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Mit Leib und Seele in die nächste Lebenshälfte

Inken Richter-Rethwisch und Dagmar Henze

Älterwerden heute

Der für lange Zeit prognostizierte demografische Wandel ist in vollem Gang, die geburtenstarken Jahr-gänge der Babyboomer wechseln in die nachberufliche Zeit. Es gibt so viele Ältere wie noch nie, Tendenz weiter deutlich steigend. Schon jetzt sind mehr als 30 Prozent der Kirchenmitglieder 60 Jahre und älter. Eines von vier Kirchenmitgliedern gehört zur Gruppe der „jungen Alten“, eines von zehn ist älter als 80 Jahre.

Im Jahr 2030 werden EKD-weit mehr als 40 Prozent der Kirchenmitglieder älter als 60 Jahre sein. 

Mit der gestiegenen Lebenserwartung ist eine neue Lebensphase entstanden, die es früher gar nicht gegeben hat: ein drittes Lebensalter – oft 10, 15, 20 Jahre nach dem Ende der Berufszeit, meist ohne größere körperliche Einschränkungen. Ein Lebensabschnitt, geprägt von Aufbruch, Neuorientierung und voller Gestaltungsmöglichkeiten. Die „jungen Alten“ sind aktiv und nutzen viele Möglichkeiten, sich in Gesellschaft, Kirche und Familie zu engagieren. Durch die gestiegene Lebenserwartung hat sich das, was wir mit dem Alter und dem Altsein verbinden, zeitlich nach hinten verschoben. Erst in einer vierten Lebensphase machen sich Einschränkungen deutlicher bemerkbar, die Kräfte lassen spürbar nach, menschliche Grundbedürfnisse werden zur zentralen Tagesaufgabe und Multimorbidität und Pflegebedürftigkeit treten auf. 

Der Mensch ist ein Zusammenklang von Körper, Seele und Geist. Für Menschen in der zweiten Lebenshälfte sind Ansätze von leiborientierter Arbeit im kirchlichen Kontext besonders attraktiv, weil sie eine Kompensation bilden zu den mehr mental-orientierten Angeboten. Damit liegen sie in gut paulinischer Linie, denn der Apostel Paulus wies ja bereits darauf hin, dass der Mensch nicht nur einen Körper hat, sondern auch Leib ist. Leiblichkeit bezieht sich auf Erleben, Empfinden und Bewusstsein des Menschen. „Leib“ steht für Leben insgesamt.1 

Die Bedürfnisse Älterer wahrzunehmen und neue Konzepte für die Arbeit von, für und mit Älteren zu entwickeln, ist ein dringender Bedarf. Denn das in Kirche weit verbreitete Modell „Seniorenkreis“ hat ausgedient. Stattdessen lassen sich Menschen, die heute 60 oder 70 Jahre alt sind, eher durch projektbezogene thematische Angebote ansprechen. 
Phantasievolle, kreative Ansätze bereichern die Arbeit im kirchlichen Kontext insbesondere dann, wenn es gelingt, den negativen Begleiterscheinungen des Alters mit positiver Daseinslust zu begegnen.2


Mit Leib und Seele – Ideen aus der Praxis

Im Folgenden stellen wir exemplarisch einige erprobte Praxisbeispiele aus dem Bereich Arbeit von, für und mit Menschen im Alter von (nicht nur) 55-plus vor. Die Liste der innovativen Ideen ließe sich um ein Vielfa-ches erweitern. 

Pilgern mit und ohne Rollator

Pilgern ist nicht einfach ein Wandern von Ort zu Ort. Es ist eine innere und äußere Reise, ein Weg, der Spi-ritualität im Leben mehr Raum zu geben. Und dieser Weg misst sich nicht in Kilometern. Auch kurze Wege in der Stadt können mit ihren Impulsen, die sich auf dem Weg ergeben, auf etwas anderes hinweisen. 

Unter dem Motto „Achtsam in Bewegung sein“ laden das Diakonische Werk und das Frauenreferat der Ev. Kirche in Bochum zu kurzen Pilgerwegen in der Stadt ein. Den Startpunkt bildet jeweils eine zu festgelegten Zeiten geöffnete Kirche, um die herum ein etwa ein Kilometer langer Pilgerweg ausgewiesen ist. Die Route, die auch mit Rollator gut zu gehen ist, bietet Rastplätze für die Seele und Ruhebänke für den Leib. Als Pilgerbegleiter dient ein Heft mit Informationen zur Kirche am Startpunkt, einer Wegbeschreibung für die Fortsetzung im Wohnviertel, kurzen Impulsen für den Weg, Anregungen zum Innehalten und Lichtblicken für diese Zeiten. Die Texte werden je nach (Kirchen-)Jahreszeit aktualisiert. 

Die Organisatoren laden zusammen mit kooperierenden Kirchengemeinden ein, allein oder zu zweit auf Pilgertour zu gehen. Auch geführte Gruppentouren sind denkbar. Pilgerrouten wurden bisher für sechs Kirchen in Bochum entwickelt. „Im Prinzip lässt sich das Konzept aber auf fast jede Kirche übertragen“, sagt Dominik Rojano Marin vom Diakonischen Werk, der das Projekt zusammen mit Pfarrerin Eva-Maria Ranft vom Frauenreferat entwickelt hat und weiterhin begleitet. Die ersten Erfahrungen zeigen, dass die Teilnehmenden das Angebot gerne nutzen: „Es tat mir sehr gut, sich bei dem schönen Wetter auf den Weg zu machen und mir und meiner Seele mal etwas Gutes zu tun. Die Umgebung um unsere Kirche habe ich so noch nie wahrgenommen“. 

Weitere Infos
Innere Mission – Diakonisches Werk Bochum e.V., Dominik Rojano Marin, Tel. 0234-6104791, Mail: domi-nik.rojanomarin@diakonie-ruhr.de

Exerzitien im Alltag – in unserer Zeit

Die Erfahrung zeigt, dass es in den letzten Jahren eine Nachfrage nach einer Möglichkeit der Vertiefung von Glaubenserfahrungen gibt. 
Diakonin Margarethe von Kleist-Retzow bietet in der Region Linden-Limmer zweimal im Jahr einen Kurs „Exerzitien im Alltag“ an. Für alle, die sich nicht für eine Zeit in ein Kloster zurückziehen wollen, gibt es vor Ort die Gelegenheit über vier bis sechs Wochen in einer Gruppe eine Vertiefung von Glaubensfragen und -übungen zu erleben. Zeit für Dich – Zeit für mich – Zeit mit Gott. So lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen, was „Exerzitien im Alltag“ sein können. 

Die Gruppen werden – obwohl nicht so beworben – mehrheitlich von Menschen in der zweiten Lebenshälfte besucht. 

Exerzitienkurse machen Mut, bekannte und unbekannte Texte der Bibel zu entdecken und ihre Aktualität für den eigenen Lebensweg zu verstehen. Wesentlich ist dabei, dass es nicht darum geht, viel über die Bibel zu wissen oder über einen biblischen Text rein intellektuell nachzudenken. Vielmehr soll die Bibel so gelesen werden, dass sie die Seele nährt und satt macht. Denn: „Nicht das viele Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her.“ (Ignatius von Loyola).

In der Ankündigung schreibt Margarethe von Kleist-Retzow: „Es geht darum, sich in aller Freiheit und zugleich sehr aufmerksam auf einen Verwandlungsprozess einzulassen. Durch Gleichnis-Geschichten aus dem Neuen Testament können wir Wundergeschichten persönlich erleben … Teilnehmer*innen berichten von einer neuen, lebendigeren Gottesbeziehung, einem versöhnteren Blick auf das eigene Leben und einer unerwarteten Gemeinschaft mit anderen Menschen. Sie erkennen neu die Bedeutung von – regelmäßigen – Gebetszeiten, nehmen eine Veränderung ihres Gottesbildes wahr und empfinden die Treffen in der Gruppe und die geistlichen Begleitgespräche als gelungene Begegnungen.“

Weitere Infos
Diakonin Margarethe von Kleist-Retzow, Tel.: 0511 2133410, Mail: margarethe.von-kleist-retzow@evlka.de

3.000 Schritte für die Gesundheit

Bei dem vom Niedersächsischen Turnerbund entwickelten Projekt bieten Sportvereine in Zusammenarbeit mit Pflegeeinrichtungen, Begegnungsstätten, Kirchengemeinden oder ähnlichen Einrichtungen der Senio-renarbeit, Bewegungsangebote im öffentlichen Raum an und schaffen damit für ältere Menschen eine wohnortnahe, niedrigschwellige und kostenfreie Möglichkeit, sich im Alltag zu bewegen und Gemeinschaft zu erfahren. Das Projekt „3000 Schritte“ ist nicht nur als reines Bewegungs- und Sportprojekt zu sehen, sondern hat darüber hinaus sozial integrativen Charakter und dient zur Vernetzung von Akteur*innen mit dem Schwerpunkt älterer Menschen, heißt es im Konzept des NTB. 

Die Kirchengemeinde St. Abundus Groden (bei Cuxhaven) hat die Initiative des örtlichen Sportvereins aufgegriffen und bietet gemeinsam mit der Seniorensportabteilung des Grodener Sportvereins seit November 2019 jeden Freitag 3000 Schritte für die Gesundheit an. Man trifft sich vor dem Gemeindehaus. Nach einer kurzen Begrüßung, bei der auch zuweilen das Lied „Vertraut den neuen Wegen“ gesungen wird, geht es los. Jede*r macht sich – ob mit Rollator, Stock oder auch ohne Hilfsmittel – im eigenen Tempo auf den Weg. Zwischendurch gibt es immer wieder Haltepunkte, an denen man aufeinander wartet. Dort werden auch kleine Übungen zur Dehnung, zur Erhaltung der Beweglichkeit oder auch Gedächtnistrainingseinheiten angeboten. 

Wann immer es ihre Zeit zulässt, begleitet Pastorin Sabine Badorrek die Weggemeinschaft. Die Aktion 3000 Schritte ist für sie eine gute Gelegenheit auch mit Menschen, die sonst keinen Kontakt zur Kirchengemeinde haben, in eine Begegnung zu kommen. Sie hört, was die Menschen bewegt, kann sich selbst und die Arbeit der Kirchengemeinde ins Gespräch bringen und knüpft so das Beziehungsnetz in Groden fester. 
Ihre Erfahrung ist: „Das gemeinsame Unterwegssein tut gut – nicht nur körperlich. Man kommt miteinander ins Gespräch, lernt Menschen neu kennen. Diskutiert über dies und das, tauscht sich aus, verabredet sich, freut sich über die Natur und darüber, dass man es geschafft hat, sich aufzuraffen und mitzugehen. In aller Freiheit. Wenn mal jemand nicht dabei sein kann oder will, wird darüber kein Buch geführt. Die Erfahrung zeigt, dass wer einmal dabei war, gerne wiederkommt.“

Insgesamt stellt das Projekt 3000 Schritte eine Win-win-Situation für Sportverein und für Kirchengemeinde dar. „Wir profitieren beide!“, so das einhellige Votum.

Weitere Infos
Pastorin Sabine Badorrek, Tel: 04724-449, Mail: sabine.bado@gmx.net; www.3000-Schritte.de.

Chor für Ältere

Eine klassische Form der leiborientierten Arbeit mit Älteren ist auch das Singen in der Seniorenkantorei. Viele Ältere haben ihr Leben lang gerne gesungen und können mit der älter werdenden Stimme nicht mehr in höhere Lagen kommen. Sie sind darauf angewiesen, dass bei der Chorarbeit die Gesangslektüre in tie-feren Lagen gesetzt ist oder die Chorlektüre bewusst demensprechend ausgesucht wird. Seniorenkanto-reien haben sich auf diese Herausforderung sowie auf andere spezielle Fragen ausgerichtet: Wann werden die Probenstunden angesetzt? Wie lange sollte die Stimmbildung zur Vorbereitung älterer Sänger*innen sein? 
So gibt es zum Beispiel seit September 2013 in der Region Empelde – Ronnenberg – Weetzen das Chorprojekt „Cantate“. Das Angebot richtet sich besonders an Menschen der älteren Generation. Manche meinen: Je älter man wird, desto schlechter wird die Stimme – und ist dann zum Chorsingen nicht mehr geeignet. „Cantate“ zeigt, dass das nicht so ist. Auch bei älteren Menschen können die Stimmen schön klingen und einen guten Chorklang bilden.

Einmal in der Woche versammeln sich mehr als 30 Frauen und Männer zur Chorprobe, und zwar vormittags – immer am Dienstag von 9.30 Uhr bis 11 Uhr im Gemeindehaus der Johannis-Gemeinde in Empelde. Erarbeitet wird geistliche Musik, aber auch Musik aus aller Welt in verschiedenen Sprachen.

Dazu gehört: die Stimme entwickeln und pflegen durch intensive Stimmbildung. Als ergänzendes Angebot besteht auch die Möglichkeit zur Einzelstimmbildung. Inzwischen hat der Chor – meist im Zusammenwirken mit verschiedenen Instrumentalgruppen – schon bei vielen Veranstaltungen gesungen.

Neue Sänger*innen sind herzlich willkommen. Notenkenntnisse sind nicht nötig. Auch wer noch nie in einem Chor gesungen hat, kann mitmachen.
Geleitet wird der Chor von Egbert Rosenplänter aus Wennigsen, Pastor i.R. und Kirchenmusiker.

Weitere Infos
www.johanneskirche-empelde.de/wir_fuer_sie/musik/chor


Eine bunte Palette kirchlicher Angebote für Ältere

Die Beispiele zeigen: Eine innovative und zukunftsfähige kirchliche Arbeit mit, von und für Ältere schöpft aus einer Vielzahl von Angeboten und Konzeptionen. „Das eine“ Angebotsformat gibt es nicht mehr. Die Palette ist so bunt wie die Älteren vielfältig sind.

In den vergangenen Jahren sind vielerorts Projekte, Veranstaltungsformen und Engagementfelder entstanden, die diesen sehr verschiedenen Bedürfnissen und Lebenslagen der Generation 60plus gerecht werden. Es gibt zahlreiche Beispiele gelungener Praxis. Sie knüpfen an den Lebensthemen und biografischen Bezugspunkten der Menschen an. Sie nehmen die Menschen mit Leib und Seele in den Blick. Sie ermöglichen, dass Gruppen sich selbstorganisiert zusammenfinden können. Sie fördern Nachbarschaft und wirken in den Sozialraum hinein. Generationen begegnen sich. Sie stellen sich auf die Zeitbedürfnisse der Älteren ein: lieber gelegentlich statt wöchentlich. Menschen in der nachberuflichen Zeit wollen für sich, mit anderen und für andere etwas gestalten und tun. Vor allem aber wollen sie als ganzer Mensch in ihrer leibräumlichen Dimension ernstgenommen werden. 

Beratung, Begleitung und weitere Anregungen für die Praxis finden Sie im Haus kirchlicher Dienste, Projektstelle Alternde Gesellschaft und Gemeindepraxis unter www.alternde-gesellschaft-gemeindepraxis.de.

 

Anmerkungen

  1.      Bluhm-Lehmann, Körper- und leiborientierte Gerontologie,
         26.
  2.      A.a.O., 34.00
     

Literatur

  • Blum-Lehmann, Susanne: Körper- und leiborientierte Gerontologie. Altern erfahren, erleben und verstehen. Ein Praxisbuch, Bern 2015.