Das Bild vom Menschen in der Arbeitswelt und das Verständnis von Arbeit hat durch die industrielle Revolution, in deren (mindestens) vierter Phase wir uns mittlerweile befinden, in den letzten rund 250 Jahren einen rasanten Wandel erfahren. Der mechanische Webstuhl, die Dampfmaschine, die Eisenbahn, Elektrizität, Telefon und Fließbandarbeit sorgten ab der zweiten Hälfte des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts dafür, dass der arbeitende Mensch nunmehr nicht mehr allein für das Überleben arbeitete, sondern nach dem größten Gewinn strebte und in der Aussicht auf diesen für seine Arbeit motiviert werden konnte und musste. Gewannen ab den 1930er-Jahren zunehmend die sozialen Aspekte von Arbeit an Bedeutung, folgte rund zwanzig Jahre später ein deutlicherer Fokus auf der Humanisierung von Arbeit, die die autonomen und eigenverantwortlichen Arbeitnehmer*innen in den Blick nahm, die ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten in der Arbeit sinnvoll einsetzen wollten und sollten. Hinzu kam aufgrund der Komplexität der Arbeit, der zunehmenden Geschwindigkeit von Veränderungen in den Arbeitsprozessen und der wachsenden Globalisierung der Fokus auf den arbeitenden Menschen als Individuum etwa seit den 1970er-Jahren. Seit den 1990er-Jahren befindet sich die Gesellschaft und die ihr innewohnende Arbeitswelt auf dem Weg in die Digitalität.1
Die zentralen Fragen im Blick auf die weitere Entwicklung werden sein: Wie sieht die Interaktion zwischen den Menschen künftig aus und wie zwischen Mensch und Maschine? Kann die Arbeit des Menschen durch Maschinen ersetzt werden? Welche Rolle spielt menschliche Kreativität und Fähigkeit zur Teamarbeit? Wird der Gestaltungsspielraum des Menschen in der Arbeitswelt vermehrt Fachkenntnisse des Menschen fordern oder werden künftig Maschinen diese Fachkenntnisse haben? Wer trifft am Ende ethisch korrekte Entscheidungen und wer verantwortet sie, die Maschine oder der Mensch? Wie kann Arbeit und Freizeit trotz ununterbrochener digitaler Erreichbarkeit in ein gesundes Gleichgewicht kommen? Und was bleibt in unserer (Arbeits-)Welt übrig vom Menschen als zur Verantwortung für die Welt geschaffenem Ebenbild Gottes?
Das christliche Menschenbild in der digitalen Arbeitswelt
Als freies, selbstverantwortliches Ebenbild Gottes ist der Mensch Teil der Schöpfung und trägt Verantwortung für sie (Genesis 1,26f; 2,15; Psalm 8,4ff). Menschliche Arbeit ist ausgehend vom biblischen Menschenbild im Buch Genesis Gabe und Aufgabe zugleich. Der Sonntag beziehungsweise der Sabbat als Ruhetag verweist auf die Notwendigkeit eines ausgewogenen Verhältnisses von Arbeit und Ruhe. Anerkennung menschlicher Arbeit und damit verbunden auch Existenzsicherung sind Grundpfeiler des christlichen Menschenbildes.
Nicht erst, aber vor allem in der digitalen Arbeitswelt bedeutet dies, die Menschenwürde und das Wohl der gesamten Welt letztlich vor die Rentabilität zu stellen. Die Digitalität ist ein Segen für Arbeitnehmer*innen, die beispielsweise weltweite Kommunikation und Vernetzung pflegen, die Unterstützungsprogramme nutzen, die Lagerkapazitäten mit einem Klick abfragen und logistisch verarbeiten, die in Zeiten von Corona im Homeoffice arbeiten können. Gleichzeitig ist die Digitalität ein Fluch für die Arbeitnehmer*innen, deren ursprünglicher Arbeitsplatz nun von einer Maschine besetzt wird, die ununterbrochen erreichbar sein müssen, die stets auf der Höhe der neuesten technischen Entwicklungen denken und weltweit konkurrenzfähig sein sollen.
Kommunikation wird einfacher durch Smartphones und zugleich schwieriger im direkten Gegenüber. Hohe Leistungsfähigkeit und -bereitschaft werden erwartet. Schwäche passt nicht in die digitale Arbeitswelt. Individualität ist gefragt und zugleich schwierig. Das christliche Menschenbild, nach dem jeder Mensch ein Ebenbild Gottes mit freiem Willen in aller Individualität und Fehlerhaftigkeit ist, darf gerade in der heutigen Arbeitswelt nicht aus dem Blick geraten. Die Idee des christlichen Menschenbildes ist kein abstraktes Theologoumenon. Ihr geht es um die Würde jedes einzelnen konkreten Menschen. Die Digitalität muss dem Menschen dienen nicht umgekehrt.
Der Mensch in der Arbeitswelt des Büros – Das Bilderbuch „Zikade“ von Shaun Tan
Der australische Illustrator, Autor und Oscar-prämierte Filmemacher Shaun Tan beschäftigt sich in seinem Bilderbuch „Zikade“, erschienen 2019 im Aladin-Verlag, mit der modernen Arbeitswelt im Büro. Digitalität spielt auch hier eine Rolle: Der Protagonist hat ein Namensschild am Revers mit einem Strichcode, der seine persönlichen Daten preisgibt, und arbeitet am Computer in einem Großraumbüro, dessen Einzelarbeitsplätze durch Stellwände voneinander abgetrennt sind. Shaun Tan deckt die Unmenschlichkeit und Unwürdigkeit dieser Arbeitswelt auf. Und dies, obwohl sein Protagonist kein Mensch, sondern eine Zikade ist. Der Autor und Illustrator erzählt in eindrücklichen Bildern und wenigen Worten von dem Verlust der Persönlichkeit als Büroangestellter, den Demütigungen und der Gewalt am Arbeitsplatz, der fehlenden Kommunikation und dem Anderssein. Er erzählt die Geschichte des eingewanderten namenlosen Büroangestellten Zikade, der trotz fleißigen Bemühens und korrekter Arbeit stets erniedrigt wird. Zikade arbeitet, wohnt und leidet im Büro. Als er ohne feierlichen Abschied in Rente geht, steigt Zikade auf das Dach des Bürohochhauses. Er steht auf dem Sims und blickt in den Abgrund. Wider Erwarten spaltet sich plötzlich seine graue Hülle und eine orange-rote Zikade fliegt zusammen mit zahlreichen anderen Zikaden in den Himmel und zurück in den Wald.
Die großformatigen grauen Bilder spiegeln den von Gefühlskälte und Gewalt bestimmten Büroalltag, der nur durch den grünen Kopf und später orangenen Körper der Zikade Farbe bekommt. Die knappen Sätze, die durchweg grammatikalisch unvollständig sind und daher wie gebrochenes Deutsch klingen, beschreiben sprachlich die Fremdheit und Einsamkeit von Zikade.
Das Bilderbuch „Zikade“ schafft hier durch Abstraktion Anregungen zur Auseinandersetzung mit eigenen Fragen: Wer bin ich? Was macht meine Persönlichkeit aus? Wie formt mich mein Arbeitsumfeld? Werde ich dazugehören? Wie gehe ich mit den Kolleg*innen um und wie gehen sie mit mir um? Wer bin ich als Mensch in der Arbeitswelt? Was macht mich als Ebenbild Gottes aus? Welche Verantwortung trage ich?
Didaktische Überlegungen zum Unterricht mit dem Bilderbuch „Zikade“
Ein Bilderbuch für 15- bis 16-Jährige? Ja, dieses unbedingt! Besonders Jugendliche im Übergang in das Berufsleben haben unklare Erwartungen und Ängste, den vertrauten Lebensbereich Schule weitestgehend (es bleibt ja gegebenenfalls noch die Berufsschule oder Universität) zu verlassen und das Feld der erwachsenen Arbeitswelt zu betreten.
Es empfiehlt sich, das Bilderbuch „Zikade“ im (evangelischen) Religionsunterricht des Jahrgangs 9/10 besonders an Haupt-, Real-, Ober- und Gesamtschulen zu behandeln, da hier der nötige Abstand zur Kindheit gegeben ist, um sich auf ein Bilderbuch als Kunst- und Literaturgattung auch jenseits des Elementarbereichs einzulassen. Zudem ist aufgrund der Berufspraktika in Jahrgang 9/10 und des bevorstehenden Schulabschlusses eine inhaltliche Nähe zum Thema des Buches gegeben.
Im Laufe der Unterrichtseinheit, die über sieben Unterrichtsstunden angelegt ist, setzen die Schüler*innen sich mit unterschiedlichen Formen der Beziehungs- und Lebensgestaltung auseinander, insbesondere mit individuellen Beziehungs- und Lebensgestaltungen in der Arbeitswelt. Sie erläutern, dass sie nach christlichem Verständnis als Teil der Gemeinschaft zu verantwortlichem Handeln bestimmt sind, hier im Blick auf das verantwortliche Handeln gegenüber Arbeitskollegen. Die Schüler*innen beschreiben und analysieren typische Ursachen und Formen von Gewalt und wenden die christliche Friedensethik an; insbesondere mit Blick auf das christliche Menschenbild. Sie nehmen Grenzsituationen und Glücksmomente des Lebens wahr und interpretieren sie als existenzielle Herausforderungen für die Frage nach dem Sinn des Lebens, explizit hinsichtlich der Kohärenz zwischen Privat- und Arbeitsleben. Zentrale biblische Grundbegriffe und Basistexte dieser Unterrichtseinheit sind die Gottebenbildlichkeit des Menschen (Genesis 1,26f), die Goldene Regel (Matthäus 7,12) und der Gewaltverzicht (Matthäus 5,38-42).
Für Schüler*innen in Jahrgang 9/10 am Gymnasium wäre die Unterrichtseinheit ebenfalls geeignet, da sie in ihrem Verlauf die biblische Erzählung des ersten Schöpfungsberichts als Ausdruck der Bestimmung des Menschen (speziell in der Arbeitswelt) zwischen Freiheit und Verantwortung interpretieren. Sie erörtern mögliche Konsequenzen der christlichen Botschaft für ihre Identitätsbildung und aktuelle wie zukünftige Erfahrungswelt.
Neben dem Bilderbuch werden in der Unterrichtseinheit theaterpädagogische Elemente eingesetzt, um den Schüler*innen gemäß eines performativen Ansatzes eigene körperliche Erfahrungen zu ermöglichen und sie so in ihrer Haltung zu stärken für ihr zukünftiges Leben als Berufstätige. Aufgrund der Anknüpfung an Erfahrungen aus dem Betriebspraktikum ist die Unterrichtseinheit bewusst schüler*innen- und subjektorientiert angelegt.2
Weiterführende Überlegungen
Wünschenswert wäre es, als Ergebnis der Unterrichtseinheit das von den Schüler*innen Erarbeitete als Praktikumsauswertung oder bei der Schulabschlussfeier zu einer Theaterszene zusammenzuführen und als solche den Mitschüler*innen, Eltern, Lehrkräften öffentlich zu präsentieren.
Die Grundidee ist dabei, die Illustrationen aus dem Bilderbuch „Zikade“ auf die Bühne zu projizieren, am besten von hinten auf die Rückwand einer Leinwand mit entsprechender Technik.3 Die Texte zu den einzelnen Bildern werden aus dem Off gelesen. Die spielerischen Szenen werden den Bildern zugeordnet.
Neben der kreativen Umsetzung des Bilderbuchs als Theaterszene ist die Erarbeitung derselben als Verarbeitung der Auseinandersetzungen mit dem christlichen Menschenbild in der Arbeitswelt für die Schüler*innen in mehrfacher Hinsicht bereichernd: Sie erarbeiten eigene Haltungen mit Hilfe ihres Körpers und setzen diese sichtbar um. Sie arbeiten kreativ mit Texten, Bildern, Erfahrungen aus dem Berufspraktikum und setzen diese in unterschiedlichen Ausdrucksformen zueinander in Beziehung. Sie bringen ihre Erlebniswelt ein und finden eine äußere Darstellungsform innerer Befindlichkeiten.
Anmerkungen
- Hasenbein, Der Mensch im Fokus der digitalen Arbeitswelt, 12-15.
- Vgl. Hausy, Auf die Bühne, fertig, los, 77-101.
- Hierfür müsste vorab die Erlaubnis beim Verlag eingeholt werden, sofern es sich um eine öffentliche Aufführung außerhalb eines festen Personenkreises handelt.
Literatur
- Hasenbein, Melanie: Der Mensch im Fokus der digitalen Arbeitswelt. Wirtschaftspsychologische Perspektiven und Anwendungsfelder, Berlin 2020
- Hausy, Uwe (Hg.): Auf die Bühne, fertig, los. Materialbücher des Zentrums Verkündigung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Buch 132, Frankfurt 2019
- Tan, Shaun: Zikade, Stuttgart 2019