Vgl. Jablonka/Lamb, Evolution in four dimensions;   Kotschral, Mensch.
  7.      Vgl. Kotschral, Einfach beste Freunde.

 

Literatur

  • Bennett, Max S.: What Behavioral Abilities Emerged at Key Milestones in Human Brain Evolution? 13 Hypotheses on the 600-Million-Year Phylogenetic History of Human Intelligence, in: Frontiers in Psychology (12) 2021, 1-33, doi: 10.3389/fpsyg.2021.685853
  • Bennett, Max S.: A Brief History of Brains. The Five Evolutionary Breakthroughs That Created Human Intelligence (Buch in Vorbereitung, erscheint 2022)
  • Berlin, Isaiah (Hardy, Henry Hg.): The Roots of Romanticism, Princeton University Press 1999 (dt: Hardy, Henry, Hg: Die Wurzeln der Romantik / Isaiah Berlin. Aus dem Engl. von Burkhardt Wolf, Berlin 2004)
  • Christakis, Nicholas: Blueprint. Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen. Frankfurt am Main 2019
  • Jablonka, Eva / Lamb, Marion: Evolution in four dimensions. Genetic, epigenetic, behavioural and symbolic variation in the history of life, Cambridge, USA/London 2014
  • Kotrschal, Kurt: Einfach beste Freunde. Warum Menschen und andere Tiere einander verstehen, Wien 2014
  • Kotrschal, Kurt: Mensch. Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen, Wien 2019